Die weltbesten Spieler beim AVRO-Turnier

von André Schulz
02.06.2020 – Heute beginnt in Amsterdam auf Einladung der Rundfunkgesellschaft AVRO ein Turnier mit den acht besten Schachspielern der Welt. Darunter sind mit Alexander Aljechin, Raul Capablanca und Max Euwe nicht weniger als drei Weltmeister. Die 14 Runden werden in zehn verschiedenen Städten ausgetragen. | Foto: Flohr, Aljechin, Euwe

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Wer wissen will, welches die besten Schachspieler der Welt sind, der richte seinen Blick auf das AVRO-Turnier, das in Kürze in den Niederlanden beginnen wird.

Wer ist dort am Start?

Im Achterfeld befinden sich mit Raul Capablanca der vormalige Weltmeister und mit Alexander Aljechin der amtierende- jetzt wieder amtierende. Wir erinnern uns: 1935 akzeptierte Dr. Aljechin einen Wettkampf um die Weltmeisterschaft gegen den niederländischen Mathematiklehrer Max Euwe. Aljechin war in keiner guten Verfassung und verlor den Wettkampf und damit den Titel. Schach war in den Niederlanden ohnehin schon populär, jetzt war es Nationalsport. Zur letzten Partie, in der Euwe sich den Titel sicherte, waren 6000 (!) Zuschauer gekommen.

Der neue Weltmeister gewährte seinem Vorgänger einen Revanche-Wettkampf. Aljechin hatte sich das wohlweislich im Vertrag festschreiben lassen. Im Gegensatz zu ihm wartet ja Aljechins Vorgänger Raul Capablanca bis heute auf eine Revanche.

Beim Rematch nahm Alexander Aljechin die Aufgabe ernster. Er ging in Klausur und holte sich den Titel im letzten Jahr zurück. Auch Max Euwe selbst ist als dritter Weltmeister hier beim Turnier am Start. Er fürchtete, während des Turniers vormittags noch unterrichten zu müssen, hat aber doch Urlaub bekommen.

Mit Aljechins Sieg im Revanchekampf hatte keiner gerechnet und es macht die uralte Frage der der Bestimmung eines Herausforderers des Weltmeisters komplizierter. Seit jeher bestimmt der Weltmeister gegen wen er um den Titel spielt, doch das ist kein befriedigendes Verfahren.

Euwe wollte nach seinem Titelgewinn die Organisation der Weltmeisterschaften in die Hände des Weltschachbundes legen. So wurde beim FIDE-Kongress 1937 der Vorschlag gemacht, zur Bestimmung des Herausforderers ein Kandidatenturnier zu organisieren. Der Rundfunksender AVRO hätte dieses gesponsert. Der Vorschlag fand allerdings keine Mehrheit. Stattdessen wählten die Delegierten Salo Flohr zum Herausforder von - Euwe -, dachte man eigentlich.

Salo Flohr, hat eine tragische Familiengeschichte. Er wurde 1908 in Horodenka geboren, in Österreich-Ungarn. Nun ist das Gebiet ein Teil des neuen Polen. Seine Eltern und sechs Brüder kamen bei einem antijüdischen Pogrom in seiner Heimatstadt ums Leben. Er floh nach Prag und wuchs mit einem Bruder in der bei Pflegeeltern auf. Schach lernte er in den Prager Cafés. Wahrscheinlich hat er sein Talent aber auch schon mitgebracht. Bei den letzten beiden Schacholympiaden 1935 in Warschau und 1937 in Stockholm war Flohr in der tschechoslowakischen Mannschaft der beste Spieler des ganzen Turniers am ersten Brett. Flohr wäre sicher ein würdiger Herausforderer. Der Wettkampf gegen Euwe hätte 1940 stattfinden sollen. Ein Wettkampf in der Tschechoslowakei ist zur Zeit aber kaum denkbar. Ein dunkler Schatten hat sich nicht nun über Flohrs Heimat gelegt.

Inzwischen ist aber Aljechin nach dem für viele unerwarteten Sieg im Revanchekampf wieder Weltmeister und kocht sein eigenes Süppchen. Mal verhandelt er hier, mal dort. Er wird auch mit dem Sieger des Turniers hier verhandeln, aber ein Vorrecht wird er ihm nicht einräumen. Das hat er deutlich erklärt. Man darf gespannt sein, gegen wen er seinen nächsten WM-Kampf spielen wird. Aber sehr wahrscheinlich wird es einer der Teilnehmer hier beim AVRO-Turnier sein. Mit der FIDE will Herr Aljechin aber nichts zu tun haben.

Das Turnier findet statt, aber nicht im Status eines offiziellen Kandidatenturniers. 

Als weiterer Turnierteilnehmer kommt der junge Michail Botwinnik aus der Sowjetunion hinzu. Er ist 27 Jahre alt. Nicht nur in seiner Heimat hält man große Stücke auf ihn. Aus dem kleinen Estland geht der noch jüngere Paul Keres an den Start. Er ist sogar erst 22 Jahre alt. Keres ist nicht nur im Schach ein As. Er gehört auch zu den besten Tennisspielern seines Landes.

Die Vereinigten Staaten sind mit Reuben Fine vertreten, gerade 24 Jahre alt geworden. Fine ist mit Max Euwe in Freundschaft verbunden. Er war dessen Sekundant beim Weltmeisterschaftskampf gegen Aljechin im letzten Jahr. Inzwischen lebt Fine in den Niederlanden und hat es geschafft, schon zweimal verheiratet zu sein. Er ist geschieden und jetzt in zweiter Ehe mit der Reporterin Emma Thea Keesing verheiratet.

Ebenfalls aus den USA kommt Samuel Reshevsky. Er ist im gleichen Jahr geboren wie Michail Botvinnik, ebenfalls in Russland, aber im damaligen polnischen Teil. Seine Geburtstadt Orzokow liegt mitten im heutigen Polen, bei Lodz. Reshevskys Eltern wanderten 1920 mit ihren vielen Kindern in die USA aus. Schon mit vier Jahren hatte Reshevsky das Schachspiel kennengelernt und wir alle wissen, dass er bereits als Kind starke Meister besiegen konnte und Simultanvorstellungen gab. Doch dann unterbrach Reshevsky seine Schachkarriere, um ein betriebswirtschaftliches Studium zu machen und wurde Buchhalter von Beruf. Erst Anfang dieses Jahrzehnts kehrte er zum Turnierschach zurück.

Generationswechsel

Im Schach stehen wir vor einem Generationswechsel. Capablanca ist mit bald 50 Jahren nicht mehr der Jüngste, auch wenn er sich auf andere Weise verjüngt hat. Vor drei Wochen hat er in den USA eine russische Prinzessin geheiratet. In den Niederlanden verbringt er nun seine Flitterwochen. Aljechin ist auch nicht sehr weit von den 50 entfernt. Euwe ist mit 37 Jahren kein junger Mann mehr. Dann kommen die jungen Leute, von denen Keres mit seinen 22 Jahren der jüngste ist. Es ist sicher nur eine Frage der Zeit, bis Aljechin als Weltmeister abgelöst wird.

Natürlich kann man sich nicht sicher sein, ob diese acht wirklich die acht besten Spieler der Welt sind. Und wer jetzt, im November 1938, wohl der beste Spieler der Welt ist? Man kann es nur vermuten, aber der Ausgang des Turniers wird weiteren Aufschluss geben. Vielleicht wird es einmal ein Wertungssystem geben, mit dem man die exakte Spielstärke ausrechnen kann. Und wer weiß, vielleicht ist das Resultat überraschend.

Das Turnier wird nicht an einem Ort gespielt, sondern es reist von Runde zu Runde durch verschiedene Städte des Landes. Mittags reisen die Spieler von ihrem Hotel in Amsterdam, dem Amstel Hotel, zum jeweiligen Turnierort, mit der Bahn, nach Groningen sogar mit einem Flugzeug. Abends kehren sie zurück. Tags darauf spielen Sie Hängepartien.

Das Amstel-Hotel

Und so sieht der Reiseplan des Turniers aus:


 Tourplan

Runde  1 Amsterdam  
Runde  2 Den Haag  
Runde  3 Rotterdam  
Runde  4 Groningen  
Runde  5 Zwolle  
Runde  6 Haarlem  
Runde  7 Amsterdam  
Runde  8 Utrecht  
Runde  9 Arnhem  
Runde 10 Breda  
Runde 11 Rotterdam  
Runde 12 Den Haag  
Runde 13 Leiden  
Runde 14 Amsterdam  

A.V.R.O und die neuen Medien

Sponsor des Turniers ist die "Algemene Vereniging Radio Omroep" (AVRO, deutsch Allgemeine Rundfunkvereinigung), 1923 gegründet und der erste Niederländische Rundfunksender. Der Sender hat schon 200.000 Mitglieder. Die AVRO sendet auf dem Sender Hilversum und teilt sich den Platz mit dem Sender der sozialistisch ausgerichteten "Vereeniging van Arbeiders Radio Amateurs (VARA) und dem protestantischen Sender VPRO. 

Das Haus des AVRO-Senders in Hilversum

Die neueste Studiotechnik

In den kleinen Niederlanden hat jede offenbar Bevölkerungsgruppe und jede Religionsgemeinschaft einen eigenen Radiosender. 

Die Reise des Schachturniers durch das ganze Land dient sicher dazu, den AVRO Sender überall bekannt zu machen. Das Format hat aber auch Tradition. Schließlich wurde schon der WM-Kampf zwischen Euwe und Aljechin an vielen unterschiedlichen Orten gespielt. Und im letzten Jahr organisierte die AVRO eine Simultantournee mit bekannten Spielern, darunter Lasker und Bogoljubow, durch die großen Orte des Landes und fand damit eine Hunderte von Zuschauern an jedem Ort. 

Die Radiotechnik hat im Übrigen in den letzten Jahren weite Verbreitung erfahren. In immer mehr Häusern steht schon ein Radioempfänger. Neben dem Nutzen ist diese Entwicklung aber auch beängstigend. Wie leicht man die Menschen mit Falschinformationen beeinflussen kann, bewies letzten Monat ein Radiomacher in den USA namens Orson Welles. Er gaukelte seinen Zuhörern vor, die Erde würde von Außerirdischen angegriffen werden. Viele Hörer glaubten ihm das und flohen in Panik. Was, wenn diese Technik in falsche Hände gerät? 

 

Man kann die neuen Medien aber auch aber auch auf andere Weise einsetzen.

 

Die British Broadcasting Company (BBC) sendet schon seit ein paar Jahren regelmäßig solche Bild-Ton-Aufnahmen, allerdings ins Leere. Kaum jemand besitzt ein Gerät zum Empfang der Signale.

Das ist die Cinematographie viel realer - auf mancherlei Weise. Die junge deutsche Schauspielerin und Regisseurin Leni Riefenstahl hat einen zweiteiligen Film über die letzten Olympischen Spiele 1936 in Berlin aufgenommen. Der Film ist kürzlich in die Lichtspielhäuser gekommen. In insgesamt vier Stunden hat Frau Riefenstahl die olympischen Wettbewerbe in einzigartige Bilder gesetzt, die man so zuvor noch nie gesehen hat. Der Film feiert die Sportler und zeigt den idealen Menschen.

Fest der Völker

Fest der Schönheit

Was aber wird in Deutschland und Europa mit den Menschen geschehen, die nicht diesem Ideal entsprechen? 

Bei der Eröffnungsfeier im Amstel Hotel begrüßten Mädchen in den jeweiligen Landestrachten jeden Spieler - mit Ausnahme von Capablanca, der noch nicht eingetroffen war - in seiner Landessprache mit den Worten: "Werter Landsmann! Sie sind im Begriffe in den Kampf zu gehen und zu fechten für die Ehre unseres Landes. Es wird ein Kampf mit den edelsten Waffen, die denkbar sind und ich wünsche Ihnen von Herzen den Sieg. Führe diesen Kampf ebenso edelmütig wie tapfer. Ich bringe Ihnen einen Gruss namens all derer, die atemlos ihren Kampf verfolgen werden. Möge es Ihnen gut ergehen. Wir setzten unsere Hoffnung auf Sie."

Danach nahm der Präsident der AVRO Gustaaf de Clercq die Auslosung vor. Das Turnier der weltbesten Spieler kann beginnen.


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.

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