ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024
ChessBase ist die persönliche Schach-Datenbank, die weltweit zum Standard geworden ist. Und zwar für alle, die Spaß am Schach haben und auch in Zukunft erfolgreich mitspielen wollen. Das gilt für den Weltmeister ebenso wie für den Vereinsspieler oder den Schachfreund von nebenan
Hintergrund: Die Serie "Study of the Month" begann als Kooperation der Weltföderation für Schachkomposition (WFCC) und ChessBase im Jahr 2017. Seit 2018 werden längere Artikel veröffentlicht, in denen oftmals neben den Endspielstudien auch Hintergrundwissen vermittelt wird. Auf Anfrage eines Lesers testen wir mit der Übersetzung des aktuellen Artikels, wie die Serie auch im deutschsprachigen Raum aufgenommen wird. Das erste Kaleidoskop, bei dem eine Themenmischung angeboten wird, erschien im Januar 2021 und kann bei Gefallen auch übersetzt werden.
Gewöhnlich reden wir in dieser Kolumne höchstens einmal über schreckliche Ereignisse, die sich vor langer Zeit zugetragen haben, doch diesmal werden viele Emotionen noch lebender Opfer und derer Angehöriger berührt. Hierfür entschuldigt sich Ihr Autor.
An was denken Sie, wenn Sie über den "11. September" reden? Für viele von uns werden es die schrecklichen Ereignisse in den Vereinigten Staaten vor 20 Jahren sein. Möglicherweise denken Sie an den Putsch in Chile 1973, der unaussprechlichen Schrecken über das Land gebracht hat. Wenn Sie sich aber in der Geschichte der Endspielstudien auskennen, wissen Sie vielleicht um ein auch hier historisches Ereignis.
Zunächst reißen jedoch die traurigen Zufälle nicht ab: Ein großer Verlust für das Schach ereignete sich am 11. September 1913, als der Österreicher Julius Perlis (geboren am 19. Januar 1880) in den Alpen verscholl und nicht mehr auftauchte. Obwohl er nur kurz unter den stärksten Spielern weilte, bewegte er sich manchmal auf Weltklasseniveau. Dieses war nicht konsistent genug, um große Turniere zu gewinnen, sodass San Sebastian 1912 einer seiner größten Erfolge war: Der 5. Platz im Turnier sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Erstplatzierte Rubinstein zweimal gegen Perlis remisierte. Noch besser war das Ergebnis gegen den Zweitplatzierten Nimzowitsch. Hier remisierte Perlis nur eine Partie, die andere gewann er.
Wer weiß, was aus diesem jungen Anwalt geworden wäre, wenn seine Ergebnisse konsistenter geworden wären und er nicht verschwunden wäre...? Seine drei Endspielstudien (alle aus der Wiener Schachzeitung, Februar 1901) sind leider nicht mehr sehr interessant: Ein Mattbau, ein Umwandlungsläufer in der Anfangsstellung (der als Chess-960-Studie keiner wäre), die dritte Studie wurde widerlegt. Als kleine taktische Übung folgt die je nach Geschmack Studie mit Umwandlungsläufer oder Chess 960.
Weiß zieht und hält remis
Da die Lösung einfach zu finden ist, ist unten stattdessen ein Selbstmatt von Perlis und seinem Onkel komponiert, nachspielbar, das erfahrenen Selbstmattlösern ebenfalls keine Schwierigkeiten bereitet hätte.
Nach diesen traurigen Ereignissen können wir wie oben angesprochen auch ein fröhliches verzeichnen: Vor 100 Jahren wurde in der Deutsch-österreichischen Tageszeitung eine sehr bekannte Studie von Richard Réti veröffentlicht. Lange war unklar, wann und wo die Aufgabe zuerst erschienen war, da man Kagan's Neueste Schachnachrichten 1922 annahm. Spätere Forschungen fanden die Urquelle.
Richard Réti, Deutsch-österreichische Tageszeitung, 11. September 1921
Weiß zieht und hält remis
Das Réti-Manöver zeigt, dass sich die Schachbrettgeometrie sehr von Euklidischer zweidimensionaler Geometrie unterscheidet. Eine Gerade von A nach B (h8-h2) ist genau so lange wie eine schräge Linie, die von A zunächst auf einer der beiden Geraden halb weg (h8-e5) und dann wieder halb hin zu B (e5-h2) führt. Euklidische Geometrie gibt die Entfernung von h8 nach h2 mit sechs Einheiten an, aber von h8 nach e5 und dann nach h2 als sechs Mal die Quadratwurzel von 2, also fast 8,5 Einheiten. Schachbrettgeometrie hat auf beiden Wegen eine Entfernung von sechs Einheiten.
1.Kg7 h4 2.Kf6 Kb6 3.Ke5 h3 4.Kd6, oder 3.-K:c6 4.Kf4 remisiert auf dem Schachbrett, würde aber ohne diese besondere Geometrie verlieren - der König von a6 nach c6 benötigt zwei Zeiteinheiten, also Züge, der Bauer von h5 nach h2 drei weitere. Weiß hat also sechs Zeiteinheiten, um von h8 über e5 nach h2 zu gelangen. Ohne die Schachbrettgeometrie würde Weiß unvermeidbar auf der Schräge Zeit verlieren - wenn er sich stattdessen nur auf der Geraden h8-h3 bewegt, bleibt Ka6 stehen und der Bauer rennt davon. So gesehen spart Weiß in der Studie Zeit, indem er die Schachbrettgeometrie nutzt.
Dreidimensionale nichteuklidische Räume im Kontext von Videospielen nutzen andere Tricks. In "Narbacular Drop" und dem Nachfolger, der "Portal"-Serie, sind etwa zwei räumlich entfernte Punkte durch Portale miteinander verbunden. In "Antichamber" werden solche Portale ohne Wissen des Spielers für optische und räumliche Illusionen verwendet (etwa eine scheinbar endlose Treppe oder ein Schaufenster, bei dem je nach Blickrichtung ein andersfarbiges Objekt zu sein scheint). Hyperbolische und sphärische Geometrie erlaubt interessante Effekte, etwa die Möglichkeit, durch die Summe der Winkel eines Dreiecks dessen Flächeninhalt zu bestimmen. Auf der euklidischen Fläche, wo die Winkel eines Dreiecks immer 180 Grad ergeben, ist dies unmöglich.
Ein Réti-Manöver unter diesen Voraussetzungen könnte völlig anders aussehen. Der Extremfall, Portale, ist im Vertikalzylinderschach bekannt. In dieser Märchenbedingung kann der König von h8 in nur einem Zug nach h1 gelangen.
Eine Person mit dem Nickname "William chess dude# 6824", laut einer Quelle auf Youtube, hat eine kleine Endspielstudie ins Internet gestellt. Handelt es sich um einen Namen auf dem Kommunkationsdienst Discord? Seine Studie ist recht einfach, aber lustig (ein Minor-Dual existiert).
William "Chess Dude", Internet 2021
Weiß zieht und gewinnt
Das erinnert mich an den Stil eines anderen österreichischen Anwalts: Alois Wotawa. Wotawa arbeitete als Richter und Staatsanwalt, seine Autobiographie "Und wird hierfür zum Tode..." habe ich seit Jahren, aber noch nicht durchgelesen. Schachspieler kennen eher sein anderes Buch, "150 Endspielstudien".
Meine Lieblingsstudie von Wotawa hat einen anderen Stil, vielleicht wurde sie auch bereits in einem Artikel der englischen Serie gezeigt.
Alte Freunde, neues Wissen
Am 18. Juli 2021 wurde ein sehr schönes kleines Studientreffen mit Klaus Rubin und Martin Minski abgehalten, die nicht nur ein gutes Restaurant in Güstrow, der seit 2015 neuen Heimat Ihres Autors, sondern auch gutes Material für diese Kolumne ausgesucht haben. Rubin hat mir die deutsche Ausgabe eines Buches überlassen, das ich vermutlich bereits auf Russisch hatte: "Schachstudien der Weltmeister" von Anatoli Karpow und Jewgeni Gik. Zufällig ist ein ganzes Kapitel des Buches dem Réti-Manöver gewidmet. Da ich nicht viel Russisch verstehe, verstand ich die folgende Episode erst jetzt. Ein bekanntes Endspiel und sein Finale haben ein weniger bekanntes Detail.
David Bronstein - Michail Botwinnik, Moskau 1951 (Weltmeisterschaft)
Weiß am Zug
Gewöhnlich heißt es, dass Weiß mit 1.Kc2? auf die Variante 1.-Kf3 2.Se6 e2 3.Sd4+ hoffte, mit der Weiß den Bauern und das Remis erreicht. Schwarz spielte 1.-Kg3 und Weiß gab auf. Es war immer verblüffend für mich, dass ein WM-Herausforderer so einen einfachen Zug übersehen sollte. Die ganze Variante ist doch so offensichtlich?
Ein Teil der Mutmaßung über die Partie ist wahr: Sofortiges 1.Se6 und 2.Sd4 hätte remisiert. Irgendwo hatte ich gelesen - wo? - dass Weiß versehentlich den König berührt hatte und ihn dann nach c2 zog. Das ist aber nicht das Ende der Geschichte: Wenn Weiß den König tatsächlich nur versehentlich angefasst hatte, es aber wie absichtlich aussah, warum zog er mit dem Springermanöver nach d4 in der Hinterhand nicht 1.Ka4? Das Buch sagt zwar nichts über eine Königsberührung, aber zeigt, dass Weiß - unbewusst - eine Falle mit 1.Kc2 stellte. Natürlich muss er gesehen haben, dass er verliert, aber wollte 1.-Kf3 provozieren. In dieser Stellung gewinnt nämlich 1.-Kf3 2.Se6 e2 3.Sd4+ Kf2 4.Sxe2 Kxe2 für Schwarz. Bronsteins Sekundand Wainstein schrieb in "Improvisation in der Schachkunst" (vermutlich in Russisch, Dagobert Kohlmeyer übersetzte vermutlich den Titel von Wainsteins Aufsatz bei der Übersetzung des Buches von Karpow und Gik, wo dieser erwähnt wird), dass Schwarz mit dieser Variante gewinnt. Jedoch zeigte Botwinnik 1985 in seinem Buch "Analytische und kritische Arbeiten - 1942-1956", dass Weiß remisieren kann: (1.Kc2? Kf3?) 2.Sf7!! e2 3.Se5+, und Weiß gewinnt entscheidende Zeit verglichen mit der Variante 2.Se6.
Der weibliche Faktor
Obwohl Schachkomposition jeden offen einlädt, scheinen nur wenige Frauen zu komponieren. Bei der Analyse eines Endspiels fand WGM Melanie Lubbe (vormals Ohme) in ihrer Partie gegen Aljoscha Feuerstack in Lüneburg 2019 einen unglaublichen Zug. Gemeinsam mit Martin Minski schuf sie eine Endspielstudie aus der paradoxen Idee. Wir reproduzieren diese Co-Komposition am Ende des Artikels nachspielbar.
Einigen Lesern wird auffallen, dass in Staudte und Milescus Buch "Das 1x1 des Endspiels" eine ähnliche Bauernstellung vorkam, aber die Endspielstudie unterscheidet sich deutlich von dem dort analysierten Partiefragment zwischen Demberger und Hecht, obwohl das Material ähnlich ist. Da ich einen neuen(?) Remisweg gefunden habe, auch nach den angeblichen Gewinnzügen, ist die Partie mit meiner Endspielanalyse unten nachspielbar. Karsten Müller fand keine frühere Analyse des Endspiels, aber ein gleichartiges Zwischenschach mit anderer Idee (einen Spieß zu erlauben) als ebenfalls einzigem Remisweg in einer Partie zwischen Radjabow und Vachier-Lagrave 2020. Der Vergleich der optisch ähnlichen Endspiele ist interessant.
Wir hoffen, noch mehr Endspielstudien von Melanie Lubbe oder auch anderen Frauen zu sehen. Schachhistoriker wissen, dass unter den Schachkomponisten eine Frau mit an der Spitze stand: Edith Baird. Zeitgenössische weibliche Komponisten und Organisatoren heute sind, unter Anderen, Julia Vysotska ("Julia's Fairies") als führende Märchenschachexpertin, Sally Lewis (mit Tony Lewis verwandt), und "Herr Gabriel Baumgartner" alias Odette Vollenweider, deren kürzlichen Abschied von dieser Welt wir sehr betrauern.
Dijan Kostadinov schrieb vor einigen Jahren einen Artikel über das Thema. Im Buch "Queens of chess composition", das ich nicht habe, sind über einhundert Komponistinnen aufgeführt.
Kostadinovs Artikel: Teil 1 und Teil 2
Ich wurde im März 1986 geboren. In der Ausgabe von "New In Chess" dieses Monats sind zwei Schachprobleme der damals 11 Jahre alten Zsófia Polgár aufgeführt. Joose Norri postete sie im MatPlus-Forum, das auf Schachkomposition spezialisiert ist, sodass wir die Aufgaben unseren Lesern zum Lösen anbieten können, was beim Zweizüger nicht schwer fallen dürfte. Der Dreizüger kann ein paar Minuten brauchen. Die Lösungen sind am Ende des Artikels.
Zsófia Polgár, New In Chess 03/1986. Matt in 2
Zsófia Polgár, New In Chess 03/1986. Matt in 3
Natürlich verbleibt eine Frage: Wer ist die höchstrangige Studienkomponistin? Wenn Titel im Nahschach zählen, ist die Antwort (Weltmeisterin Alexandra Kosteniuk) unten nachspielbar. Warum am Ende der nachspielbaren Aufgaben? Ein bekanntes Lied sagt: "Save the best for last!" Spare das Beste für den Schluss auf.
Ihr Autor kennt keinen anderen Partieweltmeister, der alleine ein Studienturnier gewonnen hat, geschweige denn während des WM-Titel-Besitzes. Smyslow hat einmal (70 Jahre nach dem Beginn seiner Kompositionstätigkeit) einen geteilten 1./2. Preis gewonnen, aber anderweitig mehrere Spezialpreise. Natürlich gelangte ich irgendwann zu der Erkenntnis, dass Preise nett sind, aber Nachdrucke wichtiger, und Smyslow hat dort eindeutig gewonnen. Also haben wir eine großartige (Schach-)Autorin und einen großartigen Sänger als Königin und König der weltmeisterlichen Studienkomponisten.
Als ich den Artikel vorbereitet habe, ist mir eine Kuriosität begegnet. Pogosjanz entfernte zwei Bauern von einer sehr bekannten Studie, um eine andere sehr bekannte Studie zu schaffen (die ich für viel älter hielt). Der Anfang der neuen Studie ist jedoch ähnlich. Möglicherweise ist dies eine gute Illustration, wie Pogosjanz oft von klassischen Studien inspiriert wurde, um eigene Ideen zu schaffen. Natürlich kann ich nicht beweisen, dass er tatsächlich die ältere Studie als Vorlage nutzte, aber auch andernfalls ist es eine lustige Koinzidenz. Beide Studien können unten nachgespielt werden.
Rétis Idee inspirierte viele Komponisten, ihre Schlüsse aus der Schachbrettgeometrie zu ziehen. Mathematische Regeln können gefunden werden, die das klassische Bauernquadrat erweitern, und so wird es in der Réti-Studie tatsächlich von g5 nach g7 erweitert. Ein Aspekt dieser seltsamen Geometrie ist, dass die Felder e5 und e6 gleich weit vom König entfernt sein müssen. Ein König auf b2 würde verlieren, obwohl er in drei Zügen nach e5 gelangt, da er vier Züge nach e6 bräuchte. Auf der anderen Seite reicht das Bauernquadrat nach b4, sodass ein König auf a3 am Zug remisieren kann. Natürlich ist die h-Linie weiter weg als von g7-f6-e5, aber Schwarz muss eine beiden Königszüge früher einsetzen. Réti selbst zeigte dies offenbar 1921 (laut Karpow und Giks Buch) mit dem König auf a4, doch die Datenbank listet 1922 auf. Kennen Leser die frühere Quelle?
Ein Jahrhundert von Komponisten wurde von der kleinen Studie mit nur vier Steinen inspiriert. Unter ihnen war auch Ernest Pogosjanz, dessen letzter Eintrag in diesem Monat zwei Studienideen kombiniert, die nicht nur ein Vierteljahrhundert, sondern auch einen halben Punkt voneinander entfernt sind: Troitzkis Schachmatt 1895 mit König und Läufer kombiniert mit Rétis Geometrie auf Kosten einer eher brutalen doch gerechtfertigten Einleitung, da die Synthese der Ideen sonst unmöglich erschaffen hätte werden können.
1988 erhielt Pogosjanz den Titel des Großmeisters für Schachkompositionen. Mit über 4000 veröffentlichten Aufgaben heißt das, nur ein Prozent davon schaffte es in die FIDE-Alben. Pogosjanz veröffentlichte überall seine Studien, dennoch waren wohl 2000 Kompositionen unveröffentlicht (und nochmals doppelt so viele Gedichte und Aphorismen), als er 1990 mit nur 55 Jahren verstarb. Es ist gruselig, dass diese Werke meines Wissens auch danach unveröffentlicht blieben. Somit endet unser Artikel auch mit großer Traurigkeit, ganz wie er begann...
Lösungen zu den Polgár-Problemen:
#2 - 1.Kg6
#3 - 1.Lb1 Kb3/Kxc3 2.Tc4/Kb5
Nachspielbare Studien
If you want to play successful chess you must pay great attention to the endgame. Because it is only if you handle the endgame correctly that you can turn an advantageous position into a full point or save half a point from an inferior position. On this DVD, Rustam Kasimdzhanov analyses the type of practical endgames which tournament players encounter on a daily basis.