Dorian Rogozenco: „Varianten auswendig lernen ist Vergangenheit“

von Stefan Liebig
05.03.2024 – Die ChessBase Eröffnungstutorials sind ein kompakter, schneller Einstieg in die Eröffnungstheorie. Jetzt gibt es sie bald komplett im neuen ChessBase book Format, Band eins zum Bereich der Offenen Spiele (1.e4 e5) ist bereits erschienen. Im Interview mit Stefan Liebig erläutert Schachtrainer und Großmeister Dorian Rogozenco das Konzept: „Varianten auswendig lernen ist Vergangenheit“. | Fotos: Deutscher Schachbund

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Spieler neigen dazu, sich an Modetrends zu orientieren, an einer Eröffnung festzuhalten oder Nebenvarianten aus Angst vor dem Gegner zu spielen. Die Eröffnungs-Tutorials bieten einen innovativen Leitfaden, der zu einem individuellen Spielstil inspiriert. In kompakten Videos präsentieren Großmeister die wesentlichen Pläne und Ideen für offene Spiele nach dem ersten Zug 1.e4 e5. Zusätzlich gibt es interaktive Taktikaufgaben und Empfehlungen für verschiedene Spielertypen. Die ChessBase-Eröffnungstutorials sind als webbasierte Bücher verfügbar und bieten eine komplette Ressource für bewusste und gut begründete Eröffnungswahlen.

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Leseprobe...

Im Interview verrät der ehemalige Bundestrainer Dorian Rogozenco, wie Eröffnungstraining abhängig von der jeweiligen Spielstärke gestaltet werden sollte und wie das gerade erschienene ChessBase Book „Eröffnungen #01 – Offene Spiele“ dabei wichtige Hilfestellungen geben kann.

Herr Rogozenco, welche Zielgruppe bedient das neue ChessBase Book „Eröffnungen #01 – Offene Spiele“?

Die Hauptzielgruppe sind einerseits Einsteiger und Vereinsspieler bis zu einem Niveau von etwa 1700 oder 1800 DWZ, die bislang nur über oberflächliche Eröffnungskenntnisse verfügen. Sie können sich hier einen Grundstein für ein Repertoire erarbeiten. Aber auch stärkere Spieler können sich bei der Suche nach für sie neuen Varianten ein Gefühl verschaffen, ob die hier vorgestellte Variante in ihr Eröffnungsrepertoire passt.

Wie kam es zu der Idee zu diesem ChessBase Book?

Es gab dieses Konzept schon vor einigen Jahren in Heftform. Wir haben diese gute Basis als Grundlage genutzt und ein multimediales Konzept erstellt.

Wie kann dieser Ausbau des Repertoires mithilfe dieses Konzepts des ChessBase Books vor sich gehen?

Wir setzen in jedem Kapitel auf dieselbe Struktur in den vier Abschnitten „Überblick“, „Praxis“, „Test“ und „Fazit“.

Was bedeutet das im Einzelnen?

Im Überblick geben Videos von Elisabeth Paehtz, Niclas Huschenbeth, Jan Gustafsson und Karsten Müller einen kurzen Abriss über die jeweilige Themen und grundlegende Varianten sowie typische Abspiele, Strategien und Eröffnungsfallen. Im Unterkapitel Praxis sind einige ausgewählte, aktuelle Großmeisterpartien zu finden, um einen Überblick über die moderne Theorie zu bekommen und so ein Gefühl für die entstehenden Stellungen entwickeln zu können. Im Test-Teil werden die Leser gefordert und können beim Lösen der eröffnungstypischen Stellungen das nötige taktische Gefühl zu bekommen und einige Eröffnungsfallen kennen zu lernen. Das Fazit schließlich ordnet die aktuelle Beliebtheit der Eröffnung ein, gibt Orientierung für welche Spielertypen und Spielerstärken sie geeignet ist und verweist auf weiterführende ChessBase-Produkte zum Thema.

Das hört sich nach viel Arbeit und Variantenlernen für den Leser an.

Nein, im Gegenteil. Varianten auswendig lernen ist Vergangenheit. Das hat man früher so gemacht. Durch die vielen digitalen Möglichkeiten sollte man heute mit Neugier und Spaß an neue Varianten herangehen: Mit dem vorliegenden ChessBase Book kann man sich schon einen guten Einblick verschaffen. Hat man dann nach dem Durcharbeiten des Kapitels den Eindruck: „Das könnte eine Eröffnung für mich sein“, dann kommt es meines Erachtens auf drei Dinge besonders an: 1. Sollte man Interesse an der Eröffnung haben und die Stellungen sollten einem liegen. 2. Sollte man Partien mit dieser Eröffnung spielen und auf jeden Fall anschließend analysieren und 3. Sollte man Großmeisterpartien anschauen und jeden Zug versuchen, zu verstehen. Beispielsweise bietet es sich an, Spasski- oder Adams-Partien zu schauen, wenn man Spanisch lernen möchte.

Wenn man so vorgeht hat man Abwechslung beim Lernen, bekommt nach und nach ein Gefühl für die Stellungen und wird immer besser in den Varianten.

Dennoch bleibt es dabei: Man braucht Zeit, um eine Eröffnung zu lernen.

Ja natürlich, wie sollte das auch anders sein. Die Technik heute ist weit fortgeschritten. Ich kann mich noch an meine Begeisterung bei der Benutzung der ersten DOS-Version von ChessBase erinnern – die Datenbank mit ihrer schnellen Suche war einfach beeindruckend. Das Ganze hat sich inzwischen noch sehr viel weiter entwickelt. Doch ein Faktor ist gleich geblieben: der Mensch! Und der muss sich eben anstrengen, um etwas zu lernen. Wenn er es aber nach der oben skizzierten Methode macht, hat er gegenüber anderen Spielern den Vorteil, die Eröffnungen zu verstehen und sie gut zu spielen, auch wenn er „out of book“ ist.

Das ist in gewisser Weise beruhigend, dass es eher um Verstehen als um pures Auswendiglernen gehen sollte. Welchen Umfang sollten die Eröffnungen im Schachtraining der oben beschriebenen Zielgruppe einnehmen?

Das Eröffnungstraining sollte keinen zu großen Raum einnehmen. Es ist genau so wichtig, die entstehenden Mittelspiele zu verstehen. Außerdem sollten unbedingt Endspiele geübt werden, um ein Gefühl für das Zusammenspiel der Figuren zu entwickeln. Ganz entscheidend ist außerdem, viele Taktikaufgaben zu lösen, das hilft in jeder Phase des Spiels.

Wie wichtig ist die Engine beim Eröffnungsstudium?

Die sollte nur zur Kontrolle genutzt werden. Die Bewertungen sind nicht so wichtig. Denn oft sieht man, dass Großmeister Varianten mit einer Bewertung von bis zu -1 regelmäßig und erfolgreich spielen – das lässt sich zum Beispiel im Königsindischen immer wieder feststellen. Das zeigt, es kommt in erster Linie auf das Verstehen der Stellungstypen an. Wenn ich die Stellung besser verstehe als mein Gegner, dann werde ich in der Regel auch mit einer aussichtsreicheren Stellung aus der Eröffnung herauskommen.

Wenn ich im Turnier oder Mannschaftskampf weiß, auf welchen Gegner ich treffe, sollte ich mich dann auf meine eigenen Stärken konzentrieren oder versuchen, die Schwächen des Gegners auszunutzen?

Das ist eine sehr prinzipielle Frage. Das hängt sehr vom eigenen Spielertyp und Charakter ab. Da gibt es keine wirkliche Antwort, das muss jeder für sich herausfinden. Ich persönlich finde, es ist effektiver, flexibler und abwechslungsreicher, wenn man versucht, die Schwächen des Gegners zu finden und auszunutzen ...

… und es hat den Vorteil, dass man einerseits selbst verschiedene Eröffnungen, bzw. Eröffnungsvarianten spielt und kennenlernt und andererseits auch für die Gegner nicht so leicht auszurechnen ist.

Ja, das stimmt. Aber wie gesagt, das sind einfach verschiedene Herangehensweisen, die bis zum Toplevel unterschiedlich umgesetzt werden. Karpov beispielsweise spielte sein Leben lang fast nur Spanisch oder später auch Caro Kann. Die Gegner konnten sich vorbereiten, doch das war meistens kein Problem für den langjährigen Weltmeister.

Gibt es einen Spielstärkesprung, ab dem man dann doch im Eröffnungsbereich deutlich mehr auswendig lernen muss?

Nein, das ist kein Sprung. Das ist eher eine schleichende Entwicklung. Aber auch hier hilft es sehr, dass man sich über die Jahre viele Erfahrungen angeeignet hat. Das Spielverständnis sollte immer noch im Zentrum stehen.

Sie waren Trainer und Sekundant von Topspielern. Wie verschiebt sich auf diesem Level die Bedeutung der Eröffnungsvorbereitung?

Die Spielstärkenunterschiede bei den Topspielern sind marginal. 90 Prozent des Erfolgs basieren daher auf einer guten Eröffnungsvorbereitung. Das ist deshalb auch die Hauptaufgabe eines Trainers oder Sekundanten. Doch davon sollten sich Amateure nicht beeindrucken lassen. Je niedriger die Spielstärke desto mehr kommt es auf eine breitangelegte und gute Grundlage an.

Wie tief sollte das Wissen reichen?

Es ist abhängig von der konkreten Eröffnung. Aber bis zu acht Zügen sollte man bei vielen schon kennen. Das ist aber eine Faustregel. Das Wichtigste beim Lernen: Es darf keine Langeweile aufkommen. Die Fortschritte kommen dann fast unmerklich und von selbst. Wer immer wieder Partien zu seinen Varianten anschaut, ist gut gewappnet für die nächste Partie. Vor allem warne ich aber davor, sofort die Eröffnung zu wechseln, wenn man mal zwei oder drei Partien am Stück verliert. Genau hier kann man am meisten lernen – nämlich dann, wenn man sich fragt: „Was habe ich hier falsch gemacht?“ Diese Einstellung sagt übrigens auch etwas über die Persönlichkeit des Spielers aus …

Kommen wir zum Schluss nochmal zum ChessBase Book zurück: Welche Bedeutung messen Sie dem Fazit jedes Kapitels bei?

Das ist für die Auswahl der Eröffnungen extrem wichtig: Hier sieht der Leser schnell, worauf es in der Eröffnung ankommt und wie der Typ der entstehenden Stellungen einzuordnen ist. Hat man so eine Auswahl getroffen, kann man in Datenbanken, Büchern, bei ChessBase oder online nach weiterführendem Material suchen.

Man merkt: Sie begeistern sich für das Thema Eröffnung!

Ja. Es ist faszinierend sich mit Eröffnungen zu beschäftigen. Die Entwicklungen sind spannend. Zum Beispiel spielt man auf Topniveau viel seltener Grünfeldindisch und auch Caro Kann ist in den letzten zwei bis drei Jahren unpopulär geworden. Ich weiß gar nicht, warum. Aber es spielen halt immer auch Aspekte wie Mode oder auch die rasante Engineentwicklung eine Rolle. Ich freue mich auf jeden Fall, bei ChessBase weiter über die aktuellen Entwicklungen berichten zu dürfen.

Herr Rogozenco, vielen Dank für das Gespräch!

Über Dorian Rogozenco:

Dorian Rogozenco ist ein am 18. August 1973 im moldawischen Chisinau geborener rumänischer Schachgroßmeister, Trainer und Autor. Im Alter von 18 Jahren erhielt er den IM-Titel, 1996 wurde er GM. Er gewann mehrere internationale Einzelturniere, darunter das Chemnitz Open 1997 und 1998, Bukarest 1999 sowie Eforie Nord 2006. Geteilter Sieger war er im ukrainischen Lwiw 1995 sowie 1997 und 2000 in Hamburg. In den Jahren 2004 und 2008 gewann er außerdem die Internationale Hamburger Einzelmeisterschaft. Er vertrat Moldawien bei mehreren Schacholympiaden.

Dorian Rogozenco ist diplomierter A-Trainer der FIDE und war Kadertrainer des Hamburger Schachverbandes. Von 2014 bis November 2020 war Rogozenco Trainer der deutschen Nationalmannschaft und trainierte die besten deutschen Spieler. Er leitete in dieser Zeit die Prinzengruppe. Von 2002 bis 2013 trainierte er auch den ukrainischen Spitzenspieler und FIDE-Weltmeister von 2002 bis 2004 Ruslan Ponomarjov.

Darüber hinaus ist Rogozenco ein angesehener Schachautor und hat mehrere Bücher, Videokurse und Artikel veröffentlicht. Sein Wissen und seine Erfahrung machen ihn zu einem gefragten Experten, der regelmäßig auf Schachseminaren und -konferenzen auftritt.

Rogozenco ist auch als Kommentator bekannt und hat unter anderem die Schachweltmeisterschaft kommentiert.


Stefan Liebig, geboren 1974, ist Journalist und Mitinhaber einer Marketingagentur. Er lebt heute in Barterode bei Göttingen. Im Alter von fünf Jahren machten ihn seltsame Figuren im Regal der Nachbarn neugierig. Seitdem hat ihn das Schachspiel fest in seinen Bann gezogen. Höhenflüge in die NRW-Jugendliga mit seinem Heimatverein SV Bad Laasphe und einige Einsätze in der Zweitligamannschaft von Tempo Göttingen waren Highlights für den ehemaligen Jugendsüdwestfalenmeister.