Drei Bücher

von André Schulz
23.09.2015 – Unter allen Schach-Verlagshäusern ragt der US-amerikanische Verlagshaus McFarland heraus. Die dort verlegten Bücher sind in jeder Hinsicht etwas Besonderes, handwerklich wie inhaltlich. Wer sich für Schachgeschichte oder das Leben herausragender Schachpersönlichkeiten interessiert, wird hier fündig und öffnet sich mit den sorgsam editierten Werken eine faszinierende Welt. Drei Bücher...

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Die vielleicht renommierteste Anlaufstelle für den bibliophilen Schachfreund ist der US-amerikanische Wissenschaftsverlag McFarland. Der Verlag wurde 1979 von Robert McFarland Franklin gegründet und hat seinen Sitz in Jefferson, North Carolina. Der Verlagsgründer ist selber ausgesprochen bibliophil und legte bei der Veröffentlichung der Bücher in seinem Verlag neben dem Inhalt besonders auch auf die handwerklichen Aspekte der Herstellung der Bücher Wert. Die Bücher wurden mit größtmöglicher Sorgfalt editiert und gestaltet und so gedruckt, dass sie höchsten Ansprüchen genügen und auch optisch jede Bibliothek, öffentlich oder privat, aufwerten.

 

McFarland ist heute der größte Verleger von akademischen Werken und wissenschaftlichen Sachbüchern in den USA mit über 5100 Titeln. Pro Jahr erscheinen 400 neue Titel für den internationalen Markt. Neben den wissenschaftlichen Werken hat sich McFarland inzwischen auch einen Namen bei der Publikation zur Popkultur sowie Film und Sport gemacht.

Die Schachfreunde in der ganzen Welt dürfen sich darüber freuen, dass McFarland regelmäßig auch ausgesuchte Schachwerke verlegt, allerdings keine Alltagsware wie etwa Eröffnungsbücher, sondern vor allem Bücher mit schachhistorischen Themen, zum Beispiel Biographien alter Meister,  deren schachliches Werk ohne diese Bücher vielleicht schon vergessen wäre. Zum Programm gehören aber auch statistische Werke wie Gino Di Felices Reihe "Chess Results", verlegt nach Dekaden mit Turniertabellen und Wettkampfergebnissen, oder Jeremy Gaiges berühmtes Buch "Chess Personalia".

Ursprünglich erschienen die Bücher im McFarland Verlag ausschließlich in Hardcover-Ausgaben und sind nicht ganz billig. Inzwischen produziert der Verlag auch etwas günstigere Paperback-Ausgaben. Jüngst erschien eine Reihe neuer Titel, von denen einige hier kurz vorgestellt werden sollen.

 

Andrew Soltis: Soviet Chess 1917-1991

"Soviet Chess 1917-1991" ist die Neuauflage eines Klassikers, der erstmals 2000 bei McFarland erschien. Der US-Amerikanische Großmeister Andrew Soltis, 1947 in Hazleton, Pennsylvania, geboren, gibt auf 450 Seiten einen chronologischen Überblick über die gesamte sowjetische Schachgeschichte, von der Oktoberrevolution 1917 bis zum Zerfall des sowjetischen Imperiums im Jahr 1990. Diese Geschichte bietet großartigen Lesestoff und Soltis hat diesen in vielen Episoden, aber auch Partien festgehalten. Viele Figuren der sowjetischen Schachgeschichte, die uns sonst vielleicht nur als Namenseintrag in den Partienlisten begegnen, erstehen mit Soltis' Hilfe vor den Augen des Lesers, werden fast lebendig und laden zum Nacherleben des Teils der sowjetischen Schachgeschichte ein, den sie mitgeformt haben. Darunter sind berühmte Namen wie Botvinnik, Bronstein, Smyslov, Tal, Petrosian und viele mehr.

Der erste der alten sowjetischen Meister, dem wir in Soltis Buch begegnen, ist Alexander Fydorovich Ilyin-Genevsky, den Freunden der Holländischen Verteidigung vielleicht nur als Namensgeber einer Variante bekannt. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er in der Armee des Zaren, wurde schwer verwundet, ging dann als Revolutionär ins Exil in die Schweiz und kehrte nach der Oktoberrevolution zurück nach St. Petersburg, wo er 1917 in der St. Petersburger Schachgesellschaft gleich an einem Turnier teilnahm. Auch in Moskau, wo die Wirren der Revolution fast die gesamte Infrastruktur zerstört hatte, überlebte die Schachkultur irgendwie. Die Moskauer Schachfreunde spielten bei Kerzenlicht in einem Kellerraum.

Aus den mehr als bescheidenen Anfängen entwickelte sich allmählich die sowjetische "Schachschule", wobei der sowjetische Justizkommissar Alexander Krylenko maßgeblichen Anteil hatte. 1925 gab es dann in der jungen Sowjetunion das erste große internationale Turnier, verbunden mit vielen Geschichten. Soltis erzählt die Geschichte dieses Turniers und die der folgenden ebenfalls. Mit Soltis ist der Leser in der Lage, den Aufstieg des Sowjetschachs - der parallel  zum Aufstieg des Sowjetreiches vor sich geht - mitzuverfolgen. Der Zweite Weltkrieg reißt tiefe Wunden und viele sowjetische Schachmeister bleiben auf den Schlachtfeldern, wenn sie nicht zuvor schon in den Zeiten der "Großen Säuberung" verschwunden sind. Die Sowjetmacht, und das Sowjetschach ebenso, gehen aus dem Krieg jedoch gestärkt hervor und das sowjetische Schach dominiert in der Folge das Weltschach auf beeindruckende Weise  - nur gestört und dann auch unterbrochen vom Interregnum Bobby Fischers.  Karpow, Kasparow und Kramnik waren die letzten Weltmeister, die in der Sowjetunion groß geworden sind. Mit dem Zerfall des Sowjetreiches fand auch die sowjetische Schachfabrik mit ihren unzähligen Talenten ihr Ende.

Andrew Soltis' Buch illustriert ein faszinierendes und einzigartiges Kapitel der Schachgeschichte. Nirgendwo sonst nahm Schach jemals eine so bedeutende Rolle ein wie in der Sowjetunion.

 

Andrew Soltis: Soviet Chess 1917-1991
McFarland&Co, Jefferson, Neuauflage 2015
450 Seiten, Paperback

ca. 90,- Euro

 

Stephen Davies: Samuel Lipschütz A Life in Chess

Dieses Buch gehört zu der Reihe von Werken im McFarland Verlag, die dem Leben und schachlichem Werk von heute eher nicht mehr so bekannten Meistern gewidmet sind. Dank dieser Bücher und den Nachforschungen der betreffenden Autoren werden für den Schachfreund aus den reinen Namen von Spielern plötzlich wieder ganze Lebensbilder mit spannenden Lebensgeschichten, eingebunden in die jeweiligen Umstände der Zeit, die es kennenzulernen ebenfalls lohnt.

Samuel Lipschütz wurde 1863 in Ungvar, Ungarn, geboren, damals Teil von Österreich-Ungarn. Zwischen 1919 und 1938 gehörte der Ort zur neu erstandenen Tschechoslowakei, wurde aber nach deren Besetzung wieder Ungarn zugeschlagen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gliederte die Sowjetunion Ungvar in die UdSSR ein, als Teil der Ukraine. Zu dieser gehört der Ort heute, heißt jetzt Uschhorod und liegt unmittelbar an der ukrainisch-slowakischen Grenze.

Mit 13 Jahren verließ Lipschütz die Schule und arbeitete im Büro eines Verlages. Dort lernte er von einem Arbeitskollegen das Schachspiel, das ihn sofort faszinierte. Als 16-Jähriger ging er nach Budapest und bewegte sich dort in den Schachzirkeln und Schachcafés. 1878 war Lipschütz' Vater Nathan bereits in die USA gereist und organisierte von dort nun nach und nach die Einwanderung seiner ganzen Familie in das "gelobte Land". Samuel Lipschütz erreichte die USA im Jahr 1880. Nachdem Steinitz und Zukertort, damals die beiden besten Spieler der Welt, die USA besucht hatten, erlangte das Schach dort einige Popularität und das Schachleben entfaltete sich mit vielen Angeboten. Lipschütz trat mehreren New Yorker Schachclubs bei und begann, seine Spuren zu hinterlassen. Zwischen Ende der 1880er und Mitte der 1890er Jahre war er einer der besten, vielleicht der beste Schachspieler in den USA.

Stephen Davies skizziert den schachlichen Werdegang von Samuel Lipschütz anhand von 249 größtenteils kommentierten Partien (zum Vergleich: Die Mega kennt 157 Partien von Lippschütz). 1901 kam es auch zu einem Vergleich mit Weltmeister Lasker im Manhattan Chess Club, in dem Lasker ein knappes Remis schaffte. 1904 wurde Lipschütz ernsthaft krank, er litt an Tuberkulose. Lipschütz begab sich zur Behandlung nach Deutschland, in das Bethanien-Krankenhaus in Hamburg-Eppendorf (Martinistraße 44), das übrigens heute noch existiert. In der Folge musste er sich mehreren Operationen unterziehen, unter anderem wegen einer Bauchfellentzündung. Am 30. November 1905 starb er in Hamburg-Eppendorf um etwa 13.00 Uhr nachmittags infolge seiner stark geschwächten körperlichen Konstitution.

Stephen Davies ist ein wunderbares Buch über ein interessantes Stück Zeitgeschichte und einige ihrer Protagonisten gelungen, liebevoll gemacht und ungemein informativ.

Stephen Davies: Samuel Lipschütz A Life in Chess
McFarland&Co, Jefferson, 2015
400 S., Hardcover

ca. 62,- Euro

 

Tim Harding: Joseph Henry Blackburne

Ist Samuel Lipschütz vielleicht eher den amerikanischen Schachfreunden ein Begriff, so ist Joseph Henry Blackburne natürlich ein echtes europäisches Schachschwergewicht. Dies zeigt sich auch im Format des Buches, das mit 28 cm Höhe bei 21 cm Breite Lexikon-Format hat. Der Autor Tim Harding, als Fernschachexperte bekannt, hat insgesamt 580 Seiten dieses Formats über Blackburne gefüllt. 

In gewissem Sinne sagt schon der erste Satz in Hardings Biografie viel über die damalige Zeit aus. Blackburne wurde 1841 in Hulme, Manchester, geboren, glaubte aber selber, dass er ein Jahr jünger war, als es tatsächlich der Fall war. Mitte des 19. Jahrhundert nahm man Geburtsdaten offenbar weit weniger wichtig als heute. Einen Teil seiner Jugend verbrachte Blackburne mit seiner Familie in Irland, Belfast. Blackburne, Sohn eines Buchhalters, hatte einen älteren Bruder, der jedoch im Alter von acht Jahren an Scharlach starb, und eine jüngere Schwester.

Schach lernte Blackburne wohl relativ spät, vermutlich erst mit neunzehn Jahren und gab bald danach aber schon seine erste Blindschachvorstellung, eine Kunstfertigkeit, für die er später berühmt wurde. Um 1860 waren Schachprobleme im Victorianischen England recht populär und eine Zeitung, die auf sich hielt, wie zum Beispiel der "Manchester Weekley Express and Guardian" unterhielt auch eine Schachspalte. Anfang 1861 erschienen in dieser Zeitung die zwei ersten Schachprobleme von Blackburne. Aus dem gleichen Jahr stammen auch die ersten überlieferten Partieaufzeichnungen, aus seinem Wettkampf gegen den russischstämmigen Eduard D. Pindar, von beiden Seiten zumeist mit dem Königsgambit eröffnet.

Im Herbst des Jahres 1861 trat Blackburne schließlich dem Manchester Chess Club bei. Zur gleichen Zeit bereicherte der Besuch des deutschen Spielers Louis Paulsen das Schachleben der Stadt. Paulsen befand sich auf der Rückreise eines ausgedehnten USA-Besuches und hatte beim New York Chess Congress 1857 hinter Paul Morphy den zweiten Platz belegt. Im Zuge des Besuchs spielte Paulsen, einer besten Spieler der Welt, freie Partien gegen die besten Spieler von Manchester, auch gegen Blackburne.  In zwei freien Partien unterlag Blakburne einmal, spielte einmal remis. In einer Beratungspartie konnten die Manchester-Spieler Paulsen schlagen. Blackburne unterlag dann in einer Blindsimultanpartie dem westfälischen Meister.

Paulsen - Blackburne, Blindsimultan, 1861

 

 

Die Blindsimultanvorstellung von Paulsen hatte Blackburne sicher in erheblichem Maße beeinflusst. Bald wurde Blackburne einer der besten Schachspieler Manchesters, dann Englands. Als Berufsschachspieler spielte er zwischen 1862 und 1914 eine Vielzahl von Meisterturnieren mit und erzielte eine Reihe von Erfolgen, darunter Turniersiege in Wiesbaden 1880, Berlin 1881 und London 1886 nach Stichkampf. Blackburne war bis ins hohe Alter aktiv und nahm, inzwischen 73-jährig, am Turnier in St. Petersburg 1914 teil (9./10. Platz).

Tim Harding zeichnet Blackburnes Schachleben mit allen Einzelheiten und großer Liebe zum Detail nach und zitiert zahllose zeitgenössische Quellen. Auf seinem Weg begegnet Blackburne und mit ihm der Leser allen großen Schachpersönlichkeiten des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Blackburnes Schachkarriere umfasst immerhin an die 55 Jahre. Er starb 1924 in London mit 83 Jahren.

Hardings Biographie ist ein atemberaubendes Meisterwerk, in dem offenbar alle heute noch erhältlichen Informationen zu einem der großen englischen Spieler zusammengetragen sind. Gleichzeitig ist dies auch das Bild des alten Europas, das bald danach mit dem Ersten Weltkrieg unterging.

Tim Harding: Joseph Henry Blackburne
McFarland&Co, Jefferson, 2015
580 S. Hardcover

ca. 70,- Euro

 

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André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.

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