Dürrenmatts Schachphantasien

von Peter Muender
18.09.2014 – Friedrich Dürrenmatt (5. Januar 1921-14. Dezember 1990) war Dramatiker, Maler, Hobbyschauspieler und ist einer der bekanntesten Schweizer Autoren. Seine Bücher und Dramen, in denen er spannend und mit schwarzem Humor menschliche Abgründe behandelt, wurden millionenfach verkauft und mehrfach verfilmt. Schach war für ihn ein wichtiges Thema. Mehr...

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Dürrenmatt über Schach, Einstein und die Welt

Friedrich Dürrenmatt (Foto: Wikipedia)

In Friedrich Dürrenmatts bekannten Kriminalromanen Der Richter und sein Henker und Der Verdacht gibt es viele Anspielungen auf das Schachspiel, auch in seinem Vortrag über Albert Einstein ging Friedrich Dürrenmatt auf das von Gott kreierte Schachspiel ein, in dem wir Menschen eher hilflos agieren. Der Nachdruck des schönen Officina Ludi-Bandes Der Schachspieler mit den Illustrationen von Hannes Binder ist ein geeigneter Anlass, sich mit dem Schweizer Schach-Enthusiasten und Hobby-Philosophen Dürrenmatt zu beschäftigen.

Schach als lebensgefährliches Spiel: So zugespitzt hat es der Schweizer Autor (1921-1990) in seinem im Nachlass gefundenen Entwurf Der Schachspieler dargestellt. Ein junger Staatsanwalt lernt bei der Beerdigung seines Vorgängers einen älteren Richter kennen, der mit dem verstorbenen Staatsanwalt befreundet war und mit ihm regelmäßig Schach spielte. Nun wollen die beiden Juristen diese Tradition fortsetzen und verabreden sich zu ihrer ersten Partie. Doch bevor der erste Zug ausgeführt ist, bekennt der Richter, er habe bei den früheren monatlich durchgeführten Partien nach besonderen Regeln spiegeln müssen - und die sollten nun auch bei ihren zukünftigen Spielen gültig sein: Die Schachfiguren sollen bestimmte Personen verkörpern, die jeder Spieler selbst bestimmen kann, die Dame muss aber die dem Spieler am nächsten stehende Person sein - etwa die Ehefrau. Die Läufer und Springer können von befreundeten Pastoren, Lehrern, Anwälten oder Offizieren verkörpert werden, die Bauern stellen einfache Bürger wie das eigene Dienstmädchen oder den Milchmann dar. Die gruselige Pointe besteht darin, dass jede im Spiel verlorene Figur den Tod der dargestellten realen Person bedeutet: Dieser Mensch muss getötet werden, erst dann kann das Spiel fortgesetzt werden. Und wer matt gesetzt wird, muss sich umbringen - was dazu führte, dass eine Partie Jahrzehnte dauerte, da jeder Zug gut überlegt werden musste, schließlich konnte ein Patzer ja den eigenen Exitus bedeuten.

Friedrich Dürrenmatt als Schauspieler
in dem Film "Der Richter und sein Henker", der auf
Dürrenmatts gleichnamigem Buch beruht.

Dürrenmatt hat sich also nicht wie Stefan Zweig in der Schachnovelle auf ein Psycho-Duell zwischen dem aggressiv-stumpfsinnigen Weltmeister Czentovic und dem großbürgerlich-kultivierten Anwalt konzentriert, der sich erst in der Gestapo-Haft als Autodidakt das Schachspielen beibrachte. Die Ausgangssituation eines mentalen Duells zwischen den beiden Juristen ist in Dürrenmatts Fragment auch gegeben, aber er fokussiert sich auch auf Aspekte wie den latenten Größenwahn der über Leben und Tod unschuldiger Mitmenschen entscheidenden Spieler und ihn interessiert vor allem die Frage, ob sich hinter dem spielerisch ausgetragenen Wettkampf nicht die Idee eines gewalttätigen antagonistischen Prinzips verbirgt: Will jeder Spieler seinen Gegner insgeheim am liebsten umbringen? Und ist eine Niederlage für das eigene Selbstwertgefühl vielleicht so niederschmetternd, dass man mit dem Suizid die Schmach eines pulverisierten Egos vermeiden kann?

Der Schweizer Großmeister grotesk zugespitzter moralischer Bühnenspiele hatte ja schon im Besuch der alten Dame (1955) die Frage nach Gerechtigkeit oder Rache gestellt. Die Millionärin Zachanassian, die da nach vielen Auslandsjahren zurückkehrt in ihr Heimatdorf Güllen, um sich am untreuen früheren Liebhaber Ill zu rächen, der sie verlassen und die Vaterschaft des gemeinsamen Kindes geleugnet hatte, bietet den Dorfbewohnern eine Milliarde, wenn die ihr den noch lebenden Ill tot vor die Füße legen. Mit diesem verlockenden mörderischen Angebot untergräbt sie nicht nur die Moral der Güllener, sie manipuliert und korrumpiert spielerisch ihre Umwelt, um dann mit dem toten Ill im Sarg triumphierend davonzuziehen. Bei diesem grotesk-grausamen Spiel mit hohem Einsatz waren die geldgierigen Jäger ja auch wie Schachfiguren eingesetzt worden. Was Max Frisch im Verlauf ihrer diffizilen Arbeitskameradschaft immer wieder an Dürrenmatts Stil kritisierte - nämlich das Immer-Zugespitzte, die Überzogenheit, und dass die Menschen zu Puppen werden - mag ja stimmen. Nur waren genau diese pointierten Stilmittel für Dürrenmatt der einzig akzeptable Weg, um seine Positionen zu verdeutlichen und seine Kritik am behäbigen Schweizer Mainstream vorzubringen.

Ungefähr 450 große Schachteln mit rund 20.000 Manuskriptseiten fand man im Nachlass von Friedrich Dürrenmatt. Der hatte alle seine Werke dem 1991 gegründeten Schweizer Literaturarchiv in Bern vermacht - keine Frage, der Sohn eines Pfarrers war extrem kreativ: Er war Maler und Schriftsteller, er schrieb Kriminalromane, Hörspiele und Dramen, mischte sich als Kommentator und Kritiker in politische Debatten ein, inszenierte auch eigene Stücke, schrieb an einigen Drehbüchern mit und spielte auch Nebenrollen in Filmen. In der Verfilmung des bereits 1950 als Auftragsarbeit für ein Magazin fabrizierten Kriminalromans Der Richter und sein Henker sieht man ihn als Schriftsteller an einem Schachbrett sitzend, über die hübsch gedrechselten, eher für ein Museum als für das alltägliche Spiel entworfenen Figuren gebeugt.

In dem Krimi geht es um Rache und Gerechtigkeit, um eine alte Rechnung, die zwischen dem krebskranken, aber knallharten, alttestamentarischen Rächer, dem Kommissär (sic!) Bärlach und dem nihilistischen Kriminellen Gastmann noch offen ist. Und Bärlach erledigt einen heiklen Mordfall, indem er ihn sozusagen über die Bande spielt: Der Teufel in Menschengestalt Gastmann, von Bärlach jahrelang erfolglos gejagt, muss für einen Mord büßen, den er nicht begangen hat - damit will Bärlach ihn für seine früher begangenen Verbrechen bestrafen. Und gleichzeitig auch den Kollegen Tschanz, der aus Neid und übertriebenem Ehrgeiz endlich Karriere machen wollte und den erfolgreicheren Polizisten Schmied liquidierte. Bärlach als Richter hatte Tschanz für seine Zwecke eingespannt und ihn als Henker instrumentalisiert - als unerbittlicher Schachspieler wird er im Roman bezeichnet. Und Bärlach gibt selbst zu, mit dem ahnungslosen Täter in diesem undurchsichtigen Fall gespielt zu haben.

Dürrenmatt war kein Clubspieler, zum regelmäßigen Schachspielen fehlte dem an immer neuen Projekten laborierenden Künstler einfach die Zeit. Ihn faszinierte das Bildhafte und Dramatische, das ein Duell am Schachbrett vermittelt; das war für ihn ideal, um es als eindrucksvolle Parabel zu instrumentalisieren. Nicht nur die beiden Juristen am Schachbrett, die kaltblütig wie US-Kriegs-Strategen Kollateralschäden in Kauf nehmen und über Leichen gehen, werden so als größenwahnsinnige Spieler entlarvt. Schach als eine Art Organigramm der Weltgeschichte bringt er auch im Vortrag über Einstein anlässlich dessen 100. Geburtstag (am 24. Februar 1979, ETH Zürich) ins Spiel, wobei er sich sogar als Spieler in einer Partie gegen Einstein vorstellt, an dessen Spielweise seine geistesgeschichtliche Entwicklung nachvollziehen zu können.

Albert Einstein (Foto: Wikipedia)

Im Weltgeschehen als Schachspiel sind die Menschen von den Regeln des Spiels determinierte Schachfiguren: Ob die Menschen Gutes oder Schlechtes vollbringen, ist gleichgültig, sie sind, ob weiße oder schwarze Figuren, von den gleichen Gesetzen bestimmt... Das hört sich nach schicksalhafter Vorherbestimmung an, was auch daran liegt, dass Dürrenmatt die Schach-Allegorie zu stark strapaziert und auf viele anderen Aspekte anwendet: Der persönliche Gott lässt gleichzeitig auf zwei Brettern spielen, auf dem Brett des Geistes und auf dem Brett der Natur, auf dem Brett der Freiheit und auf dem Brett der Naturnotwendigkeit...ein guter Spieler ist auch ein guter Mensch, ein schlechter Spieler ist auch ein schlechter Mensch und Gott ist sein Schiedsrichter, eine jede Figur muss die Wirkung ihrer Handlung tragen...

Die Kategorien Gut und Böse möchte Dürrenmatt auch mit Schachfiguren illustrieren: Der weiße Läufer auf seinen diagonal verlaufenden weißen Feldern stellt dann den Heiligen dar, der nur Gutes tut, während der schwarze Läufer im weißen Feld als unheimlicher Gegenspieler auch Gutes tut, aber es nützt ihm nichts, er ist böse und bleibt böse. Der bewegungsarme König, meint Dürrenmatt in seinen Anmerkungen zum Vortrag, sei nicht aufgrund seiner Eigenschaften König, sondern zum König determiniert. Und die Dame sei die Heldin - da projiziert er dann doch viel zu viel Disparates ins Schachspiel hinein - von philosophischen Ansichten Spinozas über die Relativitätstheorie bis zu ethischen Aspekten menschlichen Handelns strapaziert er das Schachspiel als eine Art Universalschlüssel zum Verständnis weltgeschichtlicher Entwicklungen.

Aber als militanter Dilettant, der im Unterschied zu den auf ihre Fachgebiete spezialisierten Physikern, Mathematikern und Philosophen sich nicht ins Ghetto eines Fachgebietes zurücktreiben lässt, will er die Ahnung vom Ganzen (so der Biograph Rüedi) nicht aus dem Auge verlieren und den großen Zusammenhängen unterschiedlicher Disziplinen nachgehen. Da gibt es sicher zu viele Unschärfen in seinen Ausführungen, aber wer will schon in Zeiten, da die Experten unentwegt von alternativlosen Aktionen faseln, einem kritischen Dilettanten widersprechen, der immer viele Möglichkeiten im Blick hatte? Dürrenmatt selbst stellte sich in seinem Einstein-Vortrag übrigens selbstironisch als überforderter Patzer dar, der simultan gegen Bobby Fischer und Spasski antreten müsste.

Im 1962 uraufgeführten Stück Die Physiker, in dem die Verzweiflung der drei Physiker Newton, Einstein und Möbius hinter ihren komödiantisch wirkenden Verstellungen schmerzlich aufleuchtet, weist Dürrenmatt auf wissenschaftliche Entdeckungen von so ungeheurer Zerstörungskraft hin, dass dem verantwortungsvollen Forscher als letzter Ausweg nur noch das Irrenhaus bleibt. Diese Grauzone zwischen vermeintlich harmloser Heiterkeit und irrem Fanatismus wirkt beängstigend und schockierend - und diesen aberwitzigen Grenzbereich - Dürrenmatt bezeichnet ihn als Satyrspiel vor der Tragödie - wollte er wohl auch im Schachspieler sondieren.

Womit wir wieder beim Satyrspiel der beiden Juristen wären, die sich am Schluss des im Nachlass gefundenen Entwurfs auf die mörderischen Spielregeln einigen, obwohl der alte Richter auch seine Verhaftung akzeptieren würde. Schließlich hatte er, wie er dem jungen Staatsanwalt beichtet, seine eigene Frau umgebracht, um mit diesem Damenopfer seine schmähliche Niederlage - den nach den Regeln erforderlichen Selbstmord - zu vermeiden. Das sei zwar alles entsetzlich, aber auch gewaltig gewesen, wenn man eine Figur hätte opfern müssen...

Entsetzlich, aber auch gewaltig: Zwischen diesen Extremen hat Dürrenmatt die Faszination des Schachspiels ausgelotet. Und so nimmt die neue Partie dann ihren Lauf, was der Spieler und Moralist Dürrenmatt so beschreibt: Der junge Staatsanwalt denkt nach, greift dann nachdenklich zu den Figuren, die neben dem Spielbrett stehen, und stellt die Dame auf ihren Platz. Ich setze meine Frau, sagt er. Der alte Richter entgegnet: Ich setze meine Tochter und stellt seine Dame aufs Schachbrett.

Ob die beiden nun schlechte Spieler und damit auch schlechte Menschen sind, darf der Leser selbst entscheiden.

Friedrich Dürrenmatt: Der Schachspieler. Illustriert von Hannes Binder. Officina Ludi, Großhansdorf/b. Hamburg 2013. 9,80 Euro.
Ders.: Albert Einstein. Ein Vortrag. Diogenes Verlag, Zürich, 1979, 66 S.
Daniel Keel (Hrsg.) : Über Friedrich Dürenmatt (Reader), Diogenes, Zürich 1998, 562 S.
Peter Rüedi: Dürrenmatt oder die Ahnung vom Ganzen. Biographie, Diogenes Zürich 2011, 960 S.

 

 


Peter Münder, Anglist, Pinter-Biograph und begeisterter Schachfreund spielt beim Hamburger SK.

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