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Ein Hoch auf die Schachklassiker!
Interview mit Jens-Erik Rudolph
Von Andreas Albers
Wie kommt man auf die Idee alte
Schachbücher neu aufzulegen?
Schon in der Schule konnte ich sehr gut abschreiben, vor allem bei
Klassenarbeiten. Und da man dort ja bekanntlich für das Leben lernt, habe ich
nun aus den erworbenen Fertigkeiten einen Job gemacht. Zudem sind viele alte
Schachbücher derzeit nur noch antiquarisch erhältlich und kosten teilweise ein
Vermögen. Es gibt hier also ein ideales Betätigungsfeld. Das Ziel des Projektes
„Schachklassiker“ besteht letztlich darin, die bedeutendsten Werke der
Schachliteratur in einer erschwinglichen und zeitgemäßen Neuausgabe wieder
verfügbar zu machen.
Warum dann im Originaltext und nicht in einer "modernen" Fassung?
Zunächst einmal aus Respekt vor der Leistung der Autoren, deren Aussagen man
m.M.n. nicht ohne entsprechende Hinweise verändern darf. Man müsste also
beispielsweise Original und überarbeitete Passagen nebeneinander stellen oder
mit erläuternden Fußnoten oder Anhängen arbeiten. Dies würde aber den Lesefluss
nachhaltig beeinträchtigen.
Darüber hinaus erhält man z.B. in den Lehrbüchern von Réti und Nimzowitsch die
Gelegenheit, den Entstehungsprozess bahnbrechender neuer Ideen und Theorien
„live“ mitzuerleben. Diesen Schöpfungsprozess kann man aber nur anhand der
Originalwerke nachvollziehen. In einer modernisierten, geglätteten oder
gestrafften Fassung würden zwangsläufig wesentliche Inhalte auf der Strecke
bleiben. Das Studium der Originalfassungen kann daher zu einem tieferen
Schachverständnis beitragen.
Ältere Turnier- oder Wettkampfbücher, die ja in der Regel von Teilnehmern oder
Organisatoren der jeweiligen Veranstaltungen verfasst wurden, atmen den Geist
der damaligen Zeit. Dies gilt z.B. auch für die Morphy-Biografie von Dr. Max
Lange, einem Zeitgenossen des amerikanischen Schachgenies. Die Lektüre versetzt
einen in die Frühzeit des Turnierschachs zurück und die Schachhelden der
Vergangenheit erstehen wieder auf. Auch bei diesen Büchern verbieten sich
nachträgliche Eingriffe, will man die Darstellungen nicht ihrer Authentizität
berauben. Etwaige Unzulänglichkeiten in den Analysen (z.B. taktische Überseher)
sind dabei hinzunehmen, hatte man damals eben noch nicht die Möglichkeit einer
computergestützten Überprüfung der Varianten.
Was ist eigentlich anders im Vergleich zum Original?
Zunächst einmal die Optik. Die Bände der Schachklassiker-Reihe sind nämlich
keine fotomechanischen Nachdrucke der Originale. Alle Texte wurden für die
Neuausgaben in aufwendiger Weise neu gesetzt, typografisch modernisiert und
einem augenfreundlichen Layout zugeführt. Hierzu gehört auch die Verwendung
zeitgemäßer Diagramme und der durchgängige Einsatz der figurinen Partienotation.
Man kann die „Schachklassiker“ also als „moderne Originale“ bezeichnen. Außerdem
wurde in den meisten Fällen die Anzahl der Diagramme deutlich erhöht, da in
vielen älteren Schachbüchern hiermit sehr sparsam umgegangen wurde. In Rétis
„Die neuen Ideen im Schachspiel“ finden sich fast keine und in dem 1803
erschienenen Werk „Anastasia und das Schachspiel“ gar keine Diagramme. Der
„Anastasia“ fehlte übrigens auch die heute übliche symbolische Partienotation.
Stattdessen wurden die Züge sehr wortreich beschrieben, z.B. : „Der Läufer des
Königs auf das vierte Feld des andern“ (statt Lf1-c4). In der Neuausgabe findet
sich daneben nun auch die heute übliche abkürzende Schreibweise. Offensichtliche
Fehler in den Partienotationen oder Diagrammen wurden bei der Neugestaltung
übrigens gleich mitbereinigt.
In einigen Fällen habe ich den Originaltexten Ergänzungen hinzugefügt. So wurden
beispielsweise der „Anastasia“ zahlreiche erläuternde Anmerkungen in einem
Anhang beigegeben. Dieses mehr als 200 Jahre alte Werk enthält nämlich sehr
viele historische Namen und Ereignisse, die für die meisten heutigen
Schachfreunde erklärungsbedürftig sein dürften.
Welchen Nutzen hat der "moderne
Schachspieler" von heute von diesen Büchern?
Den Mehrwert, den die Originalquellen gegenüber vereinfachenden modernen
Lehrbuchdarstellungen bieten können, habe ich ja bereits erwähnt. Aber auch aus
didaktischer Sicht finden sich unter den Klassikern wahre Perlen, wozu die Gnade
der frühen (prädigitalen) Geburt der Verfasser beigetragen haben mag. Hierzu
gehört beispielsweise Richard Rétis „Die Meister des Schachbretts“. Ein
wunderbares Lehrbuch, welches leider etwas in Vergessenheit geraten ist,
möglicherweise weil es erst posthum erschienen ist. In seinen hervorragenden
Partiekommentaren erläutert Réti sehr ausführlich und verständlich die Ideen und
Pläne hinter den Zügen. Auch für heutige Vereinsspieler sind solche Erklärungen
viel hilfreicher als computergenerierte Variantenbäume.
Hikaru Nakamura hat vor kurzem gesagt, ihn interessieren die alten Meister
nicht, was ist Deine Meinung?
Ich kontere mit Wladimir Kramnik, welcher in einem Interview mit Wladimir Barsky
Folgendes sagte: „In my view, if you want to reach the heights, you should study
the entire history of chess. I can't give any clear logical explanation for it,
but I think it is absolutely essential to soak up the whole of chess history.“
(Quelle: www.kramnik.com )
Vielleicht sollte Herr Nakamura zur Vorbereitung der nächsten Partie gegen
Kramnik probeweise z.B. auch einmal in Nimzowitschs „Mein System“ gucken,
anstatt nach einer Verbesserung im 25. Zuge gegen Russisch zu suchen.
Möglicherweise würde ihm dies dabei helfen, die Pläne seines Gegenübers noch
besser zu verstehen.
In Anlehnung an einen Ausspruch von Isaac Newton („If I have been able to see
further, it is because I have stood on the shoulders of giants“) kann man
sicherlich festhalten, dass auch die heutigen Spitzenspieler auf den Schultern
von früheren Schachgiganten stehen, auch wenn dies dem einen oder anderen nicht
bewusst sein mag. Ein weiterer Ex-Weltmeister, der dies sehr wohl erkannt hatte,
ist Garri Kasparow, wie man z.B. dem Tenor seiner großartigen Vorkämpfer-Serie
entnehmen kann.
Wer ist der Mann hinter dem Jens-Erik Rudolph Verlag?
Ein Nachteil bei Ein-Mann-Unternehmen ist es, dass man die Beantwortung solcher
Fragen nicht delegieren kann. Um die Leser nicht mit einer durch Verdrehungen
und Verdrängungen geprägten Selbstwahrnehmung zu langweilen, hier nur die
wichtigsten Fakten in Kürze: Geburtsjahr > aktuelle DWZ; Schulzeit siehe erste
Frage (Lieblingsfach: Pause); danach kfm. Ausbildung und Hochschulstudium mit
Abschluss Dipl.-Informatiker (Diplomarbeitsthema: „Blunder - Entwicklung eines
Sch(w)achprogramms basierend auf Methoden der Künstlichen Dummheit“ oder so
ähnlich); anschließend verschiedene Tätigkeiten im IT-Bereich; seit Anfang 2009
Herausgeber von Schachbüchern; Hobby-Schachspieler; Büchermessi (nein, das hat
nichts mit Fußball zu tun); Bigamist (eine Dame ist natürlich aus Holz).
10 Bücher sind jetzt erschienen, eine kurze Zwischenbilanz...
Mit dem zehnten 10 Band („Mein System“ von Nimzowitsch) ist die Eröffnungs- bzw.
Entwicklungsphase des Verlages erfolgreich abgeschlossen und glücklicherweise
habe ich noch kein Material eingestellt. Allerdings war der Bedenkzeitverbrauch
etwas zu hoch. Im Mittelspiel sollten die nächsten Züge daher schneller
erfolgen, mindestens 6-8 pro Jahr. Dann besteht eine gute Chance eine echte
Seeschlange zu produzieren.
Bleiben die Klassiker unter sich oder wird es auch neue Bücher in Deinem
Verlag geben?
Die Schachklassiker werden auch weiterhin den Kern des Verlages bilden. Es gibt
aber bereits konkrete Planungen auch für neue Titel. Übrigens werde ich neben
den Schachbüchern zukünftig auch noch mit anderen meiner Steckenpferde über den
Buchmarkt reiten.
Welches ist Dein persönliches Lieblingsschachbuch? - vielleicht auch aus
der neueren Zeit?
Hmm ... nur eine Nennung möglich, das ist sehr schwierig!? Einige Kandidaten
habe ich ja schon bei früheren Fragen ins Spiel gebracht, die muss ich hier
nicht noch einmal erwähnen. Auch „die üblichen Verdächtigen“, die sich natürlich
auch in meinem Bücherregal finden, sollen hier hier nicht zum x-ten Male genannt
werden. Stattdessen möchte ich ein ausgefallenes Schachbuch anführen, welches
mir insbesondere in der Aufbauphase nach Niederlagen immer wieder hilft, weil es
eben noch Schlimmeres gibt, als chancenlos zusammengeschoben zu werden: eine
gewonnene Stellung aufzugeben! In „Der letzte Fehler - 128 irrtümlich
aufgegebene Schachpartien“ von Klaus Trautmann (Schachverlag Kania) findet sich
eine amüsante Sammlung solcher Unglücksfälle. Wie man bei der Lektüre erfährt,
ist dieses Phänomen gar nicht so selten, wie man vielleicht glauben mag. Das
Buch ist zudem sehr humorvoll geschrieben, was bei Schachbüchern leider eine
seltene Ausnahme darstellt.
Links:
www.schachklassiker.de
www.rudolph-verlag.de