Ein Interview mit Marco Baldauf

von Johannes Fischer
24.07.2019 – Anfang Juli verlieh die FIDE Marco Baldauf offiziell den Großmeistertitel. In einem Interview verrät der 1990 geborene Wahl-Berliner, der auch regelmäßig für ChessBase schreibt, wie er zum Großmeister geworden ist, welche Rolle Alexander Khalifman in seiner Schachkarriere gespielt hat und warum er gerne Schach spielt. | Foto: Pascal Simon

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Hallo Marco, Anfang Juli hat dich die FIDE offiziell zum Großmeister ernannt. Wie fühlt es sich an, Großmeister zu sein?

Ja, ich habe diese Art Pressemitteilung der FIDE auch gelesen. Aber ehrlich gesagt, fühle ich mich nicht groß anders. Auf einer intellektuellen Ebene verstehe ich natürlich, dass sich etwas geändert hat, und was der Großmeistertitel objektiv und auch für mich bedeutet, doch meine Gefühlslage hat sich seither eigentlich nicht großartig verändert. Vielleicht kommt das noch.

Wann, wo und wie hast du die letzte Norm gemacht?

Meine dritte und letzte Norm habe ich in der abgelaufenen Bundesligasaison 2018/2019 erzielt. Ich spiele für die Schachfreunde Berlin und hatte mir vor der Saison viel vorgenommen, denn das Jahr 2018 war schachlich nicht besonders gut für mich gelaufen. Meine Elo von knapp 2500 hatte ich auf 2470 runtergewirtschaftet und ich habe das ganze Jahr hindurch keine guten Ergebnisse erzielt. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass ich kurz vor dem Ziel stehen bleibe, denn ich wusste, dass die Zeit, die ich ins Schach investieren konnte, von Jahr zu Jahr weniger werden würde.

Aber die Saison begann miserabel, wobei das noch ein harmloses Wort ist. Gleich am Anfang der Saison, auf dem Weg durch das herbstliche Meißen, dem Spielort unseres Reisepartners Dresden, bin ich in einen Hundehaufen getreten. Doch wie der Zufall es wollte, hatte ich an diesem Wochenende ein zweites Paar Schuhe dabei, ich weiß gar nicht mehr genau, warum. Naja, zurück zum Hotel, neues Schuhwerk, neues Glück. Die Partie zum Auftakt gelang dann besser, ich gewann gegen Mathias Womacka und so war ich in der Saison von Runde 1 an auf Normkurs.

Den Elfmeter, um die Norm unter Dach und Fach zu bringen, hatte ich dann bereits in meiner achten Partie. Mit einem Sieg in dieser Partie hätte ich die Norm praktisch sicher, denn dann hätte mir in der nächsten und neunten Partie auch eine Niederlage zur Norm gereicht, vorausgesetzt, mein Gegner hat mindestens 2550 Elo.

In Runde 8 spielte ich gegen Falk Hoffmeyer von MSA Zugzwang, und die Partie lief so, wie man es sich nur wünschen kann. Ich kam gut aus der Eröffnung heraus und schon zu Beginn des Mittelspiels konnte mein Gegner den Drohungen am Damenflügel nicht mehr Herr werden: 1-0 nach etwa 20 Zügen.

 

Danach konnte ich ganz entspannt gegen Hockenheim zur neunten Partie antreten. Wir spielten gegen Hockenheim mit relativ schwacher Aufstellung, sodass ich am Spitzenbrett Platz nehmen durfte. Dort wartete dann Karpov auf mich. Gegen den Ex-Weltmeister zu spielen war ein unvergessliches Erlebnis, und es war umso besser, dass ich mit dieser Partie die dritte Norm machen würde, aber das Ergebnis dabei keine Rolle mehr spielte. Aber mit der Partie gegen Karpov war ich sehr zufrieden, denn da das Ergebnis für mich zweitrangig war, wollte ich vor allem eine lange und spannende Partie spielen.

 

Und die beiden Normen vorher?

Die gelangen mir beide im Sommer 2017. Die erste davon auch in der Bundesliga, das scheint mir gut zu liegen. Die Saison war zunächst nur mittelmäßig, doch dann gewann ich zwei Partien am Stück und hatte plötzlich eine realistische Chance. In der nächsten Partie wartete allerdings mein alter Freund und Trainingskollege Arik Braun auf mich. Er ist in diesen Begegnungen immer hoher Favorit und natürlich ein unangenehmer Gegner.

Marco Baldauf in der Bundesliga | Foto: Pascal Simon

Aber die Partie lief gut: Arik opferte im Mittelspiel einen Bauern für Initiative, was objektiv vielleicht sogar in Ordnung war, aber er brachte sich dadurch in eine Situation, in der er seine Stärken nicht ausspielen konnte. Eine schlechte Partieanlage ist ein Fehler, der ihm eigentlich nur selten passiert. Arik warf dann noch einen zweiten Bauern über Board, doch irgendwann verflachte seine Initiative und ich musste meinen Vorteil nur noch verwerten.

 

Den Matchball zu meiner ersten Norm verwandelte ich dann gegen Ilja Zaragatski.

 

Meine zweite Norm folgte nur kurze Zeit später, beim RTU Open in Riga. Ironischerweise spielte Arik abermals eine entscheidende Rolle, denn wir wurden in der letzten Runde gegeneinander gelost. Eine unangenehme Situation, denn ich musste gewinnen, um eine Norm zu machen, und Arik brauchte einen Sieg, um ins Preisgeld zu kommen. Außerdem mussten wir unseren Rückflug erwischen, das heißt, wir durften eventuelle Gewinnversuche nicht endlos ausdehnen.

Aber auch diese Partie lief von Anfang an gut für mich. Ich gewann das theoretische Duell – das heißt, Arik drückte sich vor einem theoretischen Duell und nahm dafür eine passive Stellung in Kauf. Dann stellte er auch noch eine Figur ein, zweizügig, wie im Lehrbuch. Wir konnten das beide kaum fassen, aber manchmal gibt es solche Aussetzer.

 

Auf dem Heimflug amüsierten wir uns dann, dass es bestimmt Leute geben würde, die nicht an einen Einsteller glauben, sondern spekulieren würden: "Der Baldauf hat sich die Norm doch gekauft!", aber am Ende ist mir so etwas nie zu Ohren gekommen. Man nimmt sich manchmal wohl doch wichtiger als man ist....

Du hattest bereits als Jugendspieler zahlreiche Erfolge. Weißt du noch, wann du das erste Mal daran gedacht hast oder davon geträumt hast, Großmeister zu werden?

Als Kind träumt man natürlich viel, wenn der Tag lange ist. Großmeister zu werden, das ist vermutlich das Ziel eines jeden sich als ambitioniert oder talentiert wahrnehmenden Kindes. Der erste Pokal, die erste gewonnene Landesmeisterschaft - all das sind Momente, in denen man das Gefühl hat, der Weg zum Großmeistertitel sei geebnet.

Und weißt du noch, was dich am Schach fasziniert hat, als du angefangen hast, Schach zu spielen?

Ich erinnere mich noch sehr gut an einen Tag, da war ich wohl sieben oder acht Jahre alt, als mich mein damaliger Trainer zu einem Ausflug nach Bad Wiessee mitnahm, wo jeden Herbst ein großes Open stattfand. Wir standen vor dem Eingang der Wandelhalle, die ja an sich schon ein sehr mächtiges und beeindruckendes Gebäude, als mein Trainer zu mir gesagt hat, "Schau, das ist Khalifman, der Weltmeister." Und Khalifman, langer schwarzer Mantel, ernsthaftes Gesicht, bärtig, kommt die Treppen hochmarschiert. Dann wurde mir erklärt, dass Khalifman aus Russland angereist sei, um hier am Tegernsee das Turnier zu gewinnen. All das, diese Ernsthaftigkeit, dieser Aufwand, die Hingabe, der Kampf am Brett, das hat mich damals sehr beeindruckt.

Was fasziniert dich heute am Schach?

Ich glaube, Faszination ist der falsche Begriff, um meine Verbindung zu diesem Spiel zu beschreiben. Ich habe vielmehr ein wohliges, ja heimeliges Gefühl, wenn ich am Brett Platz nehme. Ich fühle eine große Anspannung, aber irgendwie auch etwas sehr Beruhigendes. Hier kann mir nichts passieren.

Hattest oder hast du bestimmte Vorbilder, Spieler, die dich besonders beeindruckt haben?

Ich hatte als Kind eine etwas nostalgische Ader und habe sie auch heute noch. Und eines meiner ersten Schachbücher war eine Analyse der WM-Kämpfe zwischen Karpov und Kasparov 1985 und 1986. Für mich waren die beiden lange, lange Zeit fraglos die besten Spieler der Welt, auch dann noch, als Kasparov 2000 im WM-Kampf in London von Kramnik geschlagen wurde und Karpov schon gar keine große Rolle mehr spielte. Karpovs Stil fand ich immer bewundernswert – diese Geduld und Langfristigkeit, die sein Spiel prägt. Das hat mich sehr inspiriert. Bei den heutigen Spitzenturnieren fiebere ich mit Grischuk mit, auch wenn ich mir da leider keinen großen Gefallen tue.

Anatoly Karpov in der Bundesliga | Foto: Georgios Souleidis

Hast du ein Lieblingsschachbuch?

Als Jugendlicher fand ich die Bücher von John Watson toll und natürlich habe ich auch Kasparovs Bücher gelesen. Gelfands erstes Buch, Positional Decision Making habe ich verschlungen – Gelfand liefert wirklich sehr ehrliche Einblicke in sein schachliches Denken, aber man wird leicht verführt, das Buch nur zu lesen und nicht systematisch durchzuarbeiten.

Du bist 2014 Internationaler Meister geworden. Was hast du gemacht, um Großmeister zu werden?

So genau kann ich das gar nicht sagen. Was aber definitiv eine große Rolle gespielt hat, war mein Umzug von München nach Berlin im Herbst 2013. In Berlin habe ich mich bald regelmäßig mit Steve Berger und Arik getroffen. Wir haben viel geblitzt, aber auch analysiert. Wir haben Endspiele, wie das Turmendspiel "3 vs 3 + a-Bauer", diskutiert oder Mittelspielstrukturen. Natürlich auch Eröffnungsvarianten. Von Arik habe ich beispielsweise gelernt, wie man Caro-Kann spielt, was heute meine Hauptwaffe gegen 1.e4 ist. Kein Eröffnungsbuch ist so wertvoll und hilfreich wie eine solche Trainingsgemeinschaft.

Ein anderer entscheidender Faktor war mein Wechsel zu den Schachfreunden Berlin. Der Umgang im Team, immer wieder im Austausch mit starken Großmeistern zu stehen, das hat mich sehr viel weiter gebracht. Wie gehen diese Jungs eine Vorbereitung an, wie gehen sie mit Niederlagen um – es ist einfach sehr interessant, das mitzuerleben. Dieser Austausch führt auch dazu, dass ich ganz nebenbei Tipps bekomme, wo ich noch Schwächen habe, wo Stärken. Ein Großmeister mit 2600 erkennt so etwas einfach.

Hast du ein bestimmtes Trainingsprogramm absolviert oder gezielt bestimmte Turniere gespielt, um nach dem IM-Titel Großmeister zu werden?

Vergangenes Jahr könnte man von einem gezielten Trainingsprogramm sprechen. Ich wollte eine gute Saison spielen und die dritte Norm klar machen. Ich habe dann im Spätsommerurlaub Jacob Aagaards Buch Grandmaster Preparation: Calculation fast vollständig durchgearbeitet. 20 Aufgaben am Tag, oder so. Meine Freundin musste einiges an Geduld mitbringen, denn sie mag es nicht so gerne, wenn ich in Schachbücher vertieft bin. Aber sie hat mir diesen Luxus gerne zugestanden und sich einfach auch selbst viel zu lesen in den Urlaub mitgenommen. Auf diese Weise haben wir dann fast zwei Wochen Late Season im wunderschönen Albanien verbracht.

Gibt es bestimmte Momente oder Partien, die du auf dem Weg zum Großmeister als etwas Besonderes erinnerst?

Besonders waren für mich immer Meilensteine, wie beispielsweise der erste Sieg gegen einen Großmeister. Oder mein Sieg gegen Van Wely, auch wenn die knappe und unnötige Niederlage der Mannschaft in diesem Kampf gegen Solingen die Freude über diesen Sieg doch etwas trübte.

 

Eine besondere Partie für mich war auch die Begegnung mit Andrei Esipenko beim Grenke Open 2019. Ich war am Tag zuvor erstmals im Live-Rating über 2500 geklettert und hatte damit den Großmeistertitel in der Tasche und konnte frei aufspielen. Wir lieferten uns einen heißen Kampf, der letztlich unentschieden endete. Esipenko hat mich sehr beeindruckt, er ist ein sehr eleganter Spieler und ich werde gespannt verfolgen, wie seine noch junge Karriere weiter läuft. Vielleicht kann ich auf dieses Remis irgendwann einmal richtig stolz sein.

 

Eine Reihe starker Spieler haben GM-Stärke und eine Elo-Zahl von 2500 und mehr, aber scheitern immer wieder daran, die für den Titel notwendigen Normen zu erzielen. Bei dir ging das recht problemlos. Ist das Zufall oder hast du eine andere Erklärung dafür?

Bei mir funktionierte das tatsächlich ausgesprochen gut. Ich hatte drei Normchancen und habe alle drei genutzt. Vielleicht Zufall, vielleicht psychologische Stabilität – wobei ich in diesem Bereich auch schon Aussetzer hatte. Zum Beispiel bin ich letztes Jahr beim Tegernsee Open 2018 mit drei Siegen und einem Remis gegen den griechischen Großmeister Halkias gestartet.

In Runde 5 hatte ich dann nach der Zeitkontrolle eine Gewinnstellung gegen den ungarischen Großmeister Gabor Papp auf dem Brett. Doch als ich eine Variante sehe, die forciert gewinnt, aber etwas kompliziert zu rechnen ist, verspüre ich plötzlich eine Art von Panik: wenn ich diesen Vorteil jetzt heimbringe, dann wird die Chance auf die dritte Norm und auf den Titel plötzlich sehr real.

Also habe ich von den 30 Minuten Bedenkzeit, die ich noch hatte, erstmal 20 vergeudet, um dann wider besseren Wissens etwas anderes zu spielen als die Gewinnvariante. Danach stand ich immer noch klar besser und hatte im Endspiel einen Bauern mehr, aber ich war so nervös, dass ich die Partie am Ende noch verloren habe.

 

Das ist natürlich ein krasses Beispiel, aber es gibt bestimmt Spieler und Spielerinnen, die auf ähnliche Weise Normchance über Normchance vergebe. Paranoia. Mich erinnert das ein wenig an den Fall Daniel Paul Schreber, der seine eigenen Psychosen in dem durch Freud berühmt gewordenen Buch Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken analysiert hat.

Nervosität hin oder her – was, glaubst du, war der entscheidende Faktor, der dich zum Großmeister gemacht hat?

Das ist wirklich schwer zu beantworten. Allein deshalb, weil es sicherlich nicht den einen entscheidenden Faktor gibt.

Deutschland hat zur Zeit 96 Großmeister und es gibt immer wieder Stimmen, die behaupten, der Titel sei entwertet. Wie siehst du das?

Um das beantworten zu können, müsste man mal schauen, wie viele Menschen vor 30 oder 40 Jahren in Deutschland Schach gespielt haben. Und dann die Relation Schachspieler/Großmeister ausrechnen. Ohne die Zahlen zu kennen, vermute ich mal, dass es im Verhältnis zur absoluten Zahl heute nicht sehr viel mehr Großmeister gibt als damals. Es sind halt die obersten Null-Komma irgendwas Prozent.

Du hast vor kurzem dein Studium beendet und du bist Großmeister geworden. Wie geht es weiter, beim Schach und im Beruf?

Ja, das waren zwei große Meilensteine, so könnte man das sehen. Beruflich bin ich gerade noch auf der Suche und habe die ein oder andere aussichtsreiche Bewerbung am Laufen. Sollte eine dieser Bewerbung bald erfolgreich sein, würde ich mein Schachpensum, das die letzten Jahre auch nicht gerade massiv war, weiter runterschrauben müssen. Das ist natürlich schade, aber letztendlich ohne Alternative.

Jetzt freue ich mich aber erst einmal auf das Open in Berlin im August, und dann bin ich ja auch noch einmal bei ChessBase in Hamburg und nehme zwei DVDs auf. Ich habe vor kurzem schon eine Doppel-DVD über Caro-Kann gemacht, die voraussichtlich im Herbst erscheinen wird.

Zum Abschluss noch eine letzte Frage zum generellen Schachgeschehen: kommt Carlsen irgendwann einmal über 2900 Elo und wie lange bleibt er Weltmeister?

Naja, wenn er es das bei seiner aktuellen Form nicht schafft, dann schafft er es wohl nie. Viel fehlt ihm ja nicht mehr bis zur 2900, ich kann mir das schon vorstellen. Weltmeister bleibt er, glaube ich, noch eine ganze Weile. Von den ganzen Jungs, die jetzt da oben mitspielen, traue ich es gerade keinem so richtig zu, ihn abzulösen. Vielleicht gelingt es Artemiev irgendwann einmal, den halte ich für unfassbar stark.  

Vielen Dank für das Interview!


Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".

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