Studentengag für die (Schach-)Geschichte
Von Dr. René Gralla
Dauerhafter Nachruhm, das ist die Krönung jeder sportlichen Karriere. Nach dem einstigen Fußball-Bomber der Nation ist das "Gerd Müller-Stadion" in dessen Geburtsstadt Nördlingen benannt. DDR-Superradler Gustav-Adolf Schur darf seit 2000 stolz sein auf den Planetoiden 2000 UR, der zu Ehren der Athletenlegende bis ans Ende aller Tage als "38976 Taeve" zwischen Mars und Jupiter um die Sonne kreist. Und der 62-jährige Rechtsanwalt Ulrich Gass, der früher in der Bundesliga für Marktheidenfeld gepunktet hat, ist bereits jetzt eingegangen in die Schachgeschichte mit der tolldreisten Zugfolge 1. e4 e5 2.Sf3 Lc5!?: Im zweiten Schlagwechsel wirft Schwarz seinen Königsbauern dem Weißen zum Fraß vor, ein freches Opfer, das unter Fachleuten "Busch-GASS-Gambit" heißt. Wie sich das anfühlt, plötzlich aufzusteigen in einen Klub, dem Berühmtheiten angehören wie "Froms Gambit"-Erfinder Martin Severin Janus From (1828-1895), das hat ChessBase-Autor Dr. René Gralla vom kreativen Juristen aus Heilbronn wissen wollen.
Ulrich Gass beim Simultan in Mainz gegen Vishy Anand
DR. RENÉ GRALLA: Sie haben den Traum eines jeden Schachspielers wahrgemacht: eine Spur in der Schachgeschichte zu hinterlassen!
ULRICH GASS: Allerdings eine bescheidene Spur, aus meiner Sicht. Eigentlich war das mehr ein Studentengag, als Ausdruck meiner taktischen Neigung, um für ungewöhnliche Bilder auf dem Brett zu sorgen.
Wann war die Premiere?
Das muss wohl Anfang der 70-er Jahre gewesen sein, genau kann ich das nicht mehr sagen.
Das Gambit ist ziemlich gewagt. Sie bieten dem Gegner an, sich gleich zu Anfang einen Ihrer wichtigen Zentralbauern zu schnappen!
Dieses Gambit ist sicher wohl nicht ganz korrekt, das gebe ich zu, aber Sie dürfen den Überraschungseffekt nicht unterschätzen. Und Sie erreichen auf diese Weise sehr schnell äußerst scharfe Stellungen, in denen es dann entscheidend darauf ankommt, wer besser kombiniert.
C. Schulz - U. Gass
Tübingen 1972
1.e4 e5 2.Sf3 Lc5 3.Sxe5 Sc6 4.Sxc6 dxc6 5.c3 De7 6.f3 f5 7.d4 fxe4 8.dxc5 exf3+ 9.Kf2 Sf6 10.gxf3 0-0 11.Lc4+ Kh8 12.Te1 Dxc5+ 13.Dd4 Dh5 14.Lf4
14... Lg4 15.Te5 Dh3 16.Sd2 Tad8 17.De3 Sh5 18.Txh5 Lxh5 19.Le6 Txd2+ 20.Dxd2 Dxf3+ 0-1
Schulz gegen Gass zum Nachspielen...
In welchem Alter haben Sie Schach gelernt?
Leider sehr spät, während eines verregneten Urlaubs von meinem Bruder. Da war ich um die 14 Jahre alt, und eines meiner ersten Lehrbücher aus jener Zeit war "Eröffnungsfallen am Schachbrett", geschrieben vom russisch-französischen Meister Eugène Znosko-Borovsky.
Und jetzt haben Sie sogar eine eigene Falle kreiert ...
... um der historischen Genauigkeit willen möchte ich allerdings anmerken, dass diese Idee bereits vor gut hundert Jahren ein Herr Busch entdeckt hat ...
... der besagte E. Busch aus dem romantischen Mittelalterstädtchen Rothenburg ob der Tauber hat die erste Stammpartie des Busch-GASS-Gambits während des 15. DSB-Kongresses in Nürnberg, der vom 21. Juli bis 12. August 1906 stattfand, in der ersten Gruppe des Hauptturniers gewonnen, und zwar gegen den US-Amerikaner John Washington Baird. Der von der neuen Opfervariante offenbar völlig überraschte Verlierer J. W. Baird (1852-1923) war seinerzeit ein echter Promi, gehörte er doch mit seinem Bruder David Graham Baird (1854-1913) zur Gründergeneration des weltberühmten Manhattan Chess Club. Der kreative E.Busch wiederum hat in Nürnberg 1906 quasi auf Augenhöhe - wenn auch gewissermaßen im Fernduell - gepunktet mit Stars wie Tartakower, Johner, Treybal, Löwy und Köhnlein. Als Zweiter seiner Gruppe 1 - das Nürnberger Hauptturnier wurde 1906 in fünf Gruppen ausgetragen - kämpfte sich E. Busch nämlich in die Siegergruppe des Hauptturniers vor und erreichte den gleichen Level wie ein Tartakower, der damals in Gruppe 5 auch nur auf dem zweiten Rang hinter Treybal landete. Übrigens taucht in der Abschlusstabelle des 17. DSB-Kongresses Hamburg 1910 der Name E.Busch erneut auf: Der Mann erreichte im Hauptturnier A hinter dem Sieger Rotlewi und einem Eduard Lasker (Nr. 5) immerhin den geteilten 9./10. Platz im Verein mit Eugene Ernest Colman ...
Baird gegen Busch zum Nachspielen...
... das wusste ich natürlich nicht, als ich mir meine Opfervariante ausgedacht habe. Und weil ich nun mal der Erste gewesen bin, der das Gambit nach Herrn Busch wieder in die Praxis eingeführt hat, ist dafür jetzt offenbar der Begriff "Busch-Gass-Gambit" geprägt worden.
Nun sind Sie in eine Liga aufgestiegen mit Schachlegenden wie dem Dänen Martin Severin From, der im 19. Jahrhundert gegen die Bird-Eröffnung 1.f4 ... pp. das seitdem gefürchtete "Froms Gambit" 1. ... e5! ausgetüftelt hat. Was ist das für ein Gefühl gewesen, als Sie zum ersten Mal gehört haben, dass Ihr Gambit Marke Eigenbau künftig auch Ihren Namen trägt?
Dies lässt sich nicht vergleichen, weil "mein Gambit" keinen Eingang in die seriöse Praxis der Meister gefunden hat, sondern hauptsächlich meinem "Eigenverbrauch" in Blitz- und Open- Turnieren diente. Ich habe mich nicht einmal getraut, es in der Bundesliga anzuwenden.
Hat Sie das ein bisschen stolz gemacht?
Aus den oben genannten Gründen nicht besonders. Schachlich stolz bin ich allenfalls auf eine in jungen Jahre geglückte Mattkombination, die bei Chessbase als eine der besten aller Zeiten gelistet worden ist.
Wie können Sie das eigentlich miteinander in Einklang bringen, den zeitintensiven Beruf des Rechtsanwalts und das ebenfalls anspruchsvolle Schachspiel?
Das ist eigentlich auch nur am Anfang meiner beruflichen Karriere auf noch akzeptablem Niveau möglich gewesen. Meine Gegner in Bundesligakämpfen waren meist gut vorbereitet, während ich, um es überspitzt zu sagen, direkt von Gerichtsterminen zu Punktspielen hetzte. Damals - noch ohne Computervorbereitung - war es noch leichter, als kreativer Amateur hin und wieder mitzuhalten.
Trotzdem finden Sie noch Zeit, im Tenniszirkus mitzumischen. Sie zeichnen seit 1984 für das ATP-Turnier Heilbronn Open mitverantwortlich.
Das ist ein sogenanntes "Challenger"-Turnier, für aufstrebende junge Spieler mit einem Preisgeldfonds bis 150.000 Dollar. Ohne Überheblichkeit darf ich sagen, dass unser Turnier weltweit als eine der besten Veranstaltungen auf dieser Ebene gilt. Bei uns sind Topleute wie Michael Stich und Carl-Uwe Steeb mit ihren ersten internationalen Turniersiegen und selbst die wohl besten Spieler aller Zeiten, Roger Federer und Rafael Nadal, als damals noch "kleine Qualifikanten" durchgestartet.
Schach und Tennis, und ausgerechnet diese beiden gegensätzlichen Sportarten kombinieren Sie obendrein in einem verrückten Duathlon. Wie sollen wir uns das vorstellen?
Exweltmeister Boris Spassky, den ich aus der Schachbundesliga kenne, ist ebenfalls Tennisfan, er schlägt eine schöne beidhändige Rückhand. Und so haben wir beide Mitte der 90-er Jahre beschlossen, bei einem Schach-Tennis-Duathlon in Zürich teilzunehmen. Das Turnier war damals sehr stark besetzt und galt als inoffizielle Weltmeisterschaft. Tennis wird als Doppel ausgetragen, begrenzt auf jeweils acht Spiele pro Match, danach geht es mit den gleichen Gegnern zu den Blitzpartien, Spassky natürlich an Brett 1. Für mich war dies gar nicht so einfach, wenn man als "normaler Patzer" den kritischen weltmeisterlichen Blick im Nacken verspürt. Ich bin wohl dennoch über mich hinausgewachsen und wir erzielten beide im Schach jeweils 7 Punkte aus 8 Partien, während wir im Tennis nur einmal mit 4:4 Federn lassen mussten, was die Basis für unseren klaren Turniersieg war. Mit Boris Becker hätte ich angesichts dessen bescheidener Schachstärke wohl nicht gewonnen, so dass die Wahl mit dem "Schachboris" richtig war. Beim diesjährigen internationalen Duathlon im Schweizer Biel habe ich zusammen mit dem ehemaligen Vize-Präsidenten des Deutschen Schachbundes, Dr. Matthias Kribben aus Berlin, trotz einer Schulterverletzung den dritten Platz geschafft.
Während der Chess Classic 2010 in Mainz sind Sie zuerst im Simultankampf gegen Weltmeister Viswanathan Anand angetreten und anschließend bei der Schnellschach-WM gestartet. Ihr famoses Busch-Gass-Gambit ist dabei aber nicht zum Einsatz gekommen. Warum?
Die Erklärung ist ganz einfach: Mir fehlte schlicht und ergreifend die Gelegenheit, weil alle Welt mit Weiß d4 oder c4 gegen mich spielte. Wobei Anand mich mal wieder sehr konzentriert behandelt und einen tödlichen Angriff gegen meinen königsindischen Aufbau zelebriert hat.