Ein mörderisches Rätsel

von André Schulz
28.07.2023 – Raymond Keene ist in der englischen Schachfamilie eine feste Größe, führte Schachkolumnen im Spectator, in The Times und in der Sunday Times und hat unzählige Bücher veröffentlicht. Auf The Article veröffentlichte er vor einigen Wochen einen Artikel über sein gruseligstes Schachrätsel - bis heute nicht vollständig gelöst.

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Der englische Großmeister Raymond Keene, zudem ein bekannter Buchautor und Kolumnist der Times, berichtet in einem Beitrag auf der Webseite "The Article", schon im vergangenen Februar, von der ungewöhnlichsten Schachaufgabe, die ihm jemals untergekommen ist.

Mitte 1990 wurde Keene von einem Detective Superintendent Roy Fletcher von der Lancashire Polizeistation kontaktiert, der den Schachgroßmeister um Hilfe bei der Lösung eines Kriminalfalles bat, der im Zusammenhang mit einer Schachaufgabe stand. Die Polizei hatte einen Computerexperten aus East Sussex verhaftet, der im Verdacht stand, seine Freundin, die 43-jährige Therese Clare Terry, ermordet zu haben, um an ihre Ersparnisse in Höhe von 27.000 Pfund zu kommen. Die Leiche hatte der Mann im Januar 1990 an einem unbekannten Ort in Südirland vergraben.

Nach der Verhaftung war der Mann im Prinzip geständig, wollte aber nicht verraten, wo er die Leiche der Ermordeten vergraben hatte. Stattdessen malte er in seiner Gefängniszelle eine Arte Schachdiagramm und notierte ein paar Schachzüge als geheimnisvollen Hinweis auf die Stelle, wo er sein Opfer vergraben hatte. Aus diesem Grund suchte die Polizei einen Schachexperten, der ihnen bei der Lösung des Rätsels vielleicht helfen konnte.

Die Polizei schickte Keene die Aufzeichnungen per Fax. Das vermeintliche Diagramm war dann eher eine Landkarte mit dem Titel "Gebiet für das Spiel". Auf einem zweiten Blatt mit dem Titel "Zeitplan für das Spiel" waren Züge notiert, die keinen Sinn zu machen schienen, berichtete Raymond Keene. Der Bezug zum Schach war eher vage, aber durch die Abbildung von Schachfiguren doch gegeben. Keene dachte zuerst, dieses Rätsel sei für ihn unlösbar, doch dann erinnerte er sich an eine Sherlock Holmes Geschichte, wodurch ihn der Ehrgeiz packte. Merkwürdigerweise schienen die notierten Züge alle von der schwarzen Seite gespielt worden zu sein, was Keene an eine Szene aus Lewis Carolls "Alice hinter den Spiegeln" erinnerte, wo die Heldin in eine von Schachfiguren bevölkerte Spiegelwelt gerät. Das Motiv des Spiegelbildes schien bei der Lösung des Rätsels eine Rolle zu spielen. 

Keene vermutete, dass die abgebildeten Schachfiguren den reellen Personen des Dramas zuzuordnen waren. Außer dem vermeintlichen Täter (Schwarzer König) und seinem Opfer (schwarze Dame) spielte auch der Bruder des mutmaßliche Täters (schwarzer Bauer) eine Rolle.

In den Aufzeichnungen gab es zudem einen weißen König und einen weißen Bauern und Keene vermutete, dass die Gegenspieler des mutmaßlichen Täters die Polizei sein könnte. Zwischen die Figuren hatte der Verdächtige Vektorenzeichen notiert, die für Bewegungen der Figuren (Personen) stehen könnten, vermutete Keene.

Verbunden mit der Landkarte machten die Züge plötzlich Sinn, denn tatsächlich lokalisierten sie die handelnden Personen, den mutmaßlichen Täter und das Opfer, korrekt nach East Sussex und nach Preston. Diese und weitere Orte in Irland, Dublin und Cork, hatte der mutmaßliche Täter mit Nummern versehen. Der Verdächtige hatte dabei ein Schachbrett auf die Landkarte von Irland projiziert und die Züge in der alten, inzwischen ungebräuchlichen beschreibenden englischen Notation aufgeschrieben, also z.B. KN–B3 für den Zug Sf3 und ebenfalls KN–B3 für den schwarzen Zug Sf6. Das Brett wird bei dieser Schreibweise virtuell gespiegelt.

Keene verband die notierten Züge nun mit dem Zeitplan, der neben den Zügen notiert war, und teilte seine Entschlüsselung dem ermittelnden Beamten Detective Superintendent Roy Fletcher mit.

Demnach hatten sich die Ereignisse so abgespielt:

Donnerstag, 18. Januar: Der Bruder des mutmaßliche Täters reist von London nach Dublin, das Opfer reist von Preston nach London, der Verdächtige reist von Seaford nach London.

Freitag, 19. Januar: Der Verdächtige und das Opfer reisen von London nach Dublin. 

Samstag, 20. Januar: Der Verdächtige und das Opfer benutzen die Kreditkarte des Opfers, um Bargeld abzuheben und ein Auto zu mieten. Die Polizei bestätigte später, dass es in diesem Zeitraum sechs Visa-Kartentransaktionen gab.

Sonntag, 21. Januar: Der mutmaßliche Täter und sein Bruder fügen dem Opfer schweren Schaden zu. Die Kreditkarte wird erneut verwendet.

Montag, 22. Januar: Der mutmaßliche Täter und sein Bruder verwenden die Visa-Karte zum fünften Mal, um Bargeld zu erhalten. Der Verdächtige und das Opfer (evtl. schon tot) fahren nach Limerick oder in die Nähe.

Dienstag, 23. Januar: Der Verdächtige kehrt nach Dublin zurück und verwendet die Visa-Kreditkarte zum sechsten Mal. Das gemietete Auto wird zurückgegeben. Der mutmaßliche Täter und sein Bruder kehren von Dublin nach London zurück.

Mittwoch, 24. Januar: Das Spiel ist zu Ende.

Die Polizei nahm diese Expertise entgegen und informierte Keene, dass sich diese mit ihren eigenen Ermittlungen deckte. Das Grab des Opfers war aber noch nicht gefunden. 

Detective Superintendent Roy Fletcher musste bald darauf jedoch aus gesundheitlichen Gründen aus dem Polizeidienst ausscheiden. Der Fall wurde nun von seinen Nachfolgern sehr nachlässig behandelt und aufgrund von Verfahrensfehlern kam es nie zu eine Anklage. 

In seinem Artikel fordert Raymond Keene seine Leser auf, mit den vorhandenen Hinweisen und modernen Techniken nach dem Grab zu suchen und Licht in dieses über 30 Jahre alte Rätsel zu bringen. In seinem Beitrag findet man auch ein Bild des Schachrätsels, so wie es der Verdächtige damals hinterlassen hat.

Raymond Keenes Beitrag in The Article...


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.