Ein Blick auf die Elo-Zahlen 2021
Das schrittweise absenken der Mindest-Elo im Zeitraum 2001-2012 war von Ratingkonferenzen und öffentlichen Diskussionen über den geeigneten K-Faktor für Jugendliche begleitet, man findet dazu noch mehrere Artikel im Internet. Will man heute im Jahr 2021 erfahren, wie sich die damaligen Änderungen bewährt haben, so tut man sich bei der Suche nach Antworten schwer. Nur weil das Thema aus der Öffentlichkeit geraten ist, konnte ich als Nicht-Fachmann vor zwei Jahren dazu einen Artikel schreiben.
In der Zwischenzeit kontaktierte ich einige Fachleute die an der eingangs erwähnten Diskussion teilgenommen hatten. Die zuständige Qualification Commission der FIDE sieht keine Möglichkeit gegenzusteuern wenn es in Ländern zu einer Art Inselbildung der dortigen Elo-Träger kommt. Der indische Schachverband schweigt. Nur Jeff Sonas, der frühere Verfechter einer Elo-Inflation, sieht mittlerweile ebenfalls einen deflatorischen Effekt „… da die jüngeren/schwächeren Spieler nun die Jahre ihres Spielstärke- Anstiegs innerhalb des Rating Pools verbringen“.
Da aber das Thema weiterhin brach liegt, will ich hier meinen vorherigen Bericht ergänzen, und versuchen den Rating Pool mit Grafiken transparenter zu machen. Das Elo-System hat sich seit vielen Jahren bewährt, vorliegende Suche nach Ungleichgewichten ist nicht als Kritik gedacht, sondern stellt die Frage, ob die hier aufgezeigten Entwicklungen mehr Aufmerksamkeit verdienen.
Vielleicht wird in diesem Bericht dem Verhältnis Anzahl Jugendlicher zur Anzahl Erwachsener eine zu große Bedeutung beigemessen, dies vielleicht weil … der damals 12 jährige Vardaan Nagpal war mein erster Gegner in Indien. 3 Jahre später kam er nach Europa und es ging für ihn direkt in den Elo-Himmel. Sein Rating stieg in 2 Monaten von 2015 auf 2501! Derartige Fälle führten dazu, dass man in der Folge den K-Faktor für Jugendliche von der Anzahl der im Bewertungszeitraum gespielten Partien abhängig machte. Ich dagegen hatte 3 Jahre später bei meinem 2.Turnier in Indien einen unglücklichen Turnierstart und kam in die Elo-Hölle. Genauer gesagt in die Jugendabteilung von Chennai.
Die Spielerdaten stammen aus dem FIDE-Downloadbereich, die Statistiken basieren auf den Januar-Listen des jeweiligen Jahres. Im Spielerverzeichnis stehen weltweit etwa 8500 Spieler mit einer Elo-Zahl aber ohne Geburtsjahr, diese konnten bei altersabhängigen Statistiken nicht berücksichtigt werden.
Lassen sie sich nachfolgend durch das sinkende Elo-Gesamtniveau nicht verwirren! Denn durch die abgesenkte Mindest-Elo haben sich natürlich auch die Durchschnittswerte abgesenkt, allein in den letzten 10 Jahren um etwa 300 Punkte. Das hat nichts mit Deflation zu tun!
Kann man aber bei den Elo-Zahlen von Inflation oder Deflation sprechen, wenn sich das Niveau der Top100 ändert? Ich halte es da mit dem polnischen GM Bartlomiej Macieja, der bei der FIDE Ratingkonferenz 2010 meinte „Ich möchte messen was mit Bewertungen von Spielern passiert, die ihr Niveau halten. Wenn ihr Rating steigt, nenne ich es Inflation, wenn ihr Rating sinkt, nenne ich es Deflation.“
Die Auswirkung des reduzierten Spielbetriebes 2020/2021
Der eingeschränkte Spielbetrieb hat vor allem die Schachprofis in arge Bedrängnis gebracht. Die Auswirkung auf die Jugend lässt sich über die Mitgliederzahlen zeigen. In den letzten Jahren bekamen weltweit jedes Jahr etwa 15000 U18-Jugendliche erstmals eine Elo-Zahl. Obwohl am Jahresende immer ein ganzer Jahrgang die Altersgrenze überschreitet und aus der U18-Gruppe fällt, stieg die Anzahl der U18 Elo-Träger stetig an. Der Januar 2021 zeigt jetzt erstmals einen Rückgang, da es 2020 in dieser Altersgruppe etwa 11000 weniger Neuzugänge gab als in den Vorjahren (Diagramm1). Da nur das Geburtsjahr vorliegt, wird hier versucht, den Rückgang an Neu-Einsteiger in 2021 durch einen Vergleich April 2020 mit April 2021 abzuschätzen. Im gesamten Zeitraum des reduzierten Spielbetriebs vom Februar 2020 bis Mai 2021 dürften etwa 14000 weniger Jugendliche eine Elo-Zahl erhalten haben, als wenn der Trend der Vorjahre fortgeführt worden wäre. In Anbetracht des boomenden Online-Schachs könnte dieser Mitgliederschwund schnell ausgeglichen werden, wenn sich die Lage wieder normalisiert.
Die temporäre Verlängerung des aktiv-Status auf 24 Monate führte 2021 zu einer Erhöhung der Anzahl „aktiv“-Spieler, so dass obige Statistik für Spieler mit Status „aktiv“ keine Aussagekraft hätte. Zählt man die U18 jeweils am Jahresende, so liegen die Zahlen höher (Jan2019=69977, Dez2019=84790).
Offenbar nutzen die Jugendlichen vermehrt die Möglichkeit durch die niedrige Eintrittsschwelle eine Elo-Wertung zu bekommen, wodurch das Elo-Niveau der U18 seit Jahren sinkt.
Um diesen überlagernden Effekt eines sich absinkenden Gesamtniveaus während eines Jahresverlaufs herauszufiltern, werden in Tabelle 2 nur die Spieler betrachtet, die am Jahresbeginn mit „aktiv“-Status in der Liste stehen. Für diese Spieler ergibt sich jeweils nach 12 Monaten im Schnitt folgende Elo-Änderung:
Da seit März 2020 die Spielstärke der meisten Jugendlichen kaum „gemessen“ wurde, dürfe eine Lücke zwischen Spielstärke und der Elo-Zahl entstanden sein. In der 60+ Altersklasse hat das Einfrieren der Elo-Zahl 2020/2021 dagegen zu einem geringeren Rückgang geführt, als statistisch zu erwarten wäre.
Der aktiv-Status und inaktiv-Status im Rating Pool
In der FIDE-Ratinglist vom Januar 2021 stehen 362 000 Spieler. Davon haben 188 000 den aktiv-Status. „aktiv“ bedeutet normalerweise dass diese Spieler in den letzten 12 Monaten mindestens eine Elo-Auswertung hatten. Da aber 2020 nur wenige Nahschach-Turniere stattfinden konnten, wurde die Bedingung für den aktiv-Status im November 2020 vorübergehend auf 24 Monate erhöht.
Im Pool der inaktiv-Spieler findet man unterhalb der Titelträger noch Spieler, die schon vor Jahren verstorben sind, da bedarf es wohl einer Bereinigung. Die offiziellen Weltranglisten berücksichtigen nur Spieler mit aktiv-Status. Da über den inaktiv-Block wenig bekannt ist, hier eine Gegenüberstellung aktiv-inaktiv. Der inaktiv-Block hat eine geringere statistische Aussagekraft, da die Spieler sich dort jährlich aufsummieren, bei einem Durchschnittsalter von 39,6 Jahren ist ein Teil wohl nur temporär inaktiv!
Durch die Absenkung der Mindest-Elo sinkt natürlich das Gesamt-Niveau, dies hat nichts mit Deflation zu tun! Es wurde lediglich das Fenster auf die weltweite Schachgemeinde weiter geöffnet.
In Diagramm2 fällt die starke Zunahme der jugendlichen Elo-Träger auf, die später zum Teil wieder inaktiv werden, sei es mangels Turniererfolge oder weil später Familie und Beruf den Vorrang bekommen. Bei den Spielern mit Status „inaktiv“ ist zu bedenken, dass einige davon schon lange inaktiv sind und damit ihr Rating eingefroren haben, so dass das normale Absinken der Elo im Alter nicht erfolgte.
Die Bildung isolierter Gruppen im Rating Pool
Die Gruppe der Profis und Halbprofis ist weniger an Landesgrenzen gebunden, spielt daher viel untereinander. Die FIDE fördert diese Vermischung ja auch in den Regeln zur Erringung von Titelnormen.
Mit der Ausbreitung auf mehr Länder und Altersgruppen hat jedoch unvermeidbar die Bildung isolierter Bereiche zugenommen. Allerdings zeigen die Erfahrungen, dass es in solch isolierten Gruppen eher zu einer Unterbewertung der Jugendlichen kommen kann.
Siehe hierzu auch die kürzlich veröffentlichte Elo-Auswertung von Jugend-WMs.
Eine freiwillig isolierte Gruppe ist im Seniorenschach entstanden, vor allem in Deutschland, wo sich eine Turnierszene gebildet hat, in der Senioren untereinander spielen, in Gruppen von 60+ und 65+. Werden von Senioren vorwiegend solche Elo-gewerteten Turniere gespielt so sinkt trotz zunehmenden Alters das Elo-Niveau dort nicht (Diagramm 4). Ich nehme daran selber gerne teil, wie viele andere aber nicht nur weil die Elo-Zahlen auf einem „freundlichen“ Niveau sind. In Anbetracht der weltweiten Bevölkerungsentwicklung wird das Seniorenschach an Bedeutung gewinnen.
Zur Gruppe der freiwilligen Ausgrenzung zählen auch Länder deren Turnierszene sich größtenteils außerhalb des Elo-Pools abspielt. Voraussetzung hierfür ist ein eigenes System der Spielstärkebewertung. Der Vorteil nationaler Ratingsysteme ist deren Flexibilität, sie sind eher an die Besonderheiten des jeweiligen Landes angepasst. Hier ein paar Beispiele:
USA: Im Jahr 2020 hatte der US-Schachverband 93000 Mitglieder, die dortige Schulschach-Szene boomt, dennoch hat die USA nur 6701 Spieler mit einem Elo-Rating der FIDE. Der US-Schachverband hat seit 1960 ein eigenes von Arpad Elo entwickeltes Rating System, das 1970 von der FIDE übernommen wurde. Seither haben sich die zwei Varianten auseinanderentwickelt, das USCF-Ratingsystem gilt als komplizierter. Erwähnt sei eine Besonderheit die zur Absicht des vorliegenden Artikels passt: Wenn US Jugendliche ein FIDE-Jugendturnier spielen bekommen sie bei der Übernahme ihres Turnierergebnisses in ihre USCF-Elo einen Aufschlag. Je niedriger ihre Turnier-Performance desto höher der Aufschlag bei der Umrechnung in eine USCF-Performance. Man geht also davon aus, dass z.B. bei einer Jugend-WM die nach Elo bewertete Jugend gegenüber dem USCF-Rating unterbewertet ist.
China: In der englisch-sprachigen Wikipedia findet man den Artikel chess in China, der einen Überblick über die Entwicklung des Schachs in China gibt. Nicht ganz überraschend gibt es da „the big dragon project“, hinter dem sich eine langfristige Zielsetzung verbirgt. Die Organisation basiert auf Schachakademien in denen landesweit über 1000 Schachtrainer tätig sein sollen. Eine ähnliche nicht vereinsbasierte Struktur habe ich auch in Malaysia vorgefunden. Die Website der Chinese Chess Association (CCA) ist komplett auf Chinesisch.
England: Eine starke Ländermannschaft, aber nur 3614 Elo-Träger? Die English Chess Federation (ECF) hat etwa 12400 Mitglieder. Brian Valentine, der Rating Manager der ECF schrieb mir über die Besonderheiten der englischen Schachszene. Demnach gründet sich diese auf eine Tradition des Feierabend-Schachs in der Wochenmitte, mit Ratings unter 1000 und Bedenkeiten die nicht immer den FIDE-Vorgaben entsprechen. Dies wird vom lokalen Rating System abgedeckt, um lokale Spieler anzulocken, die kein Interesse an einer internationalen Bewertung haben. An den Wochenenden gibt es dann auch Turniere mit Elo-Wertung.
Deutschland: Der Deutsche Schachbund (DSB) meldet Anfang 2021 knapp 90000 Mitglieder, mit etwa 7500 Frauen und 24500 Jugendliche. Im DSB gibt es schon seit 1948 ein eigenes Rating System (Ingo), das 1993 von der DWZ (Deutsche Wertungs Zahl) abgelöst wurde. Die DWZ ist betragsmäßig mit der Elo-Zahl vergleichbar. Der Großteil der Jugendlichen hat eine DWZ unter 1000, die werden im nachfolgenden Diagramm nicht berücksichtigt! Ebenso nicht die Spieler die zwar in deutschen Vereinen spielen aber für eine andere Schachnation spielberechtigt sind.
In Diagramm 3 sieht man links die etwas eigenwillige Altersstruktur der deutschen Schachspieler. Da es meist die besseren Spieler zu einer Elo-Zahl brachten, liegt deren Elo-Niveau (Status=aktiv&inaktiv) deutlich über der DWZ.
Im Diagramm4 erfolgt der Vergleich DWZ und Elo nur mit den Spielern, bei denen über die FIDE-ID eine Zuordnung zur Elo-Zahl erfolgen kann (betrifft ca.20700 von den 27106 deutschen Elo-Trägern). Hier ergibt sich bis zum Alter von 25 Jahren eine gute Übereinstimmung beider Wertungs-Systeme.
In der DWZ gibt es einen Jugend-Beschleunigungsfaktor, ein gestuftes Anheben der ersten Ratingzahl, wenn unter 1000, einen altersunabhängigen Bremsfallschirm – alles um dem schnellen Spielstärkezuwachs in der Jugend gerecht zu werden. Ein Anheben des Start-Ratings für Neueinsteiger findet man auch im englischen Wertungssystem.
Man kann ja den Eindruck haben, dass hohe FIDE-Gebühren ein Hindernis bei der Verbreitung der Elo-Zahlen sind. Hieran haben auch nationale Verbände ihren Anteil. Wird in Deutschland ein Elo-gewertetes Open veranstaltet, so sind vom Veranstalter für die Elo-Auswertung je Spieler 3 Euro zu zahlen. Davon geht allerdings nur 1 Euro an die FIDE!
Das wohl einzig echte Problem, das infolge isolierter Gruppen entstanden ist, sind jene Länder, in denen es in den letzten Jahren zu einem Schach-Boom kam und die zuvor nur eine kleine Schachszene hatten. Die herabgesetzte Mindest-Elo und eine aktive inländische Turnierszene ermöglicht es nun vielen Jugendlichen eine Elo-Zahl zu erwerben. Im Gegensatz zu Deutschland mangelt es in einigen dieser Länder aber an Erwachsenen Schachspielern (K=20), die gebraucht werden damit die Jugend(K=40) ihr Elo-Niveau steigern kann. Und oft auch der Austausch mit dem Ausland, der in den niedrigen Spielklassen fast völlig fehlt. Nachfolgend eine Betrachtung der Länder mit den meisten Elo-Trägern und deren Jugendanteil.
Die Länder mit den meisten Elo-Trägern sind Russland, Indien, Deutschland, Spanien und Frankreich. Etwa 60% der Elo-Träger sind Europäer. Auffällig ist die geringe Verbreitung in den USA und China. Eine starke Zunahme an Elo-Trägern sieht man auch in der Türkei (8414) und dem Iran (9719), die nach U18-Anteil auf Platz 5 und 6 liegen, vor Polen und Deutschland. Überraschend ist auch, dass Spanien und Frankreich die weltweit meisten Elo-Träger mit „aktiv“-Status haben!
China wird hier nicht aufgeführt, da deren hoher Jugendanteil wegen der geringen Anzahl an Elo-Trägern keine Aussagekraft hat. Russland hat einen höheren Jugendanteil als Indien!!
Zu erwarten wäre ein Spielstärkeanstieg bis ins Alter von 25-30 Jahren, dann seitwärts, dann abwärts.
Nachdem Frankreich und Spanien in den Top10 mit Deutschland gleichgezogen haben, überrascht der Abstand im Gesamtniveau. Dies könnte an der DWZ-Alternative liegen, hätte Deutschland mehr Elo-Träger so würde auch der Elo-Ø sinken.
Aber auch ein Laie erkennt im Diagramm 7, dass der Anstieg in Indien weniger dynamisch verläuft und deutlich früher endet. Falls dies eine Folge des hohen Jugendanteils in Indien ist, warum zeigt sich dann nicht Ähnliches in Russland? Vielleicht sind solche altersabhängige Durchschnittswerte nicht geeignet um daraus Ursachen abzuleiten, denn auch hier gilt es zu bedenken, dass je tiefer die ausgewerteten Spielklassen liegen, desto mehr sinkt das Gesamtniveau.
Der Einfluss der Mindest-Elo und des K-Faktors auf die Elo-Zahlen Jugendlicher
Vorliegender Bericht ist eher Handwerk, Zahlen addieren und Durchschnitte bilden. Wer es gern wissenschaftlicher mag dem sei das Papier „Understanding Distributions of chess Performances“ (von Regan, Macieja, Haworth) empfohlen. Hier wurde bereits 2011 vorausgesagt, dass die Anzahl der Spieler mit Elo>2200 weltweit kaum noch ein Anstiegs Potential hat. Dies basierte auf einem Modell zur Prognose des Bevölkerungswachstums, bzw. des Wachstums allgemein in der Biologie. Tatsächlich verblieb seither die Anzahl der Spieler mit Elo>2200 knapp unterhalb 21000 (aktiv & inaktiv). Wie sieht das bei den Jugendlichen aus?
Tabelle 3 zeigt nochmals die bereits zuvor betrachteten Länder, jeweils mit der U18-Gesamtanzahl und der Anzahl an Jugendlichen, denen es gelang die Elo-Grenze von 2000 zu überschreiten. Der hier gewählte Schwellenwert >2000 entspricht etwa der Mindest-Elo von 1993-2001.
Das zahlenmäßige Hoch an U18-Spielern mit Elo>2000 lag ungefähr im Jahr 2005.
Fragt man sich, warum sich die Anzahl dieser Spieler bis 2014 deutlich reduzierte, so drängt sich als Ursache das 2001 begonnene Absenken der Mindest-Elo auf. Hatten diese Jugendliche zuvor hauptsächlich Erwachsene als Gegner so kommt es nun vermehrt zu Begegnungen der Jugend untereinander. Die Bewertung der Jugend zeigt naturgemäß den Spielstärkeanstieg zeitverzögert. Spielen Jugendliche Elo-Träger gegeneinander, so verfestigt sich diese Zeitverzögerung eher.
Dieser Entwicklung wurde 2014 mit der Erhöhung des K-Faktors für Jugendliche auf K=40 entgegen gewirkt. Seither erholen sich die Werte wieder, bleiben bisher aber unter der Anzahl von 2005.
Sehr auffällig ist der starke Rückgang in Russland an U18-Spielern, die die Elo-Schwelle von 2000 überschreiten konnten. Als einziges Land zeigt in Tabelle 3 die USA einen stetigen Zuwachs, das hat wohl nichts mit den 40 chinesisch klingenden Namen in den Top100 der US-Jugendlichen zu tun, sondern mit einem niedrig bewerteten Elo-Niveau in den USA.
Gibt es eine Deflation oder eine Inflation?
Der Rating Pool stellt ein geschlossenes System dar, was der Eine gewinnt verliert der Andere. Eine inflationäre Wirkung entsteht wenn man den Pool mit einer Start Elo betritt die über der eigenen Spielstärke liegt, oder wenn man den Pool mit einer niedrigeren Elo-Zahl verlässt als wie man diesen betreten hat, oder wenn ein Spieler mit dem höheren K-Faktor als sein Gegner seine Performance Erwartung übertrifft. Eine deflationäre Wirkung entsteht jeweils im gegenteiligen Fall. Oder einfacher ausgedrückt, führt man dem Pool Punkte zu entsteht Inflation, entzieht man Punkte entsteht Deflation.
Das Verlassen des Rating Pools liegt altersbedingt für die meisten Elo-Träger in ferner Zukunft. Daher bekommen Start-Elo und Gegner mit unterschiedlichem K-Faktor eine größere Bedeutung um das System im Gleichgewicht zu halten. Wie man in Tabelle 2 sieht liegt das Elo-Niveau der Inaktiven etwa ab einem Alter von 30 über dem Niveau der Aktiven. Es ist ein menschliches Verhalten dass man mit einer Art von „Window Dressing“ inaktiv wird. Deshalb werden hier bei der Frage nach Inflation/Deflation nur Spieler mit Status=aktiv berücksichtigt. Streng genommen müsste man wohl den Teil der „temporär Inaktiven“ auch berücksichtigen.
Das Thema Inflation wird im Zusammenhang mit den Elo-Zahlen etwas oft thematisiert. Wer würde im 100m-Lauf von Inflation sprechen nur weil es heute mehr Läufer gibt die diese Strecke unter 10sec laufen? In der Leichtathletik spricht man von einer Professionalisierung des Sports. Auch im Schach zeigt sich im Elo-Bereich 2600-2699 eine noch immer steigende Zahl an Spielern (2002=86, 2021=210). Bedenkt man die Millionen an Mitgliedern die chess.com meldet, so überrascht eher, dass alle anderen Bereiche über 2100 bei Status=“aktiv“ eine stagnierende bis rückläufige Anzahl an Spielern zeigen.
Stellt man sich den gesamten Elo-Bereich als Band vor, das an dem einen Ende bei Elo=1000 und an dem anderen Ende bei Elo=2900 gehalten wird, so dünnt sich weltweit bei den aktiv-Spielern dieses Band etwa im Bereich 2100-2400 aus, d.h. die Anzahl der Spieler hat in diesem Bereich in den letzten Jahren abgenommen. Bei den Frauen geschah dies im Bereich 2000-2300, bei den Jugendlichen im Bereich 1800-2100.
Ein Versuch auf Deflation/Inflation zu prüfen:
Spieler die 2015 im Alter von 25-30 Jahren sind und Status=aktiv haben, sollten in den folgenden 5 Jahren ihre Spielstärke halten können. 2020 sind das in Tabelle 4 also dieselben Spieler, nur 5 Jahre älter.
Wie hat sich deren Elo-Ø in diesen 5 Jahren geändert?
In Tabelle 4 haben alle Spieler des Jahres 2015 den Status=aktiv, im Jahr 2020 ist deren Status dann egal, sie müssen nur noch in der Liste stehen. Würde man nur die Spieler betrachten, die sowohl im Jahr 2015 als auch im Jahr 2020 den aktiv-Status haben, so verstärken sich obige Tendenzen!
Der deutliche Rückgang bei den Frauen überrascht. 2020 gibt es weltweit 17362 Frauen mit Status=aktiv, davon sind 59,8% U18-Jugendliche! Neben dem hohen Jugendanteil gibt es bei den Frauen noch eine zweite Parallele zu Indien - ein ungewöhnlich hoher Anteil an niedrig bewerteten Spielerinnen.
In den letzten 5 Jahren hat sich im Elo-Bereich 1000-1500 die Anzahl der Elo-Träger auf etwa 120.000 verdreifacht. Größe und Veränderung dieser Zahl ist vielleicht bedeutungslos, entscheidend ist die Frage ob hier Spieler mit einem zu niedrigen Rating beginnen?
Zusammenfassung
Der Blick auf die fünf Schachnationen mit der höchsten Anzahl an Elo-Trägern zeigt viel Individualität.
Wenn schon bei 5 Nationen solche individuellen Unterschiede sichtbar sind, wie ist das dann erst weltweit? Es geht nicht um die Einebnung der Unterschiede, denn Individualität und gerechte Bewertung können ja nebeneinander existieren. Überlagernde Effekte lassen diese oder jene Deutung zu. Was bedeutet dann "gerechte Bewertung"? Im ersten Schritt wohl "diese oder jene Deutung" zu untersuchen und vielleicht auch öffentlich zu diskutieren, damit daraus abgeleitete Maßnahmen verständlich werden. Dazu gehören auch unbequeme Fragen wie "… warum werden Spieler inaktiv?" oder: "Dient es der Verbreitung der Elo-Zahlen, wenn Schachnationen an den Elo-Gebühren mitverdienen?", oder auch: "Nimmt durch das Internetschach der Abstand zwischen Spielstärke und Elo-Zahl zu?" und: "Welchen Einfluss hat ein hoher Jugendanteil?"
Die Jugend war nicht von Anfang an im Rating Pool, dieser Integrationsprozess bedarf evtl. weiterer Anpassungen. Sind die vielen Spieler im niedrigen Elo-Bereich korrekt eingestuft?
Sicher keine leichte Aufgabe für die FIDE. Diese sollte beim Rating System ihren Fokus auf die Schach-Elite hinterfragen und den Blick verstärkt auch auf die Basis richten. Wahrscheinlich tut sie dies auch, berichtet aber zu wenig darüber. Die regelmäßig veröffentlichten Ranglisten schaut man sich immer gern an. Dazu wären aber auch mehr Hintergrund-Informationen für die Allgemeinheit von Interesse. Was für eine Vision hat die FIDE bei der Verbreitung der Elo-Zahlen und welche Fortschritte und Hindernisse gibt es auf dem Weg eine möglichst gerechte Spielstärkebewertung zu erreichen?
Überbewertete und unterbewertete Spieler wird es immer geben. Die Freude am Schach sollte immer über der Elo-Zahl stehen!