Vom Weltmeister die Vision
Von Peter Münder
Emanuel Lasker (1868-1941), Schachweltmeister von 1894-1921, wäre am 24. Dezember
140 Jahre alt geworden. Der promovierte Mathematiker war nicht nur mit seinen
grandiosen Erfolgen gegen Capablanca, den Remis-König Carl Schlechter oder Wilhelm
Steinitz berühmt geworden, sondern auch mit seinen vielseitigen philosophischen
Essays. Dieser geniale Universalist, der mit Albert Einstein befreundet war,
wollte über den Rand eines 64-Felder-Bretts hinausblicken und eine neuartige,
"weiche" Spieltheorie inklusive harmonischer Völkerbund-Utopie entwickeln. Während
seine Schriften "Kampf" oder "Gesunder Menschenverstand im Schach" auch heute
noch bekannt sind, galt sein Drama "Vom Menschen die Geschichte" bisher weitgehend
als verschollen und verkannt. Nun gibt es eine Neuauflage des 1925 veröffentlichten
Werks - ein willkommener Anlaß, dieses bisher nie aufgeführte Stück unter die
Lupe zu nehmen.
Moskau 1925: Beim hochkarätig besetzten Großmeisterturnier hatte sich der 57jährige
Lasker in der ersten Runde gegen den Erzrivalen Capablanca mit einem Remis gut
behauptet, auch gegen den Österreicher Grünfeld erzielte er nach 99 Zügen ein
Remis. Gegen den Engländer F.D. Yates und den genialen Rubinstein gewann er
souverän, doch dann der völlig überraschende Einbruch gegen den jungen Mexikaner
Carlos Torre: In einer guten Stellung ermöglicht er Torre mit 23...Dd5 eine
brillante Kombination, die diesem den Sieg beschert.
Torre - Lasker, Moskau 1925, Stellung nach 23...Dd5.
24.Se3 Db5 25.Lf6! Dxh5 26.Txg7+ Kh8 27.Txf7+ Kg8 28.Tg7+ Kh8 29.Txb7+ Kg8
30.Tg7+ Kh8 31.Tg5+ Kh7 32.Txh5 Kg6 33.Th3 Kxf6 34.Txh6+ Kg5 35.Th3 Teb8 36.Tg3+
Kf6 37.Tf3+ Kg6 38.a3 a5 39.bxa5 Txa5 40.Sc4 Td5 41.Tf4 Sd7 42.Txe6+ Kg5 43.g3
1-0
Carlos Torre
Lasker beendete das Turnier zwar sehr erfolgreich als Zweiter hinter Bogoljubow,
doch viele Beobachter rätselten, weshalb der sympathische Deutsche während dieser
Partie gegen Torre plötzlich so fahrig und unkonzentriert wirkte - bis das Rätsel
schließlich gelöst war: Lasker war ganz überraschend ein Telegramm seines Bruders
Bertold übermittelt worden, das ihn völlig euphorisiert und abgelenkt hatte.
Er soll sogar aufgeregt im Turniersaal herumgelaufen sein, um anderen Teilnehmern
das vielversprechende Telegramm mit der freudigen Nachricht zu zeigen. Sein
Theaterstück, das er zusammen mit Bertold verfasst hatte, sollte nämlich in
Berlin aufgeführt werden - das wäre die Erfüllung seines größten Wunsches gewesen.
Emanuel Lasker (vorne) mit seinem älteren Bruder Bertold Lasker. Bertold
Lasker, von Beruf Arzt und kurze Zeit mit der bekannten Lyrikerin Else-Lasker
Schüler verheiratet, übte großen Einfluss auf Emanuel Lasker
aus. Bevor er sich auf seinen Beruf konzentrierte, gehörte Bertold zu den
besten deutschen Schachspielern der damaligen Zeit. Die beiden Brüder waren
sich stets sehr nahe und mit Sicherheit hat Bertold entscheidend zur schachlichen
Entwicklung seines jüngeren Bruders beigetragen.
Doch aus der Inszenierung seines Dramas wurde nichts. Das Stück hatte zwar Unruhe
in die Schachszene gebracht, wie der Herausgeber der Neuauflage Tim Hagemann
in seinem Vorwort betont, doch für ein markantes Signal in der deutschen Theatergeschichte
konnte es nie sorgen - bis heute blieb das Drama, dieses Lieblingsprojekt Laskers,
unaufgeführt.
Worum geht es in "Dem Menschen seine Geschichte? Warum lag Lasker dieses allegorische
Stationendrama über den Antagonismus von Macht und Ethos, an dem er zusammen
mit seinem Bruder Bertold sechs Jahre (von 1919-26) gearbeitet hatte, so sehr
am Herzen? Schon in seiner ersten philosophischen Arbeit "Kampf" (1907) war
ein wichtiges Leitmotiv der Lasker-Weltanschauung sichtbar geworden: Das Wesen
des Schachspiels wollte er auf andere Lebensbereiche als "Wissenschaft des Kampfes"
übertragen. Dafür schuf er den terminus "Machologie". Auch in den späteren Schriften
"Das Begreifen der Welt" (1913) und in "Die Philosophie des Unvollendbar" (1919)
versucht er, diese Theorie weiter zu systematisieren. Er bemüht mit Begriffen
wie "stratos" (Heer/Kampfeinheit) Rekurse auf optimale antik-griechische Militärstrategien,
doch tatsächlich, meint Tim Hagemann in seinem Vorwort, übertrage er lediglich
die optimale Position eines Springers vor einem Isolani auf aktuelle kritische
Situationen, wenn er konstatiere "die Punkte, auf die der Gegner einen kleinen
Druck ausübt, von denen aus aber ein Stratos eine starke Wirkung entfalten kann",
seien geeignete Stützpunkte des Stratos.
Lasker in seinem Element
Wahrscheinlich war Laskers Theorie einer allumfassenden spielerisch-kämpferischen
"Kampf-Philosophie" einfach zu rigide angelegt und zu weit hergeholt - ja die
Fachwelt ignorierte Laskers philosophische Schriften jedenfalls weitgehend,
obwohl er sogar Mitglied der Kant-Gesellschaft wurde, um an grundlegenden philosophischen
Diskursen teilnehmen und sich mit eigenen Beiträgen beteiligen zu können. Man
merkte seinen philosophischen Konstrukten wohl auch eine gewisse Künstlichkeit
und vom Schach allzu rigide und mechanistisch übernommene Pseudo-Gesetzmäßigkeit
an: "Das Schachspiel bildet stets den Ausgangspunkt seiner Betrachtungen - allzu
oft wird beim Schach Gültiges in Analogie zu allgemeinen Lebensverhältnissen
gesetzt, ohne dass es berechtigt wäre", schrieb GM Robert Hübner in seinem brillanten
Essay über Laskers Stilbegriff im Chessbase Magazin (No. 93, April 2003). Obwohl
Hübner die großen Turnier-Erfolge Laskers und seine intellektuelle Vielseitigkeit
bewundert, lehnt er dessen allzu schwammigen, deplazierten Stilbegriff - dazu
zählt er: Automatenstil, Kombinationsstil, fester Stil, Stil der Verlockung,
Stil nach Regeln des Kampfes - völlig ab und zieht schließlich ein kritisches
Fazit: " Lasker kommt keinen Schritt weiter, weil der von ihm gewählte Ansatz
verfehlt ist".
Robert Hübner ist skeptisch
Denn Stil und Technik, Strategie und Kombinationsstärke - all dies wollte Lasker
offenbar mit seinem diffusen Stilbegriff kategorisieren und analysieren. Widersprüche
und Zäsuren in Laskers Texten zur "Machologie" treten mit Ende des Ersten Weltkrieges
deutlicher hervor. Hatte Lasker noch in "Kampf" und der Streitschrift "Die Selbsttäuschung
unserer Feinde" (1916) eine militant-offensive Kampfstrategie propagiert, so
vertritt er schon im ersten Entwurf seines Dramas, das anfangs noch "Weh dem
Sieger!" (1919) hieß, eine auf Harmonie, demokratische Instanzen und Versöhnung
setzende Lebensphilosophie.
Es ist ein bunter Reigen von Symbolfiguren, die Lasker in seinem Stück durch
mehrere Epochen von der Urzeit über die griechische Antike und das Mittelalter
bis zur Jetztzeit und in die Zukunft führt. Ariwast ist die Inkarnation des
aggressiven Führers und Kämpfers, er polarisiert, ist auf Konfliktmaximierung
aus und versteht Gewaltvermeidung, Diskussionen und Harmoniebedürfnis als existenzgefährdende
Schwächen. Die Untertanen sind für ihn dumpfe Neandertaler und Befehlsempfänger,
die weder aufmucken noch selbständig denken dürfen. Aber auf der Hut sein vor
diesen unberechenbaren Horden muß man trotzdem: "Das Volk, die blinde Bestie,
muß man täuschen". Wido ist ein Gelehrter, der seine Fahne oft nach dem Wind
hängt, der Narr ist eher ein nachdenklicher Beobachter und Grübler, jedenfalls
kein Komiker. Der Wanderer ist ein sensibler, naturverbundener Beobachter. Sie
illustrieren eine Evolutionsgeschichte, die sich jedoch nicht lebendig, kontrovers
oder differenziert nachvollziehen lässt. Wir werden eigentlich nur mit Szenen
konfrontiert, die als Impressionen und Schnappschüsse einer jeweils neuen, bereits
abgeschlossenen Phase vorgeführt werden. Zum echten dramatischen Konflikt kommt
es nirgendwo- die Schwarzweißmalerei sorgt zwar für Kontraste, jedoch nicht
für eine bühnenwirksame Dramaturgie.
Kein Wunder also, dass Lasker sein Stück als eine Art pädagogisch wertvolles
Spiel verstanden hat. Schon im Vorspiel weist der Narr, der dem Sternenvater
"Vom Menschen die Geschichte" zeigen will, auf "ein lehrsam Spiel" hin, das
die Geschichte der Menschheit und wohl auch den entsprechenden Zivilisationsprozeß
(oder den einer unmenschlichen Barbarisierung?) exemplarisch illustrieren soll:
Narr:
Doch wüsste ich ein Spiel, ein lehrsam Spiel, das sich der Mensch ersonnen,
Darinnen weis´ ich Euch den Werdegang von diesem Kind
Mein Spiel führt bildhaft vor von Geist´ und Glaubens Drange die Entwicklung,
Wie er, gehüllt in Kreatürlichkeit
Aus kleinem Keime sprossend Heros wird
Die Erdenmutter ist eine besorgte Grüne, die bekümmert an einem Baum horcht,
um dessen Klagen zu hören, nachdem die Menschenkinder ihn verletzt haben. Skeptisch
beurteilt sie die menschliche Zukunft, während der Narr den Menschen zur Erkenntnis
führen will und sich davon Glück, Adel, Größe verspricht, die den Menschen trotz
aller Rückschläge erwarten. Das Eindimensionale, Holzschnittartige und Typisierte
der Figuren ist ebenso unübersehbar in diesem Lehrstück wie die meist hochtrabende,
gedrechselte Rhetorik. Der wie ein tumber Terminator tobende Ariwast prügelt
auf jeden ein, der ihm widerspricht, der Wanderer als Ariwast-Gegenpol ist dagegen
friedensbewegt und euphorisiert von der Aussicht auf eine Art Völkerbund mit
demokratischen Instanzen:
Wanderer:
Freiheit und Erlösung!
Frei ist das Leben, frei sind Geist und Wille,
Kein totes Uhrwerk dessen Lauf man kennt.
Zwangslauf ist Eines. Leben ist das Andere.
Als Ariwast seinen militanten Haudrauf-Kurs nicht länger durchsetzen kann, weil
seine aufgeklärten Kritiker ihn offen angreifen und die alten Feindbilder nicht
mehr gelten lassen, trifft ihn der Schlag und er "sinkt nach kurzer Raserei
tot zu Boden". Ein Happy End, das sicher gut gemeint ist. Denn nun können Demokraten
und Pazifisten sich zusammenschließen zu einer neuen, friedenstiftenden Weltregierung.
Doch die etwas plump gestrickte Dramaturgie und die simple Figurentypisierung
lassen wenig zu an differenzierten Dialogen oder an der Entwicklung der Figuren.
Es ist bezeichnend, dass allein die Szene im antiken Athen mit Platon, Protagoras
und Sokrates lebendig, locker und geistreich präsentiert und mit satirischen
Spitzen gewürzt wird - ein amüsanter Hochgenuß, der wohl auch demonstriert,
dass Lasker vielleicht ein rhetorisches Duell, wie das zwischen Sokrates und
Protagoras, neben dem Schach als Inkarnation höchster Streitkultur gelten lässt.
Als aufklärerisches Signal in einer turbulenten, labilen Phase nach dem Ersten
Weltkrieg und der verheerenden Weltwirtschaftskrise muß das Stück gewürdigt
werden, nicht als dramatische Offenbarung. Es wirkt wohl auch nur als Hörspiel
oder im Rahmen einer Lesung. Der letzte Satz des Stücks besteht im Aufruf des
Führers "So, Brüder, Völker, einig jetzt ans Werk, Neu aufzurichten die befleckte
Welt!" Obwohl das Stück nicht überzeugen kann, nie aufgeführt wurde und nur
fünfhundert Exemplare des Werks gedruckt wurden, sollten wir dem großen Weltmeister
und Philosophen doch Respekt zollen für seinen Versuch, sich für den Völkerfrieden
zu engagieren und so etwas wie eine Friedensforschungs-Disziplin zu systematisieren.
Emanuel Lasker war seiner Zeit vielleicht zu weit voraus: Er war kein Fachidiot,
hatte das 64-Felder-Brett zwar immer im Fokus, doch er war auch begeisterter
Go- und Bridge-Spieler und wollte eine übergreifende Spieltheorie entwickeln,
um dem Phänomen Kreativität auf die Spur zu kommen. Der homo ludens war für
ihn zwar ein wichtiger Bestandteil der Zivilisation, doch Lasker hatte immer
einen kulturellen Prozeß anvisiert, der permanent verbessert und verfeinert
werden sollte. Den heute überall propagierten Slogan vom "Lebenslangen Lernen"
hätte der 1941 nach seiner Emigration in New York verarmt gestorbene Weltmeister
sicher auch akzeptiert. Er hätte sich aber wohl auch für "Lebenslanges Spielen"
eingesetzt - ja denn ohne das Spiel, so meinte Lasker, gäbe es keine wahre Erkenntnis.
Emanuel und Bernd Lasker:
Vom Menschen die Geschichte. Tübinger Beiträge
zum Thema Schach, Band 9. Hrsg. Von Hans Ellinger. Promos Verlag Pfullingen,
97 S., 9,80 Euro