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Wer über zwei Jahrzehnte in der Weltspitze mitgemischt hat, dem sind auch die ungewöhnlichsten Dinge passiert. Robert Hübner spielte auch schon eine wichtige Partie an Heiligabend. Beim Kandidaten-Finale 1980 in Meran gegen Viktor Kortschnoi. Als sich der Kölner Großmeister zur vierten Partie des Wettkampfes auf die Bühne der Kongresshalle setzte, da war die Stimmung alles andere als friedlich.
Nicht traf zu, was Heinrich Böll in seiner Satire „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ beschrieben hat. Keine Spur von dem Engel, der von der Spitze des Weihnachtsbaumes „Frieden, Frieden, Frieden“ flüsterte; da waren auch keine Zwerge aus Glas, die mit ihren Hämmern aus Kork durch die Schläge auf die Glöckchen eine friedliches „Ping, Ping, Ping“ ertönen ließen. Eher beschreibt das hysterische Geschrei von Bölls erfundener Tante Milla die Atmosphäre, die bereits vor dem Beginn des Wettkampfes in Meran geherrscht hatte.
Die Hauptschuld an der schlechten Stimmung trug der kürzlich verstorbene Immobilien-Tycoon und Schachmäzen Wilfried Hilgert. Der Millionär unterstützte nicht nur die Schachgesellschaft Porz, auch Robert Hübner hatte er auf dem Weg zur Weltmeisterschaft geholfen. Zunächst mit Geld, später zunehmend auch als selbsternannter Delegationsleiter. Allerdings war die direkte, mal drohende, mal beschimpfende Art des Immobilienmaklers nicht die Umgangsform, die dem eher zurückhaltenden Schachmeister entsprach.
So hatte Hilgert bereits Wochen vor dem Wettstreit seinen Feldzug begonnen. Als am 1. Oktober 1980 die Angebote für das Kandidaten-Finale im FIDE-Büro in Amsterdam geöffnet wurden, lagen Bewerbungen aus fünf Städten, nämlich Köln-Porz, Dortmund, Barcelona, Velden und Meran vor. Die Mindestsumme für das Preisgeld hatte die FIDE auf 30 000 Schweizer Franken festgelegt. Hilgert hatte für Köln 60 000 Schweizer Franken geboten. Er wurde jedoch von Meran deutlich überboten, denn die Südtiroler hatten 110 000 Schweizer Franken auf den Tisch des Hauses gelegt.
Wohl auch verärgert über die Niederlage im Bieterwettstreit begann der Krach. Gegen den Wettkampfstart am 20. Dezember protestierte Hilgert. Er wollte keinem Beginn vor dem 2. Januar 1981 zustimmen. In der Deutschen Schachzeitung drohte er der FIDE mit einer Schadensersatzklage, weil der Weltschachverband mit der Veröffentlichung des Wettkampfstarts ohne Absprache einen schweren Vertrauensbruch begangen habe. Seine Argumentation: Hübners Sekundanten, der Tschechoslowake Vlastimil Hort und der Isländer Gudmundur Sigurjonsson, stünden nicht zur Verfügung. Auch einen Kompromiss, am Heiligabend und ersten Weihnachtsfeiertag zu pausieren lehnte Hübners Berater ab.
Wilfried Hilgert (2.v.l.), Vlastimil Hort, dahinter: Gisbert Jacoby
Bei diesem Streit beging jedoch einen Vertrauensbruch. Während er selbst das Spiel an den Weihnachtstagen „einen Irrsinn“ nannte, zitierte er seinen Schützling mit dem Wort „unchristlich“. Dabei hatte Robert Hübner so etwas nie gesagt, obwohl für ihn der Spieltag unwichtig war. Außerdem empfand Hübner das Auspacken von Geschenken unter dem Tannenbaum nicht gerade für die christlichste aller Tätigkeiten. Auf jeden Fall trugen solche falschen oder erfundenen Zitate zur Verschlechterung der Stimmung in der eigenen Mannschaft bei.
Viktor Kortschnoj, Robert Hübner
Als Hübner am 24. Dezember 1980 zur vierten Partie (von 16) antrat, hatte es zwischen Kortschnoi und ihm 1,5 : 1,5 gestanden. Robert Hübner erinnert sich im Gespräch an die Partie: „Aus der Eröffnung heraus bekam ich eine vorteilhafte Stellung, die sich nach einem schwachen Zug von Kortschnoi in eine Gewinnstellung verwandelte. Weshalb Kortschnoi die Partie abbrach und am nächsten Tag ein paar Züge weiterspielte, das habe ich nicht verstanden.“ Und so verlief die „Weihnachtspartie“:
Auch der gewonnene Punkt „unter dem Weihnachtsbaum“ konnte die schlechte Stimmung in Hübners Team nicht vertreiben. Der Rest ist Geschichte: Der unglaubliche Patzer von Hübner in der siebten Partie, die Hängepartien, die nicht zuende gespielt wurden. Tatsache ist, dass Robert Hübner wegen seiner extremen psychischen Situation beim Stand von 3,5 : 4,5 und zwei unbeendeten Partien die Aufgabe des Wettkampfes erklärte. Er reiste ab und ließ einen frustrierten Kortschnoi, einen verblüfften Schiedsrichter, seine verständnislose Mannschaft, enttäuschte Schachfans in Deutschland und kopfschüttelnde Experten in der Schachwelt zurück.
Die zwei früheren "Weihnachtsgeschichten":
Euwe-Aljechin, 24. Dezember 1926
Anderssen-Morphy, 24. Dezember 1858