Will man Maxime Vachier-Lagraves Spiel beim Sinquefield Cup 2017 mit einem Wort beschreiben, dann kommt einem "Klarheit" in den Sinn. Es ist kein Zufall, dass Vachier-Lagrave in einem Interview nach dem Turnier meinte, seine Partien hätten "einen normalen Rhythmus" gehabt. Wenn man sich seine Partien anschaut und versucht, sein Spiel zu verstehen und - wichtiger noch - die Gründe für bestimmte Entscheidungen zu begreifen, dann wird klar, dass Vachier-Lagrave einfache Stellungen lieber hat als Komplikationen.
Natürlich hat sein Spiel noch andere Aspekte:
- Mit Schwarz hält er sich an ein eingeschränktes, aber sehr prinzipielles Eröffnungsrepertoire.
- Meistens ist er es, der seine Gegner in der Eröffnung mit einer neuen Idee oder einem neuen Zug überrascht.
- In ausgeglichenen Stellungen gerät er manchmal in Schwierigkeiten und kommt in Nachteil, weil er weiter einfach spielen will, obwohl die Stellung ein dynamisches Vorgehen verlangt.
- Er liebt Stellungen, in denen er einen kleinen Vorteil hat, in denen er geduldig manövrieren und den Gegner allmählich die Luft zum Atmen nehmen kann.
Schauen wir uns an, wie er in St. Louis beim Sinquefield Cup gespielt hat:
Runde 1: MVL - Wesley So
Hier stand Italienisch auf dem Brett und das ist definitiv nicht MVLs Lieblingseröffnung. Bis zum letzten Jahr hat er mit Weiß fast immer Spanisch gespielt, aber aktuell interessieren sich viele Spitzenspieler für Italienisch, um spielbare Stellungen zu bekommen und es Leid sind, immer wieder gegen die Berliner Verteidigung spielen zu müssen.
Stellung nach 14...c6
15.dxe5 Hier hätte Weiß auch mit 15.Sf1 weiter aktiv fortsetzen können, aber Vachier-Lagrave entscheidet sich für den Abtausch, um die Bauernstellung im Zentrum festzulegen. Es ist bemerkenswert, wie oft es in seinen Partien beim Sinquefield 2017 zu einer solchen Klärung der Bauernstruktur kam.
Stellung nach 16...De7
Eine wichtige Entscheidung - MVL tauscht die Damen, um Schwarz langfristig unter Druck zu setzen.
Stellung nach 32...f5
33.f4! Mit diesem Zug beweist Weiß taktische Aufmerksamkeit und übernimmt die Initiative, ein Beweis, dass MVL in St. Louis in sehr guter Form war. Dieser Zug zeigt auch, dass MVL nicht immer einfache Entscheidungen anstrebt, sondern auch scharfes Schach spielen kann, wenn er das will. Dennoch scheint er Einfachheit lieber zu haben als Komplikationen.
MVL gewann die Partie nach einem Fehler Sos im 40. Zug, allerdings stand Weiß zu diesem Zeitpunkt immer noch besser.
Runde 2: Nakamura - MVL
Diese Partie verlief relativ ruhig, da MVLs Vorbereitung den weißen Anzugsvorteil neutralisieren konnte. Aber an einer Stelle der Partie geschah etwas, das unsere Thesen unterstützt:
Stellung nach 21.Sd1
Hier spielte Vachier-Lagrave nicht das logisch aussehende 21...Tfc8, sondern wollte lieber die Damen tauschen, um die Stellung zu klären und zog 21...Dd4. Nakamura wich dem Damentausch aus, aber dennoch endete die Partie nach 33 Zügen mit Remis.
Runde 3: MVL - Svidler
Einmal mehr war es MVL, der in einer Hauptvariante eine neue Idee aufs Brett brachte, was ihm ein etwas besseres Mittelspiel bescherte. Und hier ist der Moment der "Klarheit":
Stellung nach 17...axb5
18.c4!? Einer der überraschendsten Züge, die MVL in diesem Turnier gespielt hat. Das Feld d4 dauerhaft zu schwächen, ist ein hoher Preis für die Klärung der Situation. Stattdessen hätte Weiß seine Stellung mit 18.Ld2 einfach verbessern können. 18...bxc4 19.dxc4 und hier hätte Schwarz mit 19...Sd4 ausgleichen können. Angesichts des sehr starken Springers auf d4 fällt es sehr schwer zu glauben, dass Weiß irgendeinen Vorteil hat.
Im weiteren Verlauf der Partie gab Schwarz einen Bauern und es kam zur folgenden Stellung:
Stellung nach 24...Df6
Hier hätte Weiß mit einem taktischen Schlag gewinnen können: 25.Lg6! und Schwarz hat nichts Besseres als das dubiose Opfer 25...Sc2 26.Tac1 Sxe3 27.Tf3 und Weiß gewinnt den schwarzen Springer. Stattdessen spielte MVL 25.Ta6 Se2+ 26.Dxe2 Txf7 27.Txf7 Dxf7 Weiß hat einen Bauern mehr, aber diese Partie erwies sich als einer der seltenen Fälle, in denen MVL nicht in der Lage war, einen klaren Vorteil in einen ganzen Punkt zu verwandeln.
Runde 4: Carlsen - MVL
Eine sehr unübersichtliche Angelegenheit. Carlsen griff in der Eröffnung zu einem ungewöhnlichen Aufbau und MVL kam zu Ausgleich, indem er beim Übergang von Eröffnung zu Mittelspiel einfache und kluge Züge machte. Hier ein typischer Moment:
Stellung nach 36.Ka2
36...f5. Natürlich ist dieser Zug nicht verkehrt, aber er legt die Bauernstellung fest. Aber das nur als kurzer Hinweis.
Stellung nach 39.Te2
Hier hätte Schwarz Gas geben und Komplikationen mit 39...Lxh4!? herauf beschwören sollen. Die dann entstehenden Stellungen sind gut für Schwarz. Stattdessen spielte er 39...Lf3 40.Th2 Lf6 41.Sd2 und geriet in Schwierigkeiten.
Was dann geschah ist natürlich bereits Geschichte - Carlsen unterliefen zwei schwere Fehler und er verlor eine Partie, die er hätte gewinnen sollen. MVL gab später zu, dass Carlsen das Turnier wahrscheinlich gewonnen hätte, wenn diese Partie nach kämpferischem Verlauf Remis geworden wäre. Das zeigt, dass man immer ein bisschen Glück braucht, um ein Turnier zu gewinnen, ganz egal, wie gut man spielt. Und Gewinner haben immer ein bisschen Glück!
Round 5: MVL - Aronian
Einmal mehr war es MVL, der als Erster eine Verbesserung brachte, und dadurch nach der Eröffnung eine bequeme Stellung erhielt. Hier ein charakteristischer Moment:
Stellung nach 15...Sxd5
16.Ld2? Einer der seltenen Fehler von Vachier-Lagrave beim Sinquefield Cup. Jetzt kann Schwarz mit 16...Dd6 ausgleichen. Statt 16.Ld2? hätte Weiß mit 16.d4!? Komplikationen herbeiführen können. Und diese Komplikationen scheinen nach 16...exd4 17.Dd3 Sf6 18.Dxa6! günstig für Weiß zu sein. Nach dem Textzug war die Partie mehr oder weniger ausgeglichen und endete schließlich in einem gleich stehenden Endspiel mit Remis.
Round 6: Caruana - MVL
Fabiano Caruana vs MVL | Foto: Lennart Ootes
Eine Partie, in der MVL seine Fähigkeit, die Dinge einfach zu halten, enorm geholfen hat. Nach einer bemerkenswerten Neuerung Caruanas im zehnten Zug behandelte MVL die Stellung mit typischer Klarheit und legte die Bauernstruktur fest:
Caruana - MVL, Stellung nach 11.0-0-0
11...g5!? Dieser Vorstoß am Königsflügel sieht abenteuerlustig aus – aber tatsächlich folgt er dem Muster, das wir kennen: MVL strebt danach, die Bauernstruktur zu klären.
Stellung nach 24.Lg4
24...Dg5 Eine sehr wichtige Entscheidung - Schwarz kommt zu Recht zu dem Schluss, dass er nach dem Damentausch ausgleichen kann, obwohl er einen Bauern weniger hat. Eindrucksvoll gespielt von MVL - er hielt das Endspiel mühelos remis.
Runde 7: MVL - Karjakin
Sergey Karjakin | Foto: Lennart Ootes
Eine Partie, die sich der Generalisierung entzieht. MVL hatte nicht gegen die Berliner Verteidigung und entschied sich für eine Variante, die er gründlich vorbereitet hatte. Entsprechend schnell spielte er auch, und es war Karjakin, der bei tickender Uhr die richtigen Züge finden musste. Aber Karjakin umschiffte alle Gefahren und hielt das Endspiel Remis. Wahrscheinlich einer dr Partien, in der man nichts gegen das moderne Übel tun kann, eine forcierte Variante zu spielen, obwohl man weiß, dass der Gegner Remis forcieren kann, wenn er korrekt spielt?
Round 8: Anand - MVL
Die einzige Partie im Turnier, in der MVL in der Eröffnung in Schwierigkeiten geriet. Vielleicht wurde er in einer Variante erwischt, mit der er nicht gerechnet hatte? Anand spielte die Eröffnungsphase sehr schnell und war auf eine Nebenvariante der Englischen Symmetrievariante offensichtlich sehr gut vorbereitet.
Nachdem er in etwas passiven Stellung gelandet war, traf MVL eine typische Entscheidung, die uns nicht mehr überraschen sollte:
Stellung nach 18.Lf1
Hier nahm MVL eine etwas passive Stellung in Kauf, um die Dinge zu klären: 18...Lxb5 19.Lxb5 f6. Mit korrektem Spiel hätte Anand MVL im Endspiel vor Probleme stellen können. Aber in der Diagrammstellung hatte MVL einen komplizierten Weg zum Ausgleich: 18...f6! 19.Sxa7 Ta8 20.Sb5 Sb3 21.Lc4+ Lf7 22.Lxb3 Lxb3 23.a3 Tfd8 und Schwarz hat gute Kompensation für den Bauern.
Runde 9: MVL - Nepomniachtchi
Die letzte und entscheidende Runde | Foto: Lennart Ootes
Eine Partie, in der alles gut für MVL lief. Die erste Überraschung war MVLs 6.Le2 - diesen Zug hatte MVL in seiner gesamten Karriere erst zwei Mal gespielt. Er nannte dies später "ein guter Versuch in der letzten Runde". Mit 13.a5 brachte Weiß dann eine Verbesserung und nach 22.Sd5 hatte Weiß die Stellung gut im Griff:
Stellung nach 22.Sd5
Klarheit! Der dominierende Springer des Weißen sichert ihm einen soliden Vorteil und im weiteren Verlauf der Partie ging es mit der schwarzen Stellung kontinuierlich bergab. Es scheint, als ob dies die Stellungen sind, in denen sich MVL wohlfühlt und besonders stark spielt.
Beim Sinquefield Cup 2017 in St. Louis hat er das definitiv getan.
Alle Partien Maxime Vachier-Lagraves beim Sinquefield Cup 2017
Übersetzung aus dem Englischen: Johannes Fischer
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