Eröffnungsübersichten in CBM 136

von ChessBase
21.06.2010 – Nach 6...c5 in der Wiener Variante des Orthodoxen Damengambits geht die Theorie häufig weit bis ins Mittelspiel hinein. Aber neuerdings bietet sich 6...h6 an - Kramnik, Aronian sowie Ivanchuk haben es ausprobiert. Wenn sich diese Alternative als zuverlässig erweist, besitzt der Nachziehende eine elegante Möglichkeit, dem Variantendickicht des Hauptzuges einfach auszuweichen. Evgeny Postny hat sich des Themas angenommen und eine gründliche Analyse der Toppartien abgeliefert. Sein Fazit ist noch sehr vorsichtig, denn die Entwicklung dieses Abspiels steht erst am Anfang. Garantiert wird es in der nächsten CBM-Ausgabe neue kommentierte Partien mit 6...h6 geben. Weitere 12 Beiträge finden Sie nur auf der DVD von CBM 136. Taktik, Eröffnungen, Endspiele und mehr bei ChessBase Magazin Online... Postnys kompletter Artikel

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Wiener Variante mit frühem ...h6

Von Evgeny Postny

Thema der aktuellen Übersicht ist die Variante 1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sf3 d5 4.Sc3 dxc4 5.e4 Lb4 6.Lg5 h6

Die so genannte Wiener Variante ist in Topturnieren während der letzten Jahrzehnte ein häufiger Gast gewesen. Die Hauptfortsetzung 6...c5 wurde in Tausenden von Partien gespielt und Dutzende von Zügen weiter analysiert. Viele der Abspiele sind bekannt für ihre forcierten Zugfolgen und führen oft zu einem theoretischem Remis. In letzter Zeit allerdings gelang es Weiß, ein paar frische Ideen aufzuspüren und dem Nachziehenden einige Probleme zu stellen. Als nur ein Beispiel sei dabei auf die Begegnung Kramnik-Naiditsch aus dem Dortmunder Superturnier 2009 hingewiesen. So trat das zuvor als Nebenabspiel angesehene 6...h6 ins Rampenlicht. Es ist kurios, dass der Initiator der aktuellen theoretischen Diskussion der ehemalige Weltmeister Vladimir Kramnik selbst ist, der diese Variante in zwei wichtigen Begegnungen beim Tal-Memorial-Superturnier im November 2009 anwandte. Zwei Remisen mit den schwarzen Figuren gegen Aronian and Ivanchuk reichten Vladimir gerade eben, um den ersten Platz zu behaupten, obwohl er in diesen Schlachten einige heikle Moment zu überstehen hatte. Andere Topgroßmeister brauchten nicht lange, um bei der neuen Idee den Anschluss zu finden und dem gleichen Abspiel zu folgen. Im aktuellen Jahr haben bereits viele Spitzenspieler das Abspiel 6...h6 als Schwarzer angewandt, mit befriedigenden Ergebnissen. Es reicht aus, Aronian, Ivanchuk und Movsesian zu erwähnen.

Lassen Sie uns nun ein bisschen über die Stellung nachdenken. Der letzte schwarze Zug zwingt Weiß, sich von seinem schwarzfeldrigen Läufer zu trennen, da 7.Lh4? offensichtlich schlecht ist wegen 7...g5 nebst 8...Sxe4. Daher ist 7.Lxf6 Dxf6 erzwungen. Anschließend erobert Weiß den Bauern auf c4 zurück und genießt das starke Bauernzentrum. Dies sind die Gründe, weswegen der Zug 6...h6 früher als dubios galt. Also, was sind die Trümpfe von Schwarz in dieser Stellung? Erst einmal ist das Läuferpaar nicht zu unterschätzen. Zweitens hat seine Stellung keine Schwächen. Schwarz wird  den weißen Zentrumsbauern mit c7-c5 unterminieren, wodurch die Abwesenheit des schwarzfeldrigen Läufer klar betont wird. Generell muss das weiße Spiel in dieser Variante aggressiv und konkret sein. Sollte es Schwarz gelingen, seine Entwicklung reibungslos abzuschließen, kann er optimistisch nach vorn blicken.

Also, nach dem bereits erwähnten 7.Lxf6 Dxf6 lautet die weiße Haupterwiderung 8.Lxc4, doch lassen Sie uns zunächst ein paar Optionen mit der Einschaltung des Schachs auf a4 untersuchen.

A) 8.Da4+ Sc6 9.Lxc4

Die geschah in der Partie Ftacnik,L - Mirzoev,A ½-½; Weiß hat den Zug 8...Sc6 erzwungen, daher kann Schwarz jetzt nicht  c7-c5 spielen. Andererseits ist die Dame auf a4 etwas deplatziert, und Schwarz dies ausnutzen mit dem sofortigen 9...Ld7!, mit gutem Spiel.

B) 8.e5 Dd8 9.Da4+ Sc6 10.Lxc4

Diese Version derselben Idee erblickte das Licht der Welt in der oben erwähnten Begegnung Ivanchuk-Kramnik. Dort folgte 10...Ld7 11.Dc2 Sa5?! 12.Ld3 c5, und später befand sich Kramnik unter Druck, vor allem aufgrund des deplatzierten Springers. In einer aktuelleren Partie, Delchev,A - Ragger,M ½-½, verfiel der junge österreichische Großmeister auf das positionell gesunde 11...Se7! und glich ziemlich mühelos aus. Dies bringt uns zu dem Fazit, dass das Schach auf a4 für Schwarz harmlos ist.

Jetzt kommen wir zum Hauptabspiel, in welchem Weiß das Schach auf a4 nicht einschaltet.

C) 8.Lxc4

Die beiden nächsten Züge von Schwarz sind offensichtlich - rochieren und das weiße Zentrum mit c7-c5 unterminieren.

Nach 8...c5 9.e5 Dd8 versuchte Aronian, das Schlagen auf d4 mit 10.d5 zu vermeiden, doch nach 10...exd5 11.Lxd5 0-0

ist das weiße Plus nur marginal wie in der Begegnung Aronian,L - Kramnik,V ½-½.

Der jüngste Versuch von Weiß ist daher 9.0-0.

Hier kann Schwarz wählen zwischen der Rochade und dem Schlagen auf d4.

Dabei sollte er berücksichtigen, dass das sofortige 9...cxd4 Weiß die zusätzliche Möglichkeit 10.Sb5 gibt. Nach der forcierten Folge 10...De7 11.Dxd4 0-0 12.Sxa7 Lc5 13.Sxc8 Txc8 erhalten wir die folgende Stellung:

Weiß hat forciert einen Bauern gewonnen. Doch dank des Vorhandenseins ungleichfarbiger Läufer sind die schwarzen Chancen auf Remis sehr hoch. Dennoch war die Verteidigung für den Nachziehenden in der hochaktuellen Partie Lysyj,I - Movsesian,S ½-½ kein Zuckerschlecken.

Wenn Schwarz das Abspiel 10.Sb5 vermeiden will, dann kann er mit 9...0-0 beginnen (statt 9...cxd4). Dort folgt 10.e5 Dd8:

Diese Zugfolge schaltet die Idee 10.Sb5 aus, gibt aber andererseits Weiß ein paar zusätzliche Möglichkeiten. Akut muss der Anziehende entscheiden, was mit dem d4-Bauern geschehen soll. Dabei hat er mehrere Optionen zu erwägen.

11.De2, was in der Begegnung Kramnik,V - Ivanchuk,V ½-½ geschah, liegt sehr im Geist der Stellung. Weiß wird einen seiner Türme nach d1 bringen, den Springer nach e4, und versuchen, Drohungen gegen den schwarzen König aufzustellen, dem es bislang eindeutig an Verteidigern mangelt. Die entstehende Stellung ist sehr kompliziert und erfordert mehr Praxismaterial. Für meine Begriffe sind die schwarzen Verteidigungsressourcen ausreichend.

Die Alternativen wie 11.a3 und 11.d5 kamen in alten Klassikern vor und bergen ebenfalls einiges Potential.

Eine weitere Spitzenbegegnung aus jüngster Zeit, Grischuk,A - Aronian,L ½-½, erreichte mit einer leicht veränderten Zugfolge eine ganz ähnliche Stellung. Nach 9.0-0 cxd4 10.e5 Dd8 11.Se4 0-0 12.De2 Ld7

stellte Grischuk den anderen Turm nach d1 und griff dann zu einem positionelleren Plan, bei dem er mit a3-b4 mehr Raum eroberte und sich mit dem Rückgewinn des d4-Bauern nicht beeilte. Auf dem Weg zu einem friedlichen Ergebnis musste Aronian ziemlich hart arbeiten, aber wie die Analyse zeigt, war seine Stellung nicht schlechter.

Fazit: Bislang ist es schwierig, bei diesem Abspiel zu einem verbindlichen Urteil zu kommen, da sich der theoretische Disput gerade auf seinem Höhepunkt befindet. Der große Prozensatz von Remisergebnissen ist dabei eher ein Hinweis auf das hohe Niveau beider Seiten als auf eine klare Bewertung des gesamten Abspiels. Gemäß den jüngsten Topduellen ist die Variante, wo Weiß den d4-Bauern gibt und auf Initiative am Königsflügel spielt, am ehrgeizigsten. Meines Erachtens sollte ihm dies gegen präzise Verteidigung keinen Vorteil einbringen. Ich denke, dass Weiß auch einigen Nebenabspielen wie z.B. 11.d5, wie in der alten Partie Gligoric-Karaklajic, Aufmerksamkeit zollen sollte. Es gibt noch immer eine Menge relativ unerforschter Untervarianten, und ich erwarte, dass die theoretische Diskussion anhält.


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