
Nicht die Widerlegung der Najdorf-Variante
Von Evgeny Postny
Thema der aktuellen Übersicht ist die folgende Variante:
1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4
Sf6 5.Sc3 a6 6.Lg5 e6 7.f4 Sbd7 8.Lc4

Falls Schwarz sich scheut, sich auf die nach 7...Db6 8.Dd2 Dxb2 entstehenden "Bauernraubvarianten" einzulassen, so bevorzugt er normalerweise 7...Sbd7. In diesem Fall lautet das Hauptabspiel 8.Df3
Dc7 9.0-0-0. Die entstehenden Stellungen sind weniger forciert als die "Bauernraubvariante", doch trotzdem ebenfalls recht scharf. In unserer vorliegenden Übersicht werden wir uns allerdings auf eine weniger gebräuchliche, doch durchaus giftige Fortsetzung konzentrieren, nämlich 8.Lc4. Offensichtlich ein normaler Entwicklungszug, wenngleich in Kombination mit 6.Lg5 selten gesehen. Weiß mixt einige Ideen des Najdorf- und Sozin-Systems, wobei er sich die Möglichkeit zur Rochade nach beiden Seiten noch vorbehält, je nach den Umständen.
Ingesamt ist diese Abspiel keineswegs neu. Der Pionier von 8.Lc4 war damals im Jahr 1954 der große Paul Keres. Seitdem kam die Variante in den 60er und 70er Jahren gelegentlich in der Praxis vor, allerdings ohne wirklichen Erfolg für Weiß. In unserer Zeit ist das Interesse an diesem Abspiel von neuem erwacht. In letzter Zeit hat Weiß mit 8.Lc4 ausgezeichnete Ergebnisse erzielt. Zudem endete eine beträchtliche Anzahl von Partien, darunter sogar jene aus Großmeisterturnieren, mit einer Eröffnungskatastrophe für den Nachziehenden, der auf dem falschen Fuß erwischt wurde.
Die Pointe von 8.Lc4 ist recht klar - Weiß beabsichtigt, mit f4-f5 gegen den e6-Bauern zu drücken, um den Vorstoß ...e6-e5 erzwingen, was ihm volle Kontrolle über das Schlüsselfeld d5 verschaffen wird. Recht häufig ist das Läuferopfer auf e6 möglich und gefährlich für Schwarz. Der typische Zentrumsdurchbruch e4-e5 ist immer auf der Rechnung zu haben. Falls der Nachziehende nicht aufpasst, könnte er durch eine der obigen Ideen zur Strecke gebracht werden, bevor er auch nur den 20. Zug erreicht! Schwarz hat eine breite Auswahl von Erwiderungen im 8. Zug, aber die meisten davon sind einfach schlecht! Daher ist sein nächster Zug bereits ein ganz wichtiger. Es ist ja bekannt, dass die genaue Zugfolge in der Sizilianischen Verteidigung von hoher Bedeutung ist, vor allem für den Nachziehenden.
Damit wollen wir Zug für Zug zu konkreten Varianten in diesem faszinierenden Abspiel übergehen.
A) 8...Dc7?
Ein natürlicherer Zug als dieser lässt sich kaum vorstellen, aber er ist bereits ein Fehler! Nach 9.De2 b5 10.Lxe6! fxe6 11.Sxe6

konnte Schwarz in der Partie Nataf,I - Mohota,N 1-0 den starken weißen Angriff nicht überleben.
B) 8...Da5?
Wieder ein natürlicher Zug und ebenfalls falsch. Der Plan von Weiß ist einfach: 9.De2 h6 10.Lxf6
Sxf6 11.0-0-0

und er hat gewaltigen Entwicklungsvorsprung. Der entscheidende Durchbruch im Zentrum wird nicht lange auf sich warten lassen, wie in der Partie Savchenko,B - Zubov,O 1-0.
C) 8...b5?!

Diese Fortsetzung ist ebenfalls riskant. Schwarz sollte auf das für dieses Abspiel typische Figurenopfer 9.Lxe6! fxe6 10.Sxe6 gefasst sein. Von den zwei möglichen Damenzügen scheitert 10...Db6? dann an 11.Sd5!
Sxd5 12.Dxd5,

wonach Schwarz in Flammen untergeht. Angesichts der Drohung 13.Sc7+! nebst 14.De6+ mit Mattsetzung muss er einen vollen Turm geben. Man prüfe die Partie Savchenko,B - Kuzubov,Y 1-0.
Damit bleibt nur 10...Da5. Schwarz fesselt den Springer, erlaubt Weiß aber, für die geopferte Figur einen weiteren Bauern einzustreichen. Die Folge 11.Sxf8
Txf8 12.Dxd6 Db6 13.0-0-0 Dxd6 14.Txd6 führt dann zur Stellung im Diagramm unten:

Materiell befindet sich die Position im Gleichgewicht, aber selbst nach dem Damentausch ist Weiß im Besitz der Initiative. Mein Eindruck lautet, dass Schwarz vor einer recht schwierigen Verteidigungsaufgabe steht. Die aktuelle Partie Sjugirov,S - Van Wely,L 1-0 bestätigt diese Ansicht.
Bevor ich zur stärksten Fortsetzung kommt, möchte ich noch eine weitere Möglichkeit erwähnen: 8...Sc5? 9.e5 h6 10.Lh4 g5

11.fxg5 dxe5 12.Sf3 Dxd1+ 13.Txd1 hxg5 14.Lxg5 Sfd7 15.Sxe5! - Weiß gewinnt einen Bauern und steht klar besser wie in der Partie Zhigalko,A-Jakubowski,K/Warschau 2008 ;

D) 8...Db6!

Dies ist die Hauptfortsetzung und auch am stärksten.
a) Zuvor versuchte Weiß, mit 9.Dd2, den Bauern b2 zu opfern. Schwarz sollte mit 9...Dxb2 die Herausforderung annehmen. Nach 10.0-0 lautet die genaueste Erwiderung 10...Db4!, was den Hauptunterschied zwischen diesem Abspiel und der "Bauernraubvariante" offenbart: Hier war Schwarz in der Lage, seine Dame durch Angriff auf den weißfeldrigen Läufer mit Tempo wieder ins Spiel zu bringen. Die Kompensation des Anziehenden reicht bestenfalls zum Ausgleich, wie in der Partie
Vuckovic,B - Lesiege,A ½-½.
b)
Die natürlichste Erwiderung lautet 9.Lb3. Nach 9...Le7 10.f5 drückt Weiß auf den Bauern e6, der nur mittels 10...Sc5 zu decken ist.

Schwarz kann den gefährlichen Läufer gerade rechtzeitig eliminieren. In der Begegnung Radjabov,T - Gelfand,B ½-½ führte der Versuch 11.fxe6 fxe6 12.Sa4 zu massiven Vereinfachungen und totalem Ausgleich.
Später verlegte sich der Anziehende auf 11.Df3. Nach 11...Sxb3 12.Sxb3
Dc7 sehen wir die folgende Stellung:

In der Partie Kurnosov,I - Areshchenko,A ½-½ versuchte Igor hier die kurze Rochade, musste aber fast die ganze Partie über ums Remis kämpfen. Das natürlichere 13.0-0-0!? ist in der Praxis noch unerprobt. Doch gegen korrekte Verteidigung erreicht Weiß auch in diesem Fall nicht mehr als Ausgleich.
c) Eine weitere frische Idee für Weiß ist
9.Lxf6!? Sxf6 10.Lb3

Mit der Idee, freiwillig den schwarzfeldrigen Läufer zu geben, will Weiß den schwarzen Damenspringer vom Feld c5 ablenken und damit seinen anderen Läufer am Leben erhalten. Später hofft er, mit dem Vorstoß f4-f5 Druck auf den weißen Feldern zu entfalten. Bislang war er damit in der Partie Naiditsch,A - Sjugirov,S 1-0 erfolgreich. Allerdings birgt die schwarze Stellung unterwegs zahlreiche mögliche Verbesserungen.
Fazit: Unterm Strich muss ich jene enttäuschen, die in diesem Artikel eine einseitige Widerlegung des gesamten Najdorf-Systems zu finden hofften. Das mit 8.Lc4 eingeleitete Abspiel taugt durchaus als Überraschungswaffe, bringt aber tatsächlich Weiß keinen Vorteil ein. Meine Untersuchungen bestätigen, dass Schwarz nach 8...Db6 durchaus eine anständige Stellung erhält, und so fällt momentan das Urteil über das gesamte Abspiel aus. |