Erfolg mit eigenen Ideen: Charlie Storey und der "Sniper"

von Johannes Fischer
11.01.2018 – FIDE-Meister Charlie Storey ist Dauersieger bei offenen Turnieren in England. Er glaubt, er verdankt diese Erfolge vor allem seiner Lieblingsvariante, dem "Sniper": Schwarz spielt in den ersten drei Zügen 1...g6, 2...Lg7 und 3...c5. Auf einer ChessBase DVD hat Charlie Storey vor kurzem die Geheimnisse des "Snipers" verraten und im Interview spricht er nun über "seine" Eröffnung und seine Erfolge damit, und warum er den "Sniper" gerne gegen Magnus Carlsen ausprobieren würde.

The Sniper The Sniper

Der Sniper ist ein universelles Eröffnungsgerüst, das man gegen alle wichtigen ersten Züge von Weiß anwenden kann - 1.e4, 1.d4, 1.c4, 1.f4 und 1.Sf3. Schwarz spielt 1…g6, 2…Lg7 und 3…c5 gegen praktisch alles!

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Erfolgsgeschichte "Sniper": Ein Interview mit Charlie Storey

Charlie StoreyChessBase: Sie sind Autor, Trainer, erfolgreicher Open-Spieler und FIDE-Meister. Erzählen Sie uns doch etwas über Ihre Schachkarriere: Wann haben Sie mit dem Schach angefangen, hatten und haben Sie Vorbilder, wie sind Sie besser geworden, wie trainieren Sie und wie oft spielen Sie?

Charlie Storey: Schach habe ich gelernt, als ich etwa zehn war — ich bin in die Schachgruppe meiner Schule gegangen und den Naturkundelehrer Mr. Atkinson besiegt. Vor Freude habe ich fast den ganzen Weg nach Hause gehüpft! Dieser Sieg hat mir geholfen, in der Mittelschule Sportkapitän zu werden – dieser Sieg und 10.000 Kick-ups mit dem Fußball! Zwischen 10 und 14 habe ich kaum gespielt, doch dann hat mich das Schachfieber gepackt und vernichtet!

CB: Sie haben vor kurzem eine DVD über "The Sniper" veröffentlicht, ein universelles Eröffnungssystem gegen beinahe jeden weißen Aufbau. Egal, was Weiß macht, Schwarz spielt in den ersten drei Zügen fast immer 1…g6 2…Lg7 und 3…c5. Wann und wie sind Sie auf dieses System verfallen?

CS: Als ich mit Schach anfing, habe ich nur ein Eröffnungsbuch gelesen (über den Drachen), und dann habe ich in den ersten fünf Jahren meiner Schachkarriere natürlich Königsflügel-Fianchettos gespielt.  Ich habe nur ein Schachbuch gelesen, weil mein Freund und Rivale alle Schachbücher in der örtlichen Leihbibliothek mit Hilfe seiner Familie mit Beschlag belegt hat (1986 gab es noch kein Internet!). Das Drachenbuch habe ich immer wieder verlängert, sonst hätte er mir das auch noch weggeschnappt!

In den 90ern habe ich einmal mit Hilfe eines dynamischen Königsfianchettos mit ...c5 gegen Jonathan Rowson gewonnen, und dabei begriffen, wie viele Möglichkeiten diese Mischung in beinahe allen Stellungen bietet. Ich habe mein Leben lang Fianchetto-Systeme gespielt und immer nach theoretischen Neuerungen gesucht. Ich habe es geliebt, diese Neuerungen mit ChessBase 3.0 zu finden, vorzubereiten und zu spielen!

CB: Kann jeder Schachspieler neue Ideen oder neue Züge in der Eröffnung finden? Und wenn ja, wie?

CS: Ich glaube, der beste Eröffnungszug für Weiß ist 1.a4. Aber als Schachspezies sind wir im Moment noch nicht weit genug, um sagen zu können, warum das so ist, denn im Moment nimmt die Theorie diesen Zug nicht ernst - es gibt also noch viel zu entdecken.

CB: Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Partie mit dem "Sniper"?

CS: Offiziell aus der Taufe gehoben wurde der "Sniper" irgendwann 2008. Bei den Britischen Meisterschaften habe ich mit Schwarz eine phantastische Partie gegen GM Keith Arkell gespielt, die mir den FM-Titel gesichert hat. Kurze Zeit später habe ich angefangen, mich intensiver mit dem "Sniper" zu beschäftigen und bald darauf ein Buch darüber veröffentlicht.

CB: Was reizt Sie an diesem System?

CS: Die Sucht nach dem Königsfianchetto und meine Kenntnis der Mittelspielmuster, die mir Zeit spart und meine Gegner immer wieder in Zeitnot bringt, was mir dann die Möglichkeit gibt, meine wunderbaren taktischen Fähigkeiten zu zeigen!

Charlie Storey und der "Sniper"

CB: Ein System gegen alles zu haben, klingt nach einem effektiven und zeitsparenden Repertoire. Aber wie sieht es mit Zugumstellungen aus? Wie gut muss man Königsindisch, Pirc oder Benoni kennen, um den "Sniper" zu spielen?

CS: Gute Frage! Es hilft, wenn man sich in allen Königsfianchetto-Systemen ein bisschen auskennt. Aber der "Sniper" bietet jede Menge kreativer Möglichkeiten, denn er führt zu Stellungen, die den klassischen Fianchetto-Systemen ähneln, aber doch neu sind, vor allem, da man den Springer häufig erst einmal auf g8 stehen lässt — und dieses Tempo kann sich in der Eröffnung als sehr nützlich erweisen.

CB: Wann haben Sie beschlossen, den "Sniper" regelmäßig zu spielen?

CS: Auf jeden Fall habe ich, bevor das System zwischen 2012 und 2016 vermarktet wurde, phänomenale Ergebnisse damit erzielt. Wenn die Leute damit rechnen, dann bereiten sie sich natürlich stundenlang vor und sollten mit Weiß leichten Vorteil behalten können - aber mehr auch nicht. Bevor das System bekannter wurde, habe ich damit jede Menge offener Turniere gewonnen. Meine Konkurrenten sind mit Schwarz immer wieder nicht über ein Remis hinausgekommen, während ich meine Gegner in einen Tal-artigen dunklen Wald geführt habe!

Kurz nach Erscheinen meines "Sniper"-Buchs habe ich die County-Meisterschaft mit 7 aus 7 gwonnen. Ich habe in jeder Partie, egal, ob mit Weiß oder mit Schwarz, "Sniper"-Strukturen gespielt. Heute spiele ich das System vor allem im Blitz- und Schnellschach, denn ich lerne gerne auch etwas über andere Eröffnungen. Das ist wichtig, denn ich bin Trainer des internationalen englischen U18-Teams und ECF Fide Academy Coach.

CB: Das heißt, der "Sniper" hat Ihnen jede Menge Erfolge gebracht?

CS: Vor allem, wenn man bedenkt, dass ich nur ein bescheidener FM mit zwei IM-Normen bin — von denen eine noch anerkannt werden muss! Es ist erstaunlich, aber ich habe mehr offene Turniere in Großbritannien gewonnen, als jeder andere, abgesehen von Keith Arkell und Mark Hebden. Aber die sind beide Großmeister und engagierte Profis. Und im Nordosten, auf meinem Terrain, sind Leute wie Jonathan Hawkins, Tim Wall oder Mihai Suba unterwegs!

Keith Arkell and Mark Hebden

Keith Arkell & Mark Hebden | Fotos: P. Grochowalski CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

CB: Haben Sie je eine drastische Niederlage mit dem "Sniper" erlitten, nach der Sie an der Korrektheit Ihrer Lieblingseröffnung gezweifelt haben?

CS: Selbst wenn eine Variante widerlegt wird, so bietet das System doch so viel Raum für Kreativität und Neues, dass man dann einfach eine andere Variante ausprobieren kann.

CB: Was ist Ihrer Meinung nach der Grund für Ihre Erfolge mit diesem System?

CS: Mit Schwarz verfüge ich dank meiner übermäßig großen Beschäftigung mit dieser Variante im Prinzip über eine Spielstärke von 2700 Elo. Ich kenne die Stärken und Schwächen der Variante sehr genau, normalerweise sehr viel besser als meine Gegner. Aber eins sollte man dabei nicht vergessen: wenn man mit Weiß seine Hausaufgaben macht, dann sollte man den Anzugsvorteil zur Geltung bringen können. Denn ich glaube nicht, dass Weiß in der Ausgangsstellung in Zugzwang ist, oder? Vielleicht kann Alpha Zero 1000 darauf eine Antwort geben!

CB: Sie sind nicht der Erste, der diese Eröffnung gespielt hat, aber Sie haben dieser Eröffnung einen Namen gegeben und zu einem System gemacht: der "Sniper", "Heckenschütze" auf Deutsch. Warum gerade dieser Name?

CS: Gute Frage! Nach dem Schreiben des Buches über den "Sniper" habe ich eine Fortbildung zum Lehrer für Computerwissenschaften und Wirtschaft gemacht, und ich weiß, was den Leuten gefällt. Ich komme aus finanziell armen Verhältnissen und musste schon früh zum Unternehmer werden, um überleben zu können. Schachspieler sind phantasievoll. Und ein Name wie "Sniper" befeuert ihre Phantasie, genau wie der Name "Drachenvariante". Nun ist Schach ein mittelalterliches Kriegsspiel, aber bei der Namensgebung habe ich mich an moderner Kriegsführung orientiert: Türme, Panzer, Damen, Drohnen, usw. Der "Sniper" bietet weit reichende, versteckte Möglichkeiten, genau wie ein Heckenschütze. Als Lehrer, der Kinder und Jugendliche unterrichtet, war ich nicht sicher, wie Eltern diesen Namen aufnehmen würden, aber schließlich haben wir alle schon einmal eine Wasserpistole in der Hand gehabt, und wenn ich mit Kindern über Schach rede, dann rede ich darüber, wie man mit Wasser schießt.

CB: Wurden Sie je kritisiert, weil Leute der Ansicht waren, der Name sei zu kriegerisch, zu militärisch?

CS: Bei der ersten Werbung für den "Sniper" wurde ich schrecklich kritisiert. Ich unterrichte Kinder zum Thema "Online-Sicherheit", und das lässt sich am besten mit der Aufforderung "Sei freundlich" beschreiben. Aber einige der Kommentare, die ich erhalten habe, waren wirklich hässlich, und in manchen Fällen kam es zur Rudelbildung bei Cyber-Beleidigungen. Schachspieler sind von Natur aus superkritisch, denn das müssen sie sein, um besser zu werden. Aber leider führt das manchmal zu schrecklichen Online-Kommentaren. Natürlich habe ich ein dickes Fell, aber es macht mich traurig, wenn ich daran denke, dass Leute in meiner Umgebung Hasskommentare abgeben. Aber das scheint im Internet überall der Fall zu sein.

CB: In der Eröffnungstheorie gilt der "Sniper" nur als Nebenvariante. Nun postulieren Eröffnungstheoretiker gerne, dass man Nebenvarianten nicht zur Grundlage seines Eröffnungsrepertoires machen sollte, da sie oft unsolide sind und vor allem vom Überraschungsfaktor leben. Wie sehen Sie das?

Sun Tzu

CS: Wenn man Sun Tzu liest, versteht man die Bedeutung von Überraschungen — ganze Reiche sind dadurch entstanden und vergangen.

CB: Spielen Sie Hauptvarianten oder haben Sie früher Hauptvarianten gespielt?

CS: Als ich zwischen 20 und 30 Jahre alt war, habe ich meinen Lebensunterhalt damit verdient, in Turnieren nach Schweizer System zu spielen, und sie regelmäßig zu gewinnen. Hauptvarianten führen oft zu Remis, also muss man kreative Lösungen finden, um 4 oder 4,5 aus 5 zu erzielen, um ins Geld zu kommen. Sonst landet man im oberen Mittelfeld, aber kann nicht einmal seine Reisekosten bezahlen und muss sich einen Brotjob suchen!

CB: Warum ist der "Sniper" dann nicht beliebter?

CS: Die meisten Spieler sind mit klassischen Prinzipien groß geworden und haben Eröffnungen gelernt, die okay, aber nichts Besonderes sind. Ich bin nicht Jose Mourinho, aber mit Blick auf die Eröffnungstheorie ist der "Sniper"  speziell — versuchen Sie doch einmal, die Variante mit dem ECO-Code zu klassifizieren… Das möchte ich sehen!

CB: Stichwort Mourinho und Fußball. Sie haben die unterschiedlichen Systeme, die Sie auf Ihrer DVD vorstellen, auf die Namen englischer Fußballvereine getauft. Wie kamen Sie auf diese Idee?

CS: Ich habe jahrelang Grundschulkinder unterrichtet und sie brauchen etwas, an dem sie neu gelernte komplexe Informationen festmachen können. Der Eröffnung den Namen "Sniper" zu geben, verfolgt den gleichen Gedanken. Und dank der permanenten "Betreuung" durch Sky etc. bietet sich Fußball hier einfach an. Ich würde mich freuen, wenn alle Eröffnungen dieser neuen Konvention folgen würden — ich meine, wie langweilig sind denn bitte Namen wie "Hauptvariante" oder "Nebenvariante"? Wie konkurrieren hier mit der Playstation! Ich bin Fußballfan und kann meine Begeisterung beim Unterrichten auf die Schüler übertragen. Begeisterung ist eine versteckte Kraft, die wir nicht ganz verstehen — wie die Schöpfung oder Gott.

CB: Funktioniert diese Methode der Namensgebung?

CS: Seit einer Allergieattacke mit 20 habe ich ein schlechtes Variantengedächtnis. Um das auszugleichen, habe ich mich damit beschäftigt, wie das Gedächtnis funktioniert. Das hat gut geklappt und ich habe die Techniken, die ich dort gelernt habe, genutzt, um ein guter Schachtrainer und ein guter Lehrer für Computerwissenschaften zu werden.

CB: Aber die Namen der Fußballvereine sprechen doch eigentlich nur ein englisches Publikum an, oder?

CS: Wissen Sie, wie viele Chinesen die Premier League verfolgen?

CB: Werden Sie den "Sniper" weiterhin spielen, jetzt, wo Sie die Pläne und Eröffnungsgeheimnisse auf einer DVD verraten haben?

CS: Ja! Tatsächlich träume ich von einem 20-Partien Blitz-Match gegen Magnus Carlsen. ChessBase könnte Sponsor sein und wir könnten auf dem playchess.com Server spielen! Wenn ich gewinne, muss Magnus meine DVD küssen! Wenn Magnus gewinnt, dass muss er gegen meine Engine antreten, die "Sniper" spielt, und wenn er auch dieses Blitz-Match gewinnt, dann spende ich alle meine Anteile aus dem ersten Jahr des Verkaufs der "Sniper"-DVD an eine wohltätige Einrichtung nach Magnus' Wahl!

CB: Okay, abschließend noch eine letzte Frage: Was ist Ihre eigene Lieblingspartie mit dem "Sniper"?

CS: Dieses Jahr habe ich eins der wichtigsten Open in Großbritannien gewonnen — Blackpool 2017. In der letzten Runde habe ich mit Schwarz am Spitzenbrett gegen GM Peter Wells gespielt und brauchte ein Remis. Ich wusste, dass die ganze Welt bei der Partie zuschauen würden, denn schließlich sollte meine DVD ja bald erscheinen.  Der Druck war also da: würde ich den "Sniper" auch in der letzten und entscheidenden Runde spielen? Wells eröffnete mit 1.d4 g6 2.e4 Lg7 3.c4 c5…und dann bot ich Remis an. Er nahm an und wir teilten den ersten Preis.

CB: Und was ist Ihre Lieblings-Sniper-Partie eines anderen Spielers?

CS: Einer meiner U8-Schüler spielte den "Sniper" in den zwei Schlussrunden bei einem wichtigen Jugendturnier in Prag. Ich dränge meinen Schülern den "Sniper" nie auf, aber er wollte das einmal ausprobieren. Die Eröffnung hat ihn durcheinander gebracht, aber seine Gegner noch viel mehr!


The Sniper

Der Sniper ist ein universelles Eröffnungsgerüst, das man gegen alle wichtigen ersten Züge von Weiß anwenden kann - 1.e4, 1.d4, 1.c4, 1.f4 und 1.Sf3. Schwarz spielt 1…g6, 2…Lg7 und 3…c5 gegen praktisch alles!

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Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".

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