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Ajeeb in Breslau
Von Hans-Dieter Müller
Während die Geschichte des mechanischen
"Schachtürken" des Freiherrn von Kempelen, nicht zuletzt dank einiger
Publikationen in jüngerer Zeit, recht bekannt ist, sind seine Nachfolger
weitgehend dem Vergessen anheim gefallen. Einen dieser Nachfolger konstruierte
der Tischler Charles Alfred Hooper (1825-1900) in den Jahren 1865 bis 1868 in
der englischen Hafenstadt Bristol. Hooper gab seinem Werk den Namen "Ajeeb"
(nach dem Hindu-Wort für "geheimnisvoll" oder "mysteriös"). Ebenso wie sein
bekanntes Vorbild erhielt "Ajeeb" ein orientalisches Aussehen, an einen Sikh aus
dem Punjab erinnernd (damals Teil von Britisch-Indien). Sein Kopf bestand aus
Wachs, der Körper war aus Pappmachee modelliert. Die Hauptarbeit war jedoch das
ausgeklügelte "Innenleben" des vermeintlichen Automaten, das ja bei jedem
Auftritt dem staunenden Publikum zur Ansicht vorgeführt werden sollte, ohne dass
der darin befindliche Spieler zu sehen sein durfte.
Sogenannte "Tobacco-Card" mit Ajeeb-Darstellung und Werbung (ca 1885)
Seinen ersten Auftritt hatte der Automat im Polytechnischen Institut in London im Jahr 1868 und befand sich danach bis 1876 im berühmten Londoner Kristallpalast (Crystal Palace).
Der Crystal Palace 1854
Im Jahr 1877 begab sich "Ajeeb" dann auf "Tournee" auf das
europäische Festland und hatte so auch Vorstellungen in Paris und Berlin, wo er
in den Räumlichkeiten von "Castans Panoptikum", einem damals sehr beliebten
Wachsfigurenkabinett in der Friedrichstraße, rasch zu einer Attraktion wurde.
Nach drei erfolgreichen (und einträglichen) Monaten zog Hooper im Juni 1877 mit
"Ajeeb" nach Breslau weiter, wo die Außenstelle von "Castans Panoptikum" in der
Königsstraße zum Schauplatz der Vorstellungen wurde.
"Castans Panoptikum" in der Berliner Friedrichstraße (im
Gebäude links), Ende des 19. Jahrhunderts
Innenstadt von Breslau Ende des 19. Jahrhunderts
Adolf Anderssen (1818-1879),
Fritz Riemann (1859-1932) im Jahr 1927
Der Auftritt des vermeintlichen Automaten hatte auch in Breslau reges Interesse hervorgerufen und zahlreiche Zuschauer verfolgten die Partien, wenn "Ajeeb" gegen einen Herausforderer antrat, der dafür einen Einsatz zu entrichten hatte.
Während die "ernsthafte" Breslauer Schachszene die Vorstellungen als Zirkusnummer abtat und ignorierte, ließ sich der Gymnasiast Riemann zum Kampf gegen "Ajeeb" bewegen.
In seinem 1925 erschienenen Buch "Schacherinnerungen des jüngsten Anderssen-Schülers" beschreibt er die Begegnung (S.7f):
"Nicht unerwähnt darf ich den Kampf mit dem Schachautomaten Ajeeb im Juni 1877 lassen. Seitens meiner Mitschüler wurde ich bestürmt, an dem Automaten mein Schachkönnen einmal zu beweisen. Hierzu wurde ein Sonntagvormittag ausersehen. Um 11 Uhr fand sich in Castans Panoptikum in der Königsstraße, in dem Ajeeb seine Vorstellungen gab, ein zahlreicher Kreis junger Leute ein, um dem kommenden Schauspiel beizuwohnen. Ajeeb, hinter dem sich anscheinend ein ganz gewiegter Spieler verbarg, eröffnete giuoco pianissimo und gelangte durch einen Fehler meinerseits in Vorteil. Dieser Fehler war einmal erklärlich durch das schnelle Spielen, zu dem der Unternehmer beständig drängte, sodann aber durch die ungewohnte Umgebung. Schließlich machte Ajeeb den letzten Fehler und verlor.
Noch ein zweites Mal hatte ich Veranlassung, mich mit diesem Spieler zu messen. Eines Nachmittags kurz darauf entbot mich Anderssen in die Weinhandlung von Hansen - damals noch in der Ohlauer Straße- um mich einem alten, ehemaligen Schüler des Friedrichsgymnasiums, einem Freiherrn von Lüttwitz vorzustellen. Dieser bat mich, ihm doch Gelegenheit zugeben, einer Niederlage Ajeebs beizuwohnen. In Gemeinschaft mit ihm und Anderssen begaben wir uns hierauf nach Castans Panoptikum. An diesem Tage schlug ich den anscheinend schon ermatteten Gegner dreimal hintereinander. (...)"
Weiß: "Ajeeb" Schwarz: Fritz Riemann
Gespielt in "Castans Panoptikum, Breslau am 13.Juni 1877
1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Sf6 4.d4 exd4 5.e5 d5 6.exd6 Lxd6 7.0–0 h6 8.Lb5 0–0 9.Lxc6 bxc6 10.Dxd4 Lg4 11.Dd1 Dd7 12.Le3 Tad8 13.Sc3 Df5
14.Sd4??
[14.De2]
14...Dh5 15.f3 Dxh2+ 16.¢f2 Lh3 17.Tg1 Tfe8 18.Dd2 Lc5
19.¢f1 Lc8 20.Sce2 Lxd4 21.Sxd4 c5 22.Lf4 Dh4 23.c3 La6+ 24.Se2 Txd2 25.Lxd2
Lxe2# (0–1)
Dauer: ca.25 Minuten.
Quelle: Riemann,F.: "Schacherinnerungen des jüngsten Anderssen-Schülers", Berlin
1925, S.246f.
Wer zu dieser Zeit der "gewiegte" Spieler war, der hinter"Ajeeb" steckte, ist leider nicht bekannt.
Fritz Riemann stieg in den 1880er Jahren in die deutsche Spitze auf und erzielte eine Reihe herausragender Turnierresultate. Bereits 1889 zog er sich, gerade dreißig Jahre alt, vom Turnierschach zurück.
Charles Hooper kehrte nach seiner Europatournee mit "Ajeeb" wieder nach London zurück und gelangte 1885 in die USA. Dort trat "Ajeeb" im Eden Museum in New York City auf, spielte gegen allerlei Prominenz, setzte u.a. den amerikanischen Vizepräsidenten matt. Noch in den 1880er Jahren verkaufte Hooper seinen Automaten an einen Amerikaner namens Jim Smith und zog sich in den Ruhestand nach England zurück. "Ajeeb" wurde in einen der damals zahlreichen Vergnügungsparks nach Coney Island in Brooklyn verbracht, um den Rest seiner Tage dort zuzubringen.
Vergnügungspark in Coney Island, Brooklyn 1890
Eine Zeit lang war "Ajeeb" noch angesagt und erfolgreich, bekannte Meister wie der damalige Weltklassespieler Harry Nelson Pillsbury setzten die Figuren des Automaten und bekannte und berühmte Zeitgenossen traten auch hier gegen den Automaten an. Mit der Zeit wurde es aber immer schwieriger, starke Schachspieler für den Einsatz in "Ajeeb" zu gewinnen bzw. deren Geldforderungen zu erfüllen, so dass der Automat schließlich nur noch zu Dame-Partien herangezogen wurde. Am 15. März 1929 wurde der inzwischen "außer Dienst" befindliche "Ajeeb" bei einem Brand in einem Abstellraum in Coney Island zerstört.
"Ajeeb in seinen späteren Jahren als "Damespiel-Roboter" in Coney
Island