ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024
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Als Reporter hatte ich das Glück, Andrej Arnoldowitsch häufig zu treffen. Ob
1992 in Sveti Stefan beim Re-Match Fischer-Spasski, danach mehrmals bei
Turnieren in Moskau, Budapest, Wien oder Berlin – immer waren die Begegnungen
und Gespräche mit dem ältesten Großmeister der Welt ein großer Gewinn. Man
musste nicht unbedingt Russisch können, der Mann sprach auch fließend Deutsch.
Wir freundeten uns an, die Besuche bei ihm und seiner gastfreundlichen dritten
Ehefrau Olga in Budapest werde ich nicht vergessen. Das letzte Mal sahen wir uns
zur Schacholympiade 2006 in Turin, wo Andrej in der riesigen Halle „Oval
Lingotto“ mit 95 Jahren noch immer wachen Auges die Partien der Spitzenspieler
verfolgte.
Dass der Mann mit dem goldenen Herzen in der Schachszene nur Freunde und
Verehrer hatte, wurde auch vor einem Jahrzehnt bei der internationalen
Lasker-Konferenz in Potsdam ganz deutlich, deren Ehrengast Lilienthal war.
Minutenlang applaudierte das ganze Auditorium, als der betagte Großmeister, auf
seinen Stock gestützt, den Saal betrat. Abends setzte er dann in einem
Prominenten-Turnier noch erfolgreich die Figuren.
Am Rande der Lasker-Konferenz fragte ich ihn, was das
Besondere am deutschen Weltmeister gewesen ist. Seine Antwort: „Lasker war eine
phantastische, vielseitige Persönlichkeit. Er hat zum Beispiel großartig
analysiert. Dabei sah er immer sehr schnell, was los war. Manche Eröffnungsidee
von ihm war so tiefgründig, dass ich sie im ersten Moment gar nicht recht
verstehen konnte. Wir wurden Freunde, als Lasker und seine Frau im Moskauer Exil
waren. Damals haben wir uns oft gesehen und gemeinsam viel unternommen. 1937
fuhren wir zusammen nach Minsk zu Simultanvorstellungen. Ich habe ihn begleitet
und gesehen, wie freundlich er zum Publikum war. Mit jedem hat er gesprochen.
Obwohl Lasker sehr lange spielen musste, nahm er sich für alle Schachfreunde
viel Zeit.“
Andrej Lilienthal hatte ein langes, erfülltes Leben. Er wurde in Moskau geboren.
Sein Vater war Elektroingenieur und Auto-Rennfahrer, die Mutter Opernsängerin.
Als der Junge zwei Jahre alt war, zog die Familie nach Ungarn, wo Lilienthal die
meiste Zeit seines Lebens verbrachte. Die Verbindung zu Russland verlor er aber
nie. Andrej absolvierte eine Schneiderlehre, wurde jedoch schon früh arbeitslos.
Er kam erst mit 16 Jahren zum Schach, spielte aber schon nach kurzer Zeit so
gut, dass er damit seinen Unterhalt verdienen konnte. Das unstete Leben eines
Schachprofis führte ihn durch halb Europa. Im Cafe "Central" in Wien, im "De la
Régence" in Paris oder im Cafe "König" in Berlin kannte man ihn.
Simultan in Wien
Gern erzählte Andrej eine Geschichte, die Ende der 1920er Jahre in Paris
passierte: „Savielly Tartakower zockte im Cafe Régence gern mit mir. Wir
spielten Blitzpartien um Geld. Der Sieger erhielt 10 Francs, der Verlierer fünf.
Für fünf Francs konnte man damals in einem guten Restaurant ordentlich zu Mittag
essen. Wir spielten Tag und Nacht. Einmal kam Alexander Aljechin in das Cafe
herein, sein Porträt hing dort an der Wand. Die Leute zeigten auf mich und
sagten zu ihm: Dieser Junge spielt ganz ordentlich Blitz. Aljechin schlug ein
Match über vier Partien vor. Ich war bereit dazu, wollte aber mit ihm nicht um
Geld spielen. Die ersten drei Partien konnte ich gewinnen, dann nahm er mir ein
Spiel ab. Aljechin wollte noch vier weitere Partien spielen, aber ich sagte zu
ihm: ‚Doktor, ich würde gern aufhören, damit ich dieses Ergebnis gegen Sie
bewahren kann:‘ Er lächelte über meinen Scherz, und wir spielten keine
Blitzpartien mehr. In normalen Turnieren sind wir uns zweimal begegnet.“
(1,5:0,5 für Aljechin – D.K.)
Nach Lilienthals Worten gehörte das Blitzspiel nicht unbedingt zu Aljechins
größten Stärken. In diesem Metier war Capablanca deutlich besser. Von den
späteren Weltmeistern glänzten Tal und Petrosjan seiner Ansicht nach am
stärksten als Blitzspieler. „Tal spielte mit der leichtesten Hand aller
Champions.“
Lilienthal raucht
In den 1930er Jahren beendete Andrej Lilienthal das Zigeunerdasein und siedelte
wieder nach Moskau über. Er erhielt die sowjetische Staatsbürgerschaft und
spielte mehrmals erfolgreich im UdSSR-Championat. 1940 wurde er gemeinsam mit
Igor Bondarewski Landesmeister der Sowjetunion, ohne in 19 Runden eine einzige
Partie verloren zu haben. Eigentlich hatte Lilienthal die bessere Wertung und
seinen Kontrahenten auch im direkten Vergleich besiegt, aber die Oberen in
Moskau wollten nicht, dass ein Ungar und damit ein Ausländer das Championat
allein gewinnt. So wurde beiden Spielern der Titel des Landesmeisters
zugesprochen.
Andrej Lilienthal gewann eine Reihe internationaler Turniere und bezwang in
seinen besten Jahren die Weltmeister Lasker, Capablanca, Aljechin, Euwe oder
Botwinnik. Allein sein zu gutmütiger Charakter hinderte ihn wohl daran, ganz
nach oben auf den Schacholymp zu kommen. Andrejs großes schachliches Vorbild war
Aljechin, weil er nach eigener Aussage selbst mehr ein taktischer Spieler war.
Aber Lilienthal verstand sich auch sehr gut auf das strategische und auf das
Konterspiel.
„Man kann als Schachspieler nicht nur attackieren. Es ist ebenso wichtig, den
positionellen Stil zu beherrschen. Am meisten Erfolg haben doch die universellen
Spieler. Gute Beispiele dafür sind Spasski, Kramnik oder Anand“, sagte
Lilienthal in einem unserer Interviews. Das war im Januar 2001 in Budapest, als
Wladimir Kramnik und Peter Leko dort ein Schnellschach-Match austrugen. Kramnik
hatte kurz zuvor Kasparow entthront und war auf dem ersten Höhepunkt seiner
Karriere. Lilienthal schwärmte: „Wladimir spielt für mich so Schach wie Paganini
Geige. Er ist ein Virtuose und dazu sehr bescheiden. Seinen Sieg gegen Lekos
Grünfeld-Inder vergesse ich nicht.“
Zuhause in Budapest
Bis ins hohe Alter war der Schachveteran ständig mit dem geliebten Spiel
beschäftigt: „Ich kann ohne Schach nicht leben. Jeden Tag analysiere ich, das
muss einfach sein. Ich habe in meinem langen Leben unzählige Artikel geschrieben
und häufig andere Analysen widerlegt“, sagte er. Das Analysieren war Lilienthals
Lieblingsbeschäftigung. In den letzten Jahren geschah das meist so: Der Mann
legte sich auf die Couch, schloss die Augen, analysierte im Kopf und
kontrollierte seine gewonnenen Erkenntnisse später am Brett. War Besuch im
Hause, dann zog er diesen, während seine Frau Olga in der Küche irgendetwas
Köstliches zubereitete, ins Arbeitszimmer, wo gemeinsam mit dem Gast Partien
angeschaut und Stellungen analysiert wurden. Viele Schachgrößen wie Boris
Spasski, Mark Taimanow, Jewgeni Wasjukow u.a. gaben sich bei den Lilienthals in
Budapest die Klinke in die Hand.
Andor Lilienthal mit Gattin Olga
Etliche Jahre hatte Andrej Lilienthal auch ganz engen Kontakt zu Bobby Fischer,
als sich dieser in der ungarischen Hauptstadt aufhielt.
Lilientha, Sveti Stefan 1992
Sie trafen sich jede Woche bei ihm. Der Amerikaner liebte die
Donau-Metropole, zudem konnte er ja nach dem Haftbefehl aus Washington gegen ihn
nicht in die USA zurück. Sie versammelten sich in Lilienthals Wohnung, wo es
auch zu einer denkwürdigen Begegnung mit Kirsan Iljumschinow kam. Der
FIDE-Präsident hatte 100.000 Dollar in der Tasche, die er Fischer des Nachts als
„Wiedergutmachung“ überreichte, weil die Sowjetunion Jahre zuvor eine
Partiesammlung des Amerikaners in hoher Auflage gedruckt hatte, ohne ihm einen
Cent Tantiemen dafür zu bezahlen.
Immer hatte Lilienthal ein gutes Verhältnis zur jungen Schach-Generation.
Lilienthal, Jelezeki, Olga, Turin 2006
Die Spitzenspieler der Gegenwart sahen zu ihm auf, besuchten ihn gern und beherzigten nicht wenige seiner Ratschläge. Zum 90. Geburtstag schenkten Wladimir Kramnik und Boris Gelfand der Schachlegende Lilienthal in Budapest eine wertvolle Skulptur, die einen Läufer darstellte.
Wien 1996
Auch wenn das Spiel der Könige einen derart hohen Stellenwert in seinem Leben
hatte, so waren dem Charmeur Lilienthal Liebe und Ehe nicht weniger wichtig. Er
war dreimal verheiratet und immer mit russischen Frauen. Sein Rat: „Wenn Sie
glücklich sein wollen, heiraten sie eine Russin!“ Andrej befand sich damit in
illustrer Gesellschaft. Retis Gattin war eine Schauspielerin aus Russland,
Capablanca hatte ebenfalls eine russische Frau.
Andrej Lilienthal hat der Schachwelt große Partien hinterlassen. Sie bleiben wie
er unvergessen. Lieber Freund - rest in peace, see you later!
Lilienthal - große
Siege...