ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024
ChessBase ist die persönliche Schach-Datenbank, die weltweit zum Standard geworden ist. Und zwar für alle, die Spaß am Schach haben und auch in Zukunft erfolgreich mitspielen wollen. Das gilt für den Weltmeister ebenso wie für den Vereinsspieler oder den Schachfreund von nebenan
Wie tickte Bobby Fischer?
Kollegen und Zeitzeugen erinnern sich an den 11. Schachweltmeister
Von Dagobert Kohlmeyer
Fischer in seiner Glanzzeit
Auch am heutigen Tag, fünf Jahre nach seinem Tod und wenige Wochen vor seinem
70. Geburtstag, geben Leben und Wirken von Bobby Fischer noch immer Rätsel auf.
Neue Bücher über das Schachgenie enthüllten weitere Details seiner Vita. 2012
erschienen zum Beispiel die deutsche Ausgabe der interessanten Biographie "Endspiel"
des Amerikaners Frank Brady und "Bobby Fischer comes home" des isländischen
Großmeisters Helgi Olafsson. Viele Schachreporter sind nach wie vor auf Spurensuche.
Ich erinnere mich noch gut, wie die Nachricht vom Ableben des 11. Weltmeisters
am 17. Januar 2008 mitten ins Turnier von Wijk aan Zee einschlug. Sie überschattete
dort alle Ereignisse auf den Brettern. Zu Beginn der sechsten Runde bat die
Turnierleitung um eine Schweigeminute. Es war ganz still in der De Moriaan Halle,
als mehr als 1000 Schachspieler vom Weltmeister bis zum jüngsten Amateur im
Open das Andenken an den amerikanischen Schachgenius ehrten.
Da geriet es zur Nebensache, dass Magnus Carlsen an diesem Tag die alleinige
Führung übernahm, nachdem er seine erste Partie gegen die Ungarin Judit Polgar
strategisch schön gewonnen hatte. Hinterher zeigte der Norweger uns das Spiel
am Demonstrationsbrett im Pressezentrum. Bemerkenswert war auch, dass Wladimir
Kramnik den cleveren Levon Aronjan sieben Stunden lang knetete, bis er nach
110 Zügen das remisliche Turmendspiel doch noch gewonnen hatte. Und dass Peter
Leko gegen Weselin Topalow zweimal patzte und seine Partie erst zum Remis und
dann zum Verlust verdarb.
Die Gedanken der meisten Teilnehmer und Turnierbeobachter aber waren bei Fischer.
Auch die niederländischen Zeitungen widmeten sich an jenem Wochenende ausführlich
diesem Thema. Jede verwies auf die zerrissene Persönlichkeit des Amerikaners.
Das Blatt "De Volkskrant" widmete ihm die Titelstory und schrieb: "Er wird nicht
nur als Schachgenie in die Geschichte eingehen, sondern auch als geistig kranker
King Lear, der seinen eigenen Mythos zerstörte."
Eine ähnliche Meinung äußerte Garri Kasparow schon vor Jahren, als er erklärte:
"Mit seinem Re-Match gegen Spasski 1992 in Restjugoslawien, dessen Partien nicht
die frühere Qualität aufwiesen, hat Fischer seine eigene Legende vernichtet."
Auch im niederländischen "Handelsblatt" prangten ein eindrucksvolles Foto Fischers
und ein Bericht über seinen Tod auf der ersten Seite. Das Leben des Amerikaners
hatte sich vollendet. Er wurde 64 Jahre alt, für jedes Feld des Schachbretts
gab er ein Jahr. Was für eine Symbolik!
Vishy Anand 2008 in Wijk
Gefragtester Gesprächspartner war an diesem Januartag 2008 der amtierende
Weltmeister Vishy Anand, der Fischer zwei Jahre zuvor in Reykjavik am Rande
eines Turniers getroffen hatte und jetzt erstmals Einzelheiten darüber erzählte.
Ich kam gerade hinzu, als der Inder von seinem Landsmann Vijay Kumar (TV) und
dem spanischen Kollegen Leontxo Garcia interviewt wurde:
"Leider habe ich seine große Zeit nicht mitbekommen. Obwohl ich Bobbys wunderbare
Partien erst viel später gesehen habe, kann ich mir gut die Aufregung vorstellen,
die sie damals verursachten. Es ist traurig, dass Fischer so früh gestorben
ist. Aber es ist auch deutlich, dass er in den letzten Jahren kein glückliches
Leben hatte. Eigentlich haben sich die Schachspieler schon 1972 von ihm verabschiedet.
Ich bin froh, dass ich Bobby Fischer vor zwei Jahren in Reykjavik begegnet bin.
Er hat mich damals gefragt, warum ich immer noch das herkömmliche Schach betreibe,
dessen Theorie explodiert ist. Ich erwiderte, dass Schach noch immer sehr lebendig
ist. Die Antwort hat ihm nur mäßig gefallen.
Sehr nett war seine Reaktion, als wir gemeinsam eine Partie angesehen haben
und ich ihm erzählte, welche Züge der Computer am stärksten fand. "Das glaube
ich nicht", sagte Fischer spontan, "das müssen wir selbst untersuchen!" So einem
Glauben an die menschliche Kraft über das digitale Monster begegnet man heute
nicht mehr oft. Bobby Fischer wird als Marylin Monroe des Schachs in unserer
Erinnerung bleiben. Die Welt hat von der Monroe auch nur die schönen und nicht
die dunklen Seiten im Gedächtnis behalten."
In der Ehrengruppe spielten 2008 in der De Moriaan Halle vier Großmeister, die
in Wijk aan Zee früher sehr erfolgreich waren und das Turnier mehrmals gewonnen
haben. Sie waren alle erschüttert von der Hiobsbotschaft und gaben nur kurze
Statements ab. Der Gesprächigste von ihnen war noch der aus Serbien stammende
und in Spanien lebende Ljubomir Ljubojevic: "Ich bin froh, dass unser Turnier
erst heute anfängt. Gestern, als die betrübliche Nachricht kam, hätte ich mich
nicht konzentrieren können. Bobby Fischer war ein Gigant. Er stand zwischen
den Fronten und hat die Schachwelt polarisiert wie kein Zweiter. Die Jahre 1968-72,
als Fischer alles gewann, sind für mich die schönsten der Schachgeschichte.
Eine Todsünde, dass diese Periode nicht länger gedauert hat."
Lajos Portisch sagte: "Ein großer Schock. Der beste Spieler der Schachgeschichte
ist von uns gegangen." Viktor Kortschnoi erklärte: "Ein Schachgenie ist gestorben.
Das ist ein Verlust für die Menschheit." Jan Timman betonte: "Bobby Fischer
war ein großer Schachspieler und ein Beispiel für viele. Sein Buch "Meine 60
denkwürdigen Partien" hatte großen Einfluss auf mich. Es ist bedauerlich, dass
er die Schachwelt nach seinem Titelgewinn verlassen hat."
Gennadi Sosonko war vorsichtig wie immer: "Ich sah das Genie Bobby Fischer in
den 1990er Jahren einmal in Budapest, als der Mann dort im Exil lebte. Aber
ich möchte keine Details verraten. Denn wer weiß, vielleicht kontrolliert Bobby
auch vom Himmel aus, was ich jetzt sage."
Die jungen Schachstars in Wijk aan Zee zeigten sich weniger erschüttert. Für
sie war Bobby Fischer mehr ein Schatten der Vergangenheit. Loek van Wely (geboren
1972) erklärte lakonisch: "Ich kenne Fischers Heldentaten und Partien, aber
erinnere mich auch an seine unschönen antisemitische Äußerungen."
Besonders gern hätte ich an diesem Tag natürlich die Meinung und eine Reaktion
von Boris Spasski gehört, der 1972 in Reykjavik gemeinsam mit Fischer Schachgeschichte
geschrieben hat. Aber der Wahlfranzose war nicht in der Stimmung, irgendeinen
Kommentar abzugeben. Seine Frau Marina, die ich nach mehreren Anrufen in Paris
schließlich erreichte, bat um Verständnis, dass ihr Mann sich so kurz nach Fischers
Tod nicht äußern wollte. Aus früheren Interviews kannte ich aber Boris' Haltung
zu dem Amerikaner, die immer von großem Respekt geprägt war. Spasskis wichtigste
Aussagen haben sich für immer ins kollektive Gedächtnis eingeprägt:
"Bobby hatte eine reine, keusche Beziehung zum Schach. Er verehrte das Spiel
wie einen Gott. Und er war unser erster Gewerkschaftsführer. Dank Fischer sind
die Honorare der Schachspieler bei WM-Kämpfen und Turnieren in den vergangenen
Jahrzehnten bedeutend gestiegen."
Anatoli Karpow, der 1975 am grünen Tisch Weltmeister geworden war, weil Fischer
nicht antrat, hat es bedauert, dass dieses Match nicht zustande kam. Mehrmals
trafen sich die beiden in den 1970er Jahren zu Geheimverhandlungen, aber alle
Bemühungen, selbst ein 5-Millionen-Dollar-Angebot des philippinischen Präsidenten
Marcos, scheiterten an Fischers Extra-Forderungen. "Unser nicht gespieltes WM-Duell
war ein Versäumnis der Schachgeschichte", erklärte Karpow.
Genies haben Alpträume
Bobby Fischer hat dem Russen bis an sein Lebensende nicht verziehen, dass er
den Weltmeistertitel 1975 kampflos angenommen hat. Warum aber ging der Amerikaner
damals einem WM-Match mit Karpow aus dem Wege? Es gab schon viele Erklärungsversuche,
bis heute kommen immer neue hinzu.
In Moskau lebt ein Mann, der Fischers Psyche vor knapp vier Jahrzehnten gründlich
studierte. Waleri Krylow, heute 70 Jahre alt, war Anatoli Karpows Fitnesstrainer
sowie dessen wichtiger psychologischer Berater und Wegbegleiter. Am Rande des
WM-Finales 2012 zwischen Anand und Gelfand traf ich Krylow wieder, der sich
an die damalige Zeit noch genau erinnert:
"Als Karpow Herausforderer von Fischer wurde, übernahm das Zentralkomitee der
Kommunistischen Partei in Moskau die Kontrolle über die Vorbereitung. Karpow
sollte unbedingt gewinnen. Dazu war eine entsprechende Physis nötig. Der schmächtige
Anatoli scheute damals jede körperliche Anstrengung. Ich sollte mit ihm arbeiten,
aber er wollte nicht mit mir trainieren. Ich sagte ihm, wenn du mich ablehnst,
übernimmt ein anderer meine Aufgabe."
Waleri Krylow
Karpow wog seinerzeit 57 kg, er konnte nur ein paar Meter weit schwimmen, nach
fünf Kniebeugen wurde ihm schwindlig, amüsiert sich Krylow noch heute. In der
Folgezeit machte er aus seinem Zögling einen zähen Kämpfer. Anatoli war ja viel
kleiner und schwächer als Fischer. Der Amerikaner, knapp 1.90 Meter groß und
austrainiert, boxte, schwamm und spielte Tennis. Körperlich war Fischer seinem
Herausforderer weit überlegen. Aber da gab es noch eine andere Seite, die nach
Krylows Meinung entscheidende Bedeutung hat:
"Das Wichtigste im Schach ist nicht, ob man Bärenkräfte besitzt, sondern die
psychologische Standfestigkeit. Auch daran begannen wir zu arbeiten. Hilfe bekamen
wir von einem medizinisch-biologischen Institut, das für Kosmonauten arbeitete.
Wir konsultierten ein Labor, in dem die Biorhythmen untersucht wurden. Die Hauptsache
für einen Schachspieler in einem Match ist die Qualität seines Schlafs. Ich
musste dafür sorgen, dass Karpow schnell einschlief. Sein Gehirn sollte vom
unablässigen Analysieren der Partien abgelenkt werden. Mit einer bestimmten
Methode konnte er in einen solchen Zustand versetzt werden, dass er schneller
regenerierte als nach mehreren Stunden Schlaf. Während eines Turniers wohnten
Anatoli und ich immer in benachbarten Zimmern. Ich erfasste alle Daten seines
Schlafs. Genaue Details, wie das geschah, werde ich hier aber nicht preisgeben."
Gern war Waleri Krylow bereit, die Frage zu beantworten, ob Karpow damals psychologisch
stark genug gewesen wäre, einen Weltmeisterschaftskampf gegen Fischer erfolgreich
zu bestehen: "Wenn Bobby sich in guter gesundheitlicher Verfassung befunden
hätte, bezweifle ich das. Dann hätte keiner ihn bezwingen können. Vor dem WM-Match
wurden Daten über Fischer in allen Ländern gesammelt, in denen sich sowjetische
Botschaften und Handelsvertretungen befanden. Man analysierte alle Informationen
und kam zu dem Schluss, dass der Mann psychisch krank ist."
Krylow ist sich wie die meisten Fachleute sicher, dass Fischer schizophren war.
Einerseits habe der Amerikaner stur darauf beharrt, dass Remispartien nicht
gewertet wurden. Er nahm also einen langen Wettkampf in Kauf. Gleichzeitig befürchtete
er aber, sein Gesundheitszustand könnte sich im Laufe eines Matchs, das sich
über Monate hinzieht, verschlechtern. Deshalb lehnte er es ab zu spielen. Wenn
auch nur die theoretische Möglichkeit bestand zu verlieren, setzte Fischer sich
nicht ans Brett. Ein typisches Merkmal für die angeknackste Psyche des Schachgenies.
Intensiv hat sich Krylow auch mit dem Genie-Begriff beschäftigt und meint, dass
dieser in der Schachszene viel zu häufig gebraucht wird. Ganz erstaunlich ist,
dass der Moskauer selbst seinen hochbegabten Zögling Karpow nicht als Genie
ansieht, wohl aber Fischer: "Karpow und Kasparow sind äußerst talentiert, keine
Frage. Sie können aber nicht zu den genialen Schachspielern gezählt werden.
Fischer jedoch war ein Genie. Der Unterschied ist folgender: Bei einem genialen
Schachspieler ist die Rechenfähigkeit übermäßig stark ausgeprägt, wogegen andere
Funktionen seines Gehirns mehr unterdrückt sind. Diesen Standpunkt vertritt
die Psycho-Physiologie.
Das schachliche Gedächtnis Fischers war einmalig, auf diesem Felde ist er unerreicht
gewesen. Das Einzige, was solche Menschen wie ihn am Leben interessiert, ist
die Art ihrer Tätigkeit. Sonst nichts. Und es gibt für sie keinen größeren Alptraum
als die Furcht vor Niederlagen. Dann können sie völlig den Verstand verlieren.
Von den heutigen Spitzenspielern hat Wassili Iwantschuk genialische Züge. Seine
Psyche ist nicht stabil, in manchen Situationen erinnert er sehr an Fischer."
Die Genie-These des Sport-Gurus aus Moskau ist interessant, aber auch diskussionswürdig.
Nicht jeder Schachfreund dürfte ihr zustimmen. Der Autor möchte Waleri Krylow
in dem Punkt widersprechen, dass Karpow und Kasparow keine genialen Spieler
sind. Wer denn sonst? Aber was den Grad der schachlichen Besessenheit und den
kompromisslosen Kampf Mann gegen Mann am Brett angeht, hat Fischer die beiden
K. sicher übertroffen.
Wie der Chimborasso
Vlastimil Hort
Vlastimil Hort kannte Bobby Fischer gut und schätzte ihn. Er hat etliche Turnierpartien
mit dem Amerikaner gespielt und respektable Ergebnisse dabei erzielt. Jahrelang
wollte der Großmeister aus Köln öffentlich nichts über sein Verhältnis zu Fischer
und dessen Rolle in der Schachgeschichte sagen. Am Rande des letzten Sparkassen
Chess-Meetings in Dortmund erklärte sich Vlastimil aber bereit zu einer klaren
Meinungsäußerung:
"Für mich war Bobby Fischer die allergrößte Figur der gesamten Schachwelt. Er
ist mit keinem anderen Spieler vergleichbar, nicht mit Michail Tal, nicht mit
Garri Kasparow oder Vishy Anand. Aus einem einfachen Grund: Wenn man sich die
Partien Fischers aus seiner gesamten Karriere anschaut, findet man bei ihm so
gut wie keine kurzen Unentschieden. Da überragte er alle anderen so wie der
Chimborasso einen Misthaufen *). Er kämpfte jede Partie bis zur letzten Figur
aus, das war seine Einstellung. Diese Haltung ist sehr wichtig. Man geht ans
Brett und spielt die Partie bis zu Ende.
Wer macht das heute noch? Zum Beispiel haben es Vishy Anand und Boris Gelfand
bei ihrem WM-Kampf in Moskau nicht getan. Das muss ich kritisieren. Egal, ob
die Stellung im Gleichgewicht ist oder nicht, man muss weiter kämpfen. Wir können
doch erwarten, dass solche wichtige Partien bis zu Ende gespielt werden. So
wie Fischer es 1971 beim Kandidatenmatch in Vancouver gegen Mark Taimanow getan
hat. In der zweiten Partie zum Beispiel hat Taimanow in einem langen Remis-Endspiel
unter Druck schließlich einen Fehler gemacht, und Bobby Fischer gewann tatsächlich
noch.
Ich bin ein großer Fischer-Fan, was das Schach anbetrifft. Nach seinen politischen
Ausfällen wurde darüber diskutiert, wohin mit ihm. Man wollte ihn ins Gefängnis
oder in ein Sanatorium schließen, obwohl Bobby Fischer doch so viel für die
USA getan hat. Durch ihn hat das Land erst Schach entdeckt. Ich bin froh, dass
er jetzt seine Ruhe gefunden hat."
*) Bekannt ist Arthur Schopenhauers Satz: "Schach überrangt alle anderen Spiele
wie der Chimborasso einen Misthaufen."
Eine Anmerkung des Autors zum Stichwort "überragen". Magnus Carlsen, die Nr.
1 der Weltrangliste, wird auf Grund seiner aktuellen, historischen Bestmarke
von 2861 ELO-Punkten mit Recht als überragender Schachspieler der Gegenwart
bezeichnet. Dennoch reicht die Überlegenheit des Norwegers noch nicht an die
von Kasparow oder Fischer zu deren besten Zeiten heran. Abgesehen von der inflationären
Entwicklung im Ratingbereich und von der Tatsache, dass Carlsen keinen Weltmeistertitel
hat, zeigt die Statistik eindeutig, dass kein Schachspieler außer Fischer die
Gegnerschaft ähnlich überragte wie ein hoher Berg. Der Amerikaner besaß 1972
eine ELO-Zahl von 2785 und hatte damit 125 Punkte mehr als der Zweitplatzierte
Boris Spasski!
Spasski - Fischer 1972
Eine Lehre fürs Leben
Peter Leko ist der jüngste aus einer stattlichen Reihe von Spitzenspielern,
mit dem ich über Bobby Fischer gesprochen habe. Der Ungar lernte den Amerikaner
als Teenager in den 1990er Jahren in Budapest kennen, hat mit ihm analysiert
und Fischers tiefes Schachverständnis bewundert. Erstmalig macht Peter hier
seine Erinnerungen an den 11. Weltmeister öffentlich:
Peter Leko
Ich war noch sehr jung, als ich zum ersten Mal von Bobby Fischer hörte. Das
war etwa mit acht Jahren. Als Siebenjähriger hatte ich Schach gelernt. Wenn
man mit dem Spiel beginnt, eignet man sich erst die Regeln an, übt eifrig, die
Figuren richtig zu bewegen. Diese Entwicklung ging sehr schnell bei mir. Danach
interessierte ich mich auch für Schachgeschichte. Meine Trainer erzählten mir
von diesem großen Weltmeister.
1992 habe ich dann ganz interessiert die Partien des Re-Matchs von Fischer und
Spasski in Ex-Jugoslawien verfolgt. Ich war heiß darauf, denn ich wusste um
die historische Bedeutung ihres großen WM-Kampfes von 1972. Es war mir aber
auch klar, dass beide nicht mehr auf diesem Level spielen konnten. Wenn man
im Schach nicht ständig die neuesten Entwicklungen verfolgt, dann ist es, vor
allem was die Theorie angeht, nicht möglich, das höchste Niveau zu halten.
Ich war damals ein aufstrebender Jungstar und glaubte 1992 allen Ernstes, dass
ich schon mit beiden Altmeistern mithalten könnte. Denn ich war sehr ehrgeizig,
hatte zu diesem Zeitpunkt bereits gegen Karpow remisiert, die erste Großmeisternorm
gemacht und dachte, mit denen kannst du es auch aufnehmen. Ich war in meiner
Entwicklung wirklich schon ganz schön weit und hatte daher solche hochtrabenden
Gedanken.
Erst Jahre später, als ich dann Bobby Fischer persönlich kennenlernte und mit
ihm analysierte, habe ich gemerkt, wie genial er ist. Wir haben nie gegeneinander
gespielt, sondern uns nur Stellungen und Partien angesehen. Ich gehörte damals
schon zu den Supergroßmeistern, doch auch für mich war sensationell, was Fischer
alles auf dem Brett gesehen und mir gezeigt hat. Ich erfuhr eine Menge, wie
er über Schach denkt, was er über das Spiel weiß, es war einfach unglaublich.
Das hätte ich niemals gedacht, und es hat mich aufs tiefste beeindruckt.
Zum ersten Mal begegneten wir uns im Mai 1998 in Budapest. Bobby war schon fünf
Jahre dort, das wusste ich. Alle Schachspieler wollten sich damals mit ihm treffen.
Ich aber hatte zu viel Respekt vor ihm und forcierte es deshalb nicht. Natürlich
war ich ebenfalls bereit, ihn jederzeit zu treffen, doch wollte ich ihn auf
keinen Fall stören. Ich fand ihn phantastisch und dachte, wenn sich die Gelegenheit
zu einer Begegnung bietet, dann nehme ich sie gern wahr. Doch solange er nicht
selbst den Wunsch hätte, sich den jungen Leko anzuschauen, wollte ich ihn nicht
behelligen. Wenn er das aber signalisieren würde, wäre ich sofort bereit gewesen.
Durch ein kleines Wunder ist es dann 1998 passiert. Ich erhielt tatsächlich
einen Anruf, und Fischer hat den Wunsch geäußert, mich kennenzulernen. Die Sache
kam durch einen Ungarn zustande, der nach Australien ausgewandert war und eigentlich
nichts mit Schach zu tun hatte. 1992 spielte ich ein großes Open in Sidney,
und wir freundeten uns dort an. Der Mann war ein guter Freund von Portisch und
kam in jedem Sommer nach Ungarn. Dort hatte er dann auch Kontakt zu Fischer.
Zwei Sommer lang musste ich mich noch gedulden, bis Bobby mir über diesen Mann
ausrichten ließ, dass er mich sehen möchte.
Wir trafen uns im Budapester Thermalbad Rudas. Es war um 18 Uhr abends, danach
lud Bobby meine Mutter und mich noch zum Essen ein. Es wurde ein sehr schöner
Abend, der bis 0.30 Uhr dauerte. Man konnte schon sehen, dass dieses erste Treffen
ein absoluter Volltreffer war. Unser Verhältnis ist für die darauf folgenden
18 Monate, die Fischer noch in Ungarn blieb, sehr eng gewesen.
Bobby wusste einfach alles über die älteren Meister und ihre Partien. Zum Beispiel
zeigte er mir, was in den Spielen von Tigran Petrosjan los war. Er schätzte
Petrosjan wirklich sehr hoch ein. Schon am ersten Abend äußerte er auch mir
gegenüber seine bekannten Vorwürfe gegenüber Karpow und Kasparow, die ihre Partien
abgesprochen hätten. Sensationell für mich war nicht, was Fischer da gesagt
hat, sondern seine große Liebe, seine Leidenschaft und sein tiefes Verständnis
für das Schach. Das hat mich schon beim ersten Treffen schwer beeindruckt.
Absolut phänomenal war Fischers Gedächtnis. Er konnte jede beliebige Partie
aus der Vergangenheit aufstellen und alle kritischen Momente kommentieren, wer
wo einen Fehler gemacht hat und was er stattdessen hätte ziehen sollen.
Bobby Fischer war auch mehrmals bei uns zu Hause in Szeged, und wir hatten eine
schöne Zeit. Ich kann bestätigen, dass unser Besucher unglaublichen Appetit
besaß. Meine Oma kochte für uns und sagte, dass sie so etwas noch nicht erlebt
hat. Weil ich kein Fleisch esse, bereitete sie vegetarische Gerichte zu. Bobby
fügte sich als Gast und verspeiste alles, was serviert wurde. Besonders mochte
er die fernöstliche Küche. Darum überraschte es mich nicht so sehr, dass er
kurze Zeit darauf von Ungarn nach Japan ging. Er tat es wohl auch, um dort seine
Uhr zu vermarkten. Bobby hatte viele grandiose Ideen, egal in welche Richtung
er seine Energie verteilte.
Ich bin sehr froh, ihn als Menschen näher kennengelernt zu haben. Es war eine
phantastische Gelegenheit für mich, in seine Gedankenwelt einzutauchen. Weil
ich damals sehr jung war, habe ich zu ihm aufgeblickt und fand ihn als Freund
super. Durch die merkwürdigen Interviews, die Bobby dann hin und wieder gegeben
hat, kann man ein völlig anderes Bild von ihm bekommen. In der Zeit, wo wir
zusammen waren, habe ich gespürt, er ist ein unglaublich lieber Mensch mit einem
großen Herzen. Ich denke, wenn man nur seine bizarren Äußerungen liest, dann
kommt das nicht so rüber.
Fischer war mental nicht stabil, das ist kein Geheimnis. Deshalb habe ich nicht
jede seiner Äußerungen so ernst genommen. Seine politischen Ansichten konnte
ich, auch wenn wir befreundet waren, natürlich nicht teilen. Sie waren inakzeptabel,
zum Glück waren diese Ausfälle nicht sein Vermächtnis. Aber was der Mann schachlich
geleistet hat, ist einfach grandios.
Meine Generation wurde mit Computern groß. Einem so bedeutenden Schachspieler
wie Fischer waren die Rechner eher unangenehm. Die Erklärung dafür ist einfach.
Fischer spielte wirklich phantastisch, aber mit dem Computer konnte man vielleicht
beweisen, dass seine Züge doch nicht so genial waren. So wie es mit den Schachprogrammen
gekommen ist, das hielt er für keine schöne Entwicklung. Ich kann es ihm nachfühlen.
Die Spitzenleute strengen sich am Brett an, doch heute kann jeder beliebige
Amateur einen Supergroßmeister sofort nach der Partie mit Hilfe von "Fritz"
oder "Houdini" für seine Züge kritisieren.
Ich erinnere mich zum Beispiel an eine sehr spannende Partie gegen Garri Kasparow
in Linares. Hinterher haben wir das komplizierte Spiel zwei Stunden lang gemeinsam
analysiert. Ich war sehr glücklich über unsere Erkenntnisse, denn die Partie
war voller Verwicklungen. Plötzlich kamen die Journalisten und sagten uns, dass
der Computer gezeigt hat, dieser und jener Zug seien besser. So etwas ist einfach
schädlich für die Kreativität und uns Spielern gegenüber nicht besonders fair.
Die Schachspielkunst und der Kampf Mann gegen Mann verlieren dadurch ihren Reiz.
Eine andere Geschichte ist Bobbys Fischerandom-Idee. Ich habe das öfter gespielt,
auch bei den Chess Classic in Mainz. Eine interessante Sache, doch sie wird
nach meiner Ansicht wohl nicht genügend populär. Diese Spielart ist noch komplizierter
als das herkömmliche Schach und deshalb eigentlich nur von Profis genau zu verstehen.
Denn die normalen Schachliebhaber kommen damit nicht so gut zurecht. Wieso soll
ein Klubspieler dann vom normalen Schach zu Chess960 wechseln? Ihm macht doch
das gewohnte Figurenschieben Spaß, und er findet es überhaupt nicht langweilig.
Ich denke, künftig werden vielleicht nur noch Großmeister an Fischerandom-Turnieren
interessiert sein und weniger die Amateure
Mit Bobby selbst habe ich nie Fischerandom gespielt. Wir analysierten vorwiegend
meine Partien. Ich zeigte ihm, was ich vorbereite, er gab mir wertvolle Tipps.
Das geschah 1999, und ich gehörte schon zu den Besten der Schachwelt. Selbst
da konnte ich kaum mit Bobby mithalten. Und ich hatte das schon 1992 in meiner
Naivität geglaubt. Was für ein Irrtum und eine Lehre fürs Leben!
Bobby Fischer ist nicht zufällig Weltmeister gewesen. Ich merkte bei jeder Begegnung,
wie brillant er war. Wenn wir analysierten, blitzte seine große Klasse auf.
Leider war er so scheu und deshalb sehr allein. Ein Mensch voller Misstrauen,
der kaum jemanden an sich heranließ. So wie ein einsamer Wolf. Das ist natürlich
sehr schade.