Erinnerungen an den Schachfreund Michail Gorbatschow
Die Welt trauert um eine große Figur der Zeitgeschichte: Michail Gorbatschow. Als am gestrigen späten Abend die Nachricht von seinem Tod kam, war ich tief betroffen und erinnerte mich zugleich an denkwürdige Begegnungen mit ihm. Denn der frühere sowjetische Präsident hatte viel für Schach übrig und beehrte mit seiner Anwesenheit etliche Großereignisse des Denksports. Zweimal konnte ich mich selbst davon überzeugen.
Am Ende des Weltmeisterschaft-Finales 1998 von Anatoli Karpow und Viswanathan Anand in Lausanne erschien überraschend der prominente Staatsmann aus Moskau. Es war ein freundlicher Januartag am Genfer See, als Gorbis russischer Landsmann Karpow in dem Match seine Schachkrone gegen den Inder mit viel Mühe verteidigte. Nach einem 3:3 in sechs Partien mit normaler Bedenkzeit konnte Karpow den FIDE-Titel erst im Schnellschach retten, wobei ihm Routine und Glück sehr zu Hilfe kamen.
Kaum hatten die beiden Schachspieler ihren letzten Zug getan, verschwanden sie von dem kleinen Podium, auf dem sie gesessen hatten, um sich für die Siegerehrung frisch zu machen. Ein Mitarbeiter von FIDE-Präsident Iljumschinow hatte mich auf den hohen Besuch aufmerksam gemacht, der gerade vorgefahren war, so dass ich rechtzeitig zum Treffen mit Gorbatschow kam. Und so standen wir, eine Schar ausgewählter Journalisten, mit dem Ehrengast etwa eine Viertelstunde um den Tisch herum, auf dem Brett und Figuren des spannenden WM-Kampfes noch im Licht der Scheinwerfer glänzten.
Gorbatschow in Lausanne, 1998
Michail Sergejewitsch ergriff einen der weißen Steine, drehte ihn in der rechten Hand und erzählte von seinen früheren Erinnerungen an das Schachspiel: „Es war während des Krieges im Kaukasus, und die Leute bei uns haben sich damals, wenn sie kein Spielmaterial besaßen, Schachfiguren aus Holz geschnitzt. Obwohl sie große Not litten, war es für sie sehr wichtig, ihren Geist mit dem Schachspiel zu stärken. Dieses Erlebnis von damals habe ich bis heute nicht vergessen.“
Ich war beeindruckt, von der schlichten und zugleich fesselnden Art, in der Gorbatschow zu uns sprach. So wie ein Vater, der seinen Kindern etwas ganz Normales möglichst plausibel erklärt. Der Mann hat Weltpolitik gemacht, dachte ich bei mir. Er hat den kalten Krieg beendet und vielen Menschen die Freiheit gegeben. Dennoch gibt er sich so einfach, wie nur irgendein Mensch es sein kann.
Beim Herausgehen aus dem Olympischen Museum, wo das Match stattgefunden hatte, fing mich ein Fernsehteam des WDR ab, das eine Sendung über die Schach-WM drehte. „Sie sind ein bekannter Schachjournalist. Was sagen Sie über den Weltmeister Karpow?“ - „Was heißt bekannt, der bekannteste Mensch steht dort im Saal“, erwiderte ich, bevor ich die Frage des Reporters beantwortete: „Mit Karpow ist es wie mit einem guten Wein. Je älter er wird, umso besser spielt er.“ Etwas anderes fiel mir in diesem Augenblick nicht ein. Gorbatschow hätte sicher bessere Worte gefunden.
14 Jahre später in Moskau gab es noch einmal Gelegenheit, Michail Sergejewitsch zu treffen. Im Mai 2012 fand das WM-Finale zwischen Vishy Anand und Boris Gelfand in der Tretjakow-Galerie statt. Zur Eröffnung des Zweikampfes um die Krone waren wieder viele bekannte Gesichter zu sehen, darunter auch die Schachlegende Juri Awerbach. Der Russe (Jahrgang 1922) war damals bereits 90 Jahre alt und der älteste lebende Großmeister der Welt. Im Februar dieses Jahres konnte er sogar noch seinen 100. Geburtstag feiern, doch leider verstarb er drei Monate später. Wie wir wissen, lehnte Awerbach die Politik Putins und dessen Machtansprüche ab.
Gorbatschow und Awerbach, dahinter (verdeckt) Dirk Jan ten Geuzendam und Maxim Dlugy
Als Ehrengast des WM-Matchs 2012 wurde wiederum auch Michail Gorbatschow begrüßt. Diesem Umstand verdanke ich es, dass ich zum zweiten Mal in meinem Reporterleben die Gelegenheit bekam, mit dem Friedensnobelpreisträger zu sprechen. Wir unterhielten uns über die Traditionen des Schachs in Russland und in der Sowjetunion sowie über seine Bedeutung für die Erziehung junger Menschen. Gorbatschow sagte, er unterstütze seit Jahren als Patron das Schulschachprojekt des Weltverbandes FIDE. Es passte zum Naturell dieses Mannes, dem Politiker und Versöhner, dass er so viel für das friedliche Spiel übrighatte. Sein heutiger Nachfolger im Kreml hingegen hat es überhaupt nicht. Er interessiert sich mehr für Kampfsportarten. Wenn in Moskau wichtige Schachturniere oder WM-Kämpfe stattfanden, schaute er nie vorbei.
Es ist kaum zu erwarten, dass die jetzige Kreml-Führung ein Staatsbegräbnis für Michail Gorbatschow ausrichtet. Zu viele nehmen ihm übel, dass die Sowjetunion heute nicht mehr existiert. Er wird seine letzte Ruhe auf dem bekannten Новоде́вичье кла́дбищe (Neujungfrauen-Friedhof) in Moskau neben seiner Frau Raissa finden, die 1999 viel zu früh verstorben ist. Zu diesem Zeitpunkt war die Berliner Mauer schon 10 Jahre gefallen und der Autor dieser Zeilen in vielen Ländern als Schachreporter unterwegs. Dank seiner gewonnenen Freiheit, an der Gorbatschow wohl die größte Aktie hat.
Michael Gorbatschow und der Autor, dahinter Kirsan Iljumschinow
Spasibo Michail Sergejewitsch!