Erinnerungen an Don Miguel
Von Dagobert Kohlmeyer
Miguel
Najdorf - das ist Schachgeschichte pur. Heute wäre der legendäre Großmeister aus
Argentinien 100 Jahre alt geworden. Als er am 5. Juli 1997 starb, trat eine der
schillerndsten Figuren des königlichsten Spiels von der Bühne ab. Die Nachricht
traf damals während der Dortmunder Schachtage ein, wo Anatoli Karpow sie mir
beim Frühstück im Hotel erzählte. Najdorf war in der Nacht zuvor im spanischen
Malaga an Herzversagen gestorben. Die größte argentinische Zeitung „Clarin“, in
der Don Miguel jahrzehntelang Schachkolumnist war, spürte Karpow in Dortmund auf
und bat den 12. Weltmeister um einen Nachruf. Betroffene Gesichter auch bei
Vishy Anand, Nigel Short und den anderen Großmeistern, als die traurige
Botschaft vor dem dritten Spieltag des Chess Meetings die Runde machte. Sie alle
mochten den argentinischen Grandseigneur des Schachs sehr. Hauptschiedsrichter
Lothar Schmid kannte Najdorf am längsten: „Miguel war eine Naturbegabung, wie es
sie ganz selten gibt. Er besaß so viel Schachverstand, dass er seiner Intuition
getrost vertrauen konnte. Die Ideen flogen ihm nur so zu.“
Ich hatte das Glück, Miguel
Najdorf in den 1990er Jahren mehrmals zu treffen: zum Beispiel in Buenos Aires
beim legendären Sizilianisch-Turnier, beim WM-Kampf Kasparow-Anand im New Yorker
World Trade Center und bei der Schacholympiade 1996 in Jerewan.
Jerewan 1996
Die Gespräche mit ihm waren
immer interessant und anregend. Besondere Möglichkeiten dazu ergaben sich
während des besagten Sizilianisch-Turniers 1994 in Buenos Aires. Hier ein paar
Erinnerungen:
Das Turnier fand zu Ehren von
Lew Polugajewskis 60. Geburtstag statt, Sponsor war der holländische Mäzen Joop
van Oosterom. Gespielt wurde in einem Bankhaus mitten in der argentinischen
Hauptstadt. Jeden Tag kam Najdorf immer chic gekleidet ins Pressezentrum. Der
damals älteste lebende Großmeister der Welt verfolgte mit wachen Augen auf dem
Monitor die Partien. Najdorf, die Schachlegende, war mit 84 Jahren noch immer
sehr fidel. Temperamentvoll diskutierte und analysierte er mit Lew Polugajewski,
Bent Larsen oder anderen Koryphäen und spielte Blitzpartien.
Zwischendurch wickelte er mit dem Handy geschäftliche Dinge ab. Trotz seines
biblischen Alters arbeitete Najdorf noch immer. Die Schachgrößen von heute, ob
Karpow, Anand oder Schirow, näherten sich dem Maestro respektvoll.
Sie wussten - er kannte die
Lichtgestalten der Zunft, darunter das Dreigestirn Lasker, Capablanca und
Aljechin, noch persönlich. Nach der Schacholympiade 1939 blieb der aus Polen
stammende Großmeister, weil er als Jude verfolgt wurde, wie etliche seiner
Kollegen in Südamerika.
Don Miguel machte in Argentinien
mit seiner eigenen Versicherungsfirma ein Vermögen und war manchmal etwas
exzentrisch. Aber das nahm dem Mann von Welt in der Schachszene kaum einer übel.
Sein Charme und seine Leidenschaft für unseren Sport machten das wett. Najdorf
verwies mit Stolz auf den Stellenwert des königlichen Spiels in seiner
Wahlheimat: "Fußball ist bei uns Nummer 1, ganz klar, aber dann kommt gleich
Schach, besonders in diesen Turniertagen. In der Zeitung täglich zwei Seiten und
massenhaft Zuschauer." Najdorf erzählte mir, dass beim WM-Kandidatenfinale 1971
in Buenos Aires zwischen Bobby Fischer und Tigran Petrosjan insgesamt 30 000
Schachfans zusahen. Die Plätze reichten bei weitem nicht, unzählige Leute
mussten damals die Partien von der Straße aus verfolgen.
Der Schach-Oldie freute sich
besonders darüber, dass beim 1994er Eliteturnier nur Sizilianisch, darunter s
e i n e Eröffnung, gespielt wurde.
Die Najdorf-Variante (1.e4 c5
2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6), eines der komplexesten Systeme, das die
Schachtheorie kennt, kam in vielen Partien aufs Brett. An einem Nachmittag in
Buenos Aires hatte ich Gelegenheit, einige Minuten länger mit Don Miguel zu
sprechen:
Was bewog Sie
seinerzeit, in Argentinien zu bleiben?
Ich spielte bei der
Schacholympiade 1939 am zweiten Brett der polnischen Mannschaft. In Europa brach
der Krieg aus, und ich habe dort meine ganze Familie verloren: meine Frau, meine
Tochter und meine vier Brüder. Ich habe sie nie wieder gesehen.
Wovon lebten
Sie in Südamerika?
Nicht vom Schachspielen. Ich war
ja Amateur. Als studierter Mathematiker trat ich in eine Versicherungsfirma ein
und gründete später mein eigenes Unternehmen. In diesem Metier bin ich noch
heute tätig.
Mit welchen
Größen der Schachgeschichte haben Sie am Brett gesessen?
Mit Capablanca, Aljechin,
Botwinnik oder Bogoljubow. Auch mit Emanuel Lasker. Gegen den deutschen
Weltmeister habe ich zwar nicht mehr gespielt, aber ich war mit ihm befreundet.
An welche
Partien erinnern Sie sich noch heute besonders gern?
Zum Beispiel an die 1939 in
Margate, als ich gegen Capablanca eine verlorene Stellung noch ins Remis retten
konnte. Gute Partien gewann ich 1946 in Groningen gegen Botwinnik und 1966 in
Santa Monica gegen Fischer. Beim Wettkampf UdSSR gegen den Rest der Welt 1970 in
Belgrad spielte ich 2:2 gegen Tal.
Was war Ihr
größter Erfolg?
Der Turniersieg beim Capablanca
Memorial 1962 in Havanna vor Spasski und Polugajewski. Ich gewann trotz zweier
Auftaktniederlagen (eine davon gegen Wolfgang Pietzsch aus Leipzig – D.K.) Neun
Gewinnpartien in Serie sicherten mir dann den Erfolg. Das war unvergesslich.
Welches war
Ihre allerschönste Partie?
Da muss ich nicht lange
überlegen. Es war natürlich die sogenannte "Polnische Unsterbliche", bei der ich
1935 in Warschau viele Figuren opferte und dann mattsetzte.
Sie hielten
auch zwei Schach-Weltrekorde...
Ja, das stimmt. 1943 spielte ich
an 202 Brettern simultan. Das Ergebnis lautete damals + 182, - 8, = 12. Und bei
einer Blind-Simultanvorstellung an 45 Brettern im Jahre 1947 gab es für mich 39
Siege, zwei Niederlagen und vier Remis.
Welche Meinung
haben Sie über Bobby Fischer?
Er war ohne Zweifel einer der
besten Schachspieler, die es je gab. Aber seine große Zeit ist längst vorbei.
Gegen Kasparow hätte er heute keine Chance.
Bitte noch ein
Wort über Schach und Computer.
Diese Dinger sind sicher nötig,
aber durch sie wird das Schach auch ärmer. Es erfreut einen nicht gerade, wenn
der Gegner heute 30 Züge machen kann, ohne nachzudenken.
- Spielen Sie
selbst noch?
Heute blitze ich nur noch hin
und wieder im Cafe.
Damit war unser Gespräch beendet. Mit dem Hinweis auf sein hohes Alter bat mich
Miguel, ihn für heute in Ruhe zu lassen. Das Turnier dauere ja noch länger. Ich
dankte und zog mich zurück. Der Schachhero aber wandte seine Aufmerksamkeit
wieder den Monitoren im Pressezentrum zu, um die Partien des Tages zu verfolgen.
Er tat es, nicht ohne seinen kahlen Kopf über diesen und jenen Zug der
Top-Spieler von heute zu schütteln.
Gegen Castro und Che
Miguel Najdorf hatte in seiner
langen Laufbahn eine Unmenge interessanter und kurioser Erlebnisse. Mit
besonderem Vergnügen erzählte er mir an einem anderen Tag jene nette Episode aus
Kuba, die nun fast 50 Jahre zurückliegt:
"1962 gewann ich das Großmeisterturnier von Havanna. Damals kamen Fidel Castro
und Ernesto Che Guevara täglich in den Turniersaal, um die Partien zu verfolgen.
Einmal fragte mich Che Guevara, ob ich nicht eine Blindsimultan-Vorstellung für
die kubanische Regierung geben wollte. Ich wunderte mich etwas über diese
ungewöhnliche Bitte, sagte aber natürlich zu.
Am ersten Brett spielte Fidel
Castro, am zweiten sein Bruder Raul, am dritten Kubas Präsident Oswaldo Dorticos.
Weiter folgten etliche Minister, und am achten Brett saß Che Guevara. Nach einer
Stunde einigte ich mich mit Fidel Castro auf Remis. An den anderen Brettern
stand ich besser, außer am achten. Ich bot also Che Guevara ebenfalls Remis an.
Als Antwort erfolgte ein Redeschwall: "Remis? Um keinen Preis! Sie haben wohl
vergessen, dass ich früher schon einmal gegen Sie spielte? Das war 1947 in Mar
del Plata. Als Medizinstudent bekam ich von Ihnen beim Simultan ein
schreckliches Matt in wenigen Zügen vorgesetzt. Viele Jahre habe ich davon
geträumt, Revanche dafür zu nehmen. Also, entweder ich verliere jetzt oder ich
gewinne. Aber ein Remis wird es nicht geben!" So sprach Che Guevara, und die
Partie wurde fortgesetzt. Ich gewann sie schließlich. Mein Gegner lächelte und
gratulierte mir herzlich."
Najdorfs Unsterbliche
Als schönste Partie seiner
unvergleichlichen Schachkarriere nannte Najdorf ohne Zögern diese eine, die er
vor nunmehr einem dreiviertel Jahrhundert im Alter von 25 Jahren gespielt hat.
Sie ging als "Polnische Unsterbliche" in die Schachliteratur ein. Der Name
stammt von keinem Geringeren als von Tartakower. In der Partie opfert Najdorf
äußerst effektvoll alle vier Leichtfiguren, um seinen Gegner schließlich mit dem
h-Bauern mattzusetzen. Ein wahres Kunstwerk.
Glücksberg - Najdorf
Warschau 1935, Holländisch A85
1.d4 f5 2.c4 Sf6 3.Sc3 e6 4.Sf3
d5 5.e3 c6 6.
Ld3 Ld6 7.0-0 0-0 8.Se2 Sbd7 9.Sg5?
Lxh2+! 10.Kh1
Auf 10.Kxh2 folgt 10...Sg4+
nebst 11...Dxg5. 10. ... Sg4 11.f4 De8 12.g3 Dh5 13.Kg2
13…Lg1!
14.Sxg1 Dh2+ 15.Kf3 e5! 16.dxe5
16…Sdxe5+! 17.fxe5 Sxe5+ 18.Kf4
Sg6+ 19.Kf3
f4! Schwarz droht 20. ... Se5 matt. 20.exf4
20…Lg4+! 21.Kxg4 Se5+! 22.fxe5
h5 matt.