Erinnerungen an Ratmir Kholmov (1925-2006)

von Dagobert Kohlmeyer
18.02.2021 – Vor 15 Jahren verstarb der russisch-sowjetische Großmeister Ratmir Kholmov. Nach Captain Evans war er der wohl berühmteste schachspielende Seefahrer. Im Zweiten Weltkrieg geriet er in japanische Gefangenschaft. Nach dem Krieg wurde er trotz seines großen Talents von den Sowjetbehörden stets behindert. Dabei hatte er sogar einmal Robert Fischer geschlagen. Dagobert Kohlmeyer erinnert sich. | Foto: Kholmov-Vaganian, Moskau 1975 (chespro.ru)

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Erinnerungen an Ratmir Kholmov (1925-2006)

Zu seinem 15.Todestag möchte ich an den russisch-sowjetischen Großmeister Ratmir Kholmov erinnern, der jungen Schachspielern heute vielleicht gar kein Begriff mehr ist. Seine Vita ist ungewöhnlich, denn es kommt nicht so oft vor, dass aus einem Seemann ein Schachspieler wird, der es mit den besten Figurenkünstlern der Welt aufnehmen kann. Da fällt einem nur der britische Seekapitän William Evans ein, der im 19. Jahrhindert das nach ihm bekannte Gambit erfand.

Ratmir Kholmov wurde am 13. Mai 1925 in Schenkursk, südlich von Archangelsk geboren. Das Weiße Meer liegt nicht weit entfernt, und Archangelsk besitzt den fünftgrößten Hafen der Welt. Die Kindheit des künftigen Großmeisters Kholmov war schwierig. Als er noch sehr jung war, wurde sein Vater verhaftet und zum Bau des berüchtigten Weißmeerkanals geschickt. Kholmov schrieb später: „1931 wurde mein Vater freigelassen und 1938 erneut verhaftet. Er kehrte nie zurück.“

Der junge Ratmir erlernte Schach mit 12 Jahren in einem Pionierlager. Danach wurde er Mitglied in einem Schachklub, wo er von dem erfahrenen Trainer Nikolai Kutusov viel lernte, der schon mit Aljechin am Brett saß. Der talentierte Schüler machte schnell Fortschritte und schlug bereits mit 14 Jahren seinen Lehrmeister. Kurz danach gewann Kholmov die Männermeisterschaft in Archangelsk. Doch bald darauf begann der Weltkrieg, und seine Schachkarriere wurde erst einmal unterbrochen.

Archangelsk, wo Schiffe mit Lebensmitteln und Waffen der Alliierten ankamen, wurde ständig bombardiert. Der junge Ratmir half zuerst beim Löschen von Bränden und wurde dann Assistent auf einem Frachtschiff. Er fuhr über den Atlantik in die Vereinigten Staaten von Amerika, und auf dem Rückweg nach Wladiwostok stieß sein Schiff auf ein Riff. Es wurde so stark beschädigt, dass es nicht mehr repariert werden konnte. Danach verbrachte die Besatzung einige Zeit in japanischer Gefangenschaft. Kholmov erinnerte sich: „Weil die Sowjetunion und Japan zu diesem Zeitpunkt einen Nichtangriffspakt hatten, wurden wir Seeleute bald in unsere Heimat entlassen. Ein sowjetischer Tanker hat uns abgeholt. Es war wie im Märchen: Sie drehten den Wasserhahn auf, und statt Wasser kam Wodka heraus! " Was den Alkohol betrifft, so war der Schachspieler diesem niemals abgeneigt. Dazu später noch etwas. 

Kholmov und einige andere berühmte Sowjetspieler (Chessmasteok.com)

Am Ende des Krieges wurde Kholmov wegen eines Asthmaleidens aus der Armee entlassen. Die Ärzte empfahlen ihm, an einen Ort mit trockenerem Klima zu ziehen. Mit seiner Mutter siedelte er in die belarussische Stadt Grodno über. In Belarus gab es eine ausgezeichnete Schachschule, und die Gelegenheit, sich ständig mit starken Gegnern zu messen. Das half Ratmir Kholmov bei seiner weiteren Entwicklung. 1947 gewann er das All-Unionsturnier der ersten Kategorie und erreichte bald darauf das Finale der UdSSR-Meisterschaft, wofür er den Meistertitel erhielt.

Kholmov heiratete und zog in die litauische Hauptstadt Vilnius. Er gewann mehrmals die dortige Landesmeisterschaft. Sein Schachstil war originell, er attackierte sehr ideenreich und war ein hervorragender Verteidiger. Auf Eröffnungstheorie legte Kholmov weniger Wert. Seine Stärken lagen im Mittelspiel, im Angriff und in der Defensive. Selbst namhafte Gegner hatten es schwer, ihn zu schlagen. Am Brett war er hartnäckig und fast unüberwindbar, was ihm in der sowjetischen Schachszene den Spitznamen „Innenverteidiger“ einbrachte.

Kholmov-Sopkov, Semifinal UdSSR-Meisterschaft 1950 (http://www.e-varamu.ee)

David Bronstein lud Kholmov vor seinem WM-Kampf 1951 gegen Botwinnik zum Training ein. Sie spielten vier Partien; danach war das Hauptquartier des Herausforderers in einem echten Schockzustand. Der listige David konnte den   jungen Meister Kholmov nicht bezwingen, während dieser einen Sieg erzielte. Drei Jahre später kam es noch schöner: Eine von Ratmir Kholmov gern erzählte Anekdote ist, dass er sich 1954 scherzhaft als den „eigentlichen Schachweltmeister“ betrachtete. Vor Beginn des damaligen WM-Duells von Michail Botwinnik und Wassili Smyslow hatten die zwei Finalisten jeweils geheime Trainingswettkämpfe mit ihm gespielt. Der Sparringspartner Kholmov gewann beide!

1960 teilte er bei einem starken internationalen Turnier in Moskau den ersten Platz mit Smyslov vor Kortschnoi und anderen starken Schachspielern, wofür er den Großmeistertitel bekam. Kurz danach zog Kholmov nach Sotschi, doch einige Jahre später ließ er sich in Moskau nieder, wo er bis zu seinem Lebensende blieb. Mit seinem unabhängigen und freiheitsliebenden Charakter eckte Kholmov oft an. „Die sowjetische Schachführung und andere Mächte ließen mich das spüren“, beklagte er immer wieder: „Irgendwann einmal wurde ich zu einem Turnier nach Wien eingeladen, die Österreicher haben mir sogar ein Ticket für die Reise geschickt. Ich kam, um einen Pass abzuholen, aber man gab mir keinen. Sie fragten mich nur: „Welches Telegramm werden wir nach Wien schicken? Lass uns schreiben, dass du krank bist." Und so taten sie es ... Auf diese Weise schikanierten sie mich mein Leben lang. Ich wurde nur in die Nationalmannschaft berufen, wenn diese in der UdSSR spielte. Eine Ausnahme war Jugoslawien. Doch in westliche Länder, wo es bei Turnieren große Preise zu gewinnen gab, schickte man mich nie

Ratmir Kholmov gewann zwischen 1962 und 1978 Turniere in Bukarest, Kecskemét, Belgrad, Havanna, Dubna, Budapest und in Tiflis. Er war Moskauer Meister 1987 und Europameister 1970 mit der UdSSR-Nationalmannschaft. Kholmov hat die Weltmeister Tigran Petrosjan, Boris Spasski und Robert Fischer besiegt. Er bezwang Viktor Kortschnoi, David Bronstein, Paul Keres und viele andere berühmte Spieler. „Wenn man sich mit Ratmir am Brett trifft, ist jeder glücklich, den Kampf in Frieden zu beenden“, schrieb einer seiner Freunde.                      

Bis in die letzten Jahre seines Lebens trat Ratmir Kholmov erfolgreich in verschiedenen Wettbewerben auf. Von seiner bescheidenen Rente allein, die umgerechnet etwa 50 Dollar betrug, konnte er nicht leben. Er gewann mit dem russischen Team die Europameisterschaft der Veteranen.

Ratmir Kholmov

Ich traf Ratmir Kholmov bei der Senioren-EM 2002 in Dresden. Er holte dort 5,0 Punkte aus sechs Partien. Nach einer Runde erzählte er mir im Hotelzimmer, sein Name Ratmir bedeutet Recke oder kühner Held. Das war er in der Tat am Brett. Der Großmeister erinnerte sich auch noch genau an das Turnier 1956 im vom Krieg zerstörten Dresden. Dort teilte er mit Juri Averbach den 1. Platz. Eine lange Schachkarriere folgte. Bis zuletzt erwies sich Kholmov in Einzelwettbewerben als harte Nuss für die Stars der jüngeren Generation. Noch ein Jahr vor seinem Tod nahm er am Aeroflot Open teil. Ratmir Kholmov starb am 18. Februar 2006 in Moskau im Alter von 80 Jahren. Sein Schacherbe aber lebt.

Etliche seiner berühmten Partien haben einen ewigen Platz in der Schachgeschichte gefunden. Das folgende Spiel gegen Paul Keres bei der UdSSR-Meisterschaft in Georgien bezeichnete Ratmir Kholmov bei unserer Begegnung in Dresden als beste Leistung seiner Karriere.

Kholmov – Keres, Tbilissi 1959

 

Nicht weniger spektakulär ist Kholmows Sieg über David Bronstein bei der Landesmeisterschaft 1964/1965. Der Zug 18.Sc6! und die sich anschließende Kombination sind einfach genial.

Kholmov – Bronstein, Kiew 1965

 

Zur folgenden Parte aus Havanna gibt es eine nette Vorgeschichte. Beim Capablanca-Memorial 1965 belegte Ratmir Kholmov den fünften Platz und verlor als einziger Teilnehmer keine Partie. Der Amerikaner Bobby Fischer spielte das Turnier aus der Ferne mit, denn das State Departement verweigerte ihm die Ausreise nach Kuba. Bobby saß im Marshall Chess Club von New York, und die Züge wurden per Telex hin und her geschickt. In der Nacht vor seiner Partie gegen Fischer hatte Cholmow, der geistigen Getränken sehr zugeneigt war, in der Hotelbar eine Menge Barcadi Rum getrunken. Der besorgte Wassili Smyslov holte ihn vom Tresen weg und zeigte ihm eine Variante, die er gegen den späteren Weltmeister spielen könne. Zum Glück vergaß Kholmov die heitere Vorbereitung am nächsten Tag nicht.

Fischer – Kholmov, Havanna 1965

 

 


Dagobert Kohlmeyer gehört zu den bekanntesten deutschen Schachreportern. Über 35 Jahre berichtet der Berliner bereits in Wort und Bild von Schacholympiaden, Weltmeisterschaften und hochkarätigen Turnieren.

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