Ich lernte Yury in den frühen Tagen meiner Zusammenarbeit mit Garry Kasparov kennen. Er war sein vertrautester Sekundant und bei über zwanzig Turnieren, die ich besuchte, anwesend. Er war ruhig und bescheiden. Es war sehr einfach, mit ihm auszukommen. Manchmal war ich mit ihm (und Garry) für eine Woche oder länger zusammen, stets in großer Freundschaft und Verbundenheit. Ich bin zutiefst traurig über sein Ableben und möchte ein paar Geschichten erzählen - einige von vielen - um Ihnen zu zeigen, wie es war, mit Yury zusammen zu sein.
Garry nahm am Superturnier in Las Palmas 1997 teil, unterstützt von seinem Sekundanten Yury Dokhoian. In der vierten Runde spielte Garry eine sehr schöne Angriffspartie gegen die damalige Nummer zwei der Welt, Vishy Anand. Ich verfolgte die Züge im Presseraum, zusammen mit einigen der dort anwesenden Großmeistern. Nach 19 Zügen sahen wir die folgende Stellung:
Kasparov,Garry (2785) - Anand,Viswanathan (2735) [B92]
Las Palmas (4), 12.12.1996
1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6 6.Le2 e5 7.Sb3 Le7 8.0-0 0-0 9.Kh1 b5 10.a4 Lb7 11. Sd5 bxa4 12.Txa4 Lc6 13.Ta3 Sxe4 14.Sa5 Sf6 15.Sxc6 Sxc6 16.Lc4 Sd4 17.Th3 g6 18.Dd2 Sf5 19.Sxf6+ Lxf6
An diesem Punkt geriet Kasparov ins Grübeln. Jan Timman begann zu spekulieren, ob Weiß nicht das sehr energische 20.g4 spielen könnte. Yury sagte: "Das ist genau das, was er gerade überlegt!" Niemand auf der Weltkannte Kasparov in der Hinsicht besser als Yury.
Yury Dokhoian überprüft die Variante 20.g4 mit Fritz während der Partie, Kasparov und Anand analysieren nach der sechsstündigen Partie (Screenshot des Videos aus CBM 56)
Inzwischen hatte Garry 20.Ld5 gespielt. Die Partie dauerte sechs Stunden, Anand verteidigte sich sehr hartnäckig. Gegen 22 Uhr wurde, sehr zur Enttäuschung von Kasparov, ein Remis vereinbart.
Nachdem er die Bühne verlassen hatte, kam Garry in den Presseraum, entdeckte mich und ging direkt auf mich zu. "Ich konnte es nicht gewinnen, oder, Fred?", fragte er mit einem besorgten Gesichtsausdruck.
Es war ein wenig schockierend: der Weltmeister und beste Spieler aller Zeiten bittet einen Amateur um sein Urteil. Er geht in einen Raum voller Großmeister und fragt einen Amateur nach der Bewertung einer Partie, mit der er sich gerade sechs Stunden beschäftigt hatte.
Natürlich fragte Garry nicht mich, er fragte Fritz. Er wusste, dass ich die Partie mit dem Computer verfolgt hatte. "Ja, du konntest gewinnen, Garry. Mit 20.g4!" Meine Antwort verärgerte ihn zutiefst. "Aber das habe ich gesehen! Es hat nicht funktioniert. Wie funktioniert es denn? Zeig es mir!" Ich konnte nicht alle Varianten angeben, aber dann kam zum Glück Yury herbei.
Kasparov und Anand hörten entsetzt zu, während Yury die kritischen Varianten aufsagte. Diese Szene wurde auf Video festgehalten und im ChessBase Magazine 56 (Feb 1997) veröffentlicht.
Ich möchte Ihnen von den drei Wochen erzählen (und dabei daran zurückdenken), die wir 1997 zusammen im New Yorker Plaza Hotel verbrachten, um Garry in seinem zweiten Match gegen Deep Blue zu unterstützen. Wir haben zusammen gefrühstückt, zu Mittag und zu Abend gegessen, fast jeden Tag. Yury verbrachte den ganzen Tag damit, sich auf die kommenden Partien mit Garry vorzubereiten. Gelegentlich kam er zu mir ins Zimmer, um sich zu beraten. Hauptthema: Wie kann man Garry ruhig und entspannt halten. Vor allem angesichts des in diesem wachsenden Verdachts, dass es irgendeine Form illegaler menschlicher Eingriffe in die Partien des Computers geben könnte.
Die zweite Partie war besonders traumatisch, als Deep Blue eine sehr menschliche positionelle Strategie verfolgte und die Partie gewann. Spät in der Nacht wurde ich vom ChessBase-Team informiert, dass Kasparov nach Zug 45 eine Remismöglichkeit verpasst hatte. Yury kam in mein Zimmer und wir sahen uns das Dauerschach an, das die Leute in Hamburg gefunden hatten.
Am nächsten Morgen stand die Frage im Raum, wer es Garry beichten sollte. Ich besprach das mit Yury, der sagte, er müsse es ihm wohl mitteilen. Yury erzählte es Garry bei einem Spaziergang durch die Straßen von Manhattan. Garry erstarrte, und die Leute, die hinter ihm liefen, rannten fast in ihn hinein. Es war ein Riesenschock.
Noch eine kleine Geschichte, an die ich mich gerne aus New York erinnere? IBM veranstaltete ein großes Abendessen für Garrys Team und die eigenen Leute. Einige weitere Gäste waren eingeladen, darunter Anjelina Belakovskaia , die US-Frauenmeisterin. Ich interviewt sie damals für das ChessBase Magazin.
Während ich mir einen Salat vom Büffet holte, fragte mich Anjelina, die neben Yury gesessen hatte: "Wer ist der Mann, der da neben mir sitzt?" - "Das ist der Koch von Garry", antwortete ich. Sie ging zurück an den Tisch und die beiden unterhielten sich fröhlich, bis sie plötzlich mit der Faust nach mir schlug (ich saß am anderen Ende des Tisches).
Nach dem Essen kam Yury zu mir herüber und sagte: "Musst du so etwas tun, Frederic?" Und gestand, dass er Anjelinas Verwirrung und Verblüffung genossen hatte.
Übrigens schrieb mir Anjelina, die jetzt Senior Lecturer an der Thunderbird School of Global Management, Arizona State University, ist:
"Es tut mir wirklich leid, von Yurys Tod zu hören. Es ist ungerecht, wenn Menschen, die noch viel Leben vor sich haben sollten, sterben. Und doch ist es auch so wichtig zu erkennen, dass Yury ein sehr erfolgreiches Leben hatte und es genoss, ein Schachprofi zu sein - Spieler und Trainer - und das zu tun, was er liebte und so vielen Schachspielern einen positiven Einfluss zu geben! Yurys Ableben ist eine sehr traurige Nachricht, aber das Schreiben über sein Leben und seinen Einfluss wird denen, die ihn kannten, helfen, sich an ihre Erfahrungen zu erinnern und Yury in Dankbarkeit zu gedenken."
Ich kann mich diesen Worten nur anschließen. All das oben Gesagte soll Ihnen einen Eindruck davon vermitteln, wie es war, mit diesem Mann zusammen zu sein. Ich stehe immer noch unter Schock, einen Freund so plötzlich und so früh in seinem Leben zu verlieren. Ruhe in Frieden, Yury. Du hast ein reiches und nützliches Leben geführt!