Eröffnungsstrategien beim Kandidatenturnier 2021-2021 – Teil 2

von Joshua Doknjas
19.05.2021 – Die zweite Hälfte des Kandidatenturniers 2020/2021 brachte eine Reihe interessanter Eröffnungsneuerungen. Immerhin hatten die Teilnehmer über ein Jahr Zeit, sich auf sieben Partien vorzubereiten. Im zweiten Teil seiner Betrachtungen über Eröffnungsstrategien beim Kandidatenturnier 2020-2021 wirft der kanadische FM Joshua Doknjas einen Blick auf die wichtigsten theoretischen Entwicklungen des Turniers und erläutert verschiedene Ansätze der Vorbereitung auf die einzelnen Partien. | Foto: Turniersieger Ian Nepomniachtchi | Foto: Lennart Ootes

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Als das Kandidatenturnier 2020-2021 nach über einem Jahr Pause nach sieben von 14 Runden fortgesetzt wurde, lagen Maxime Vachier-Lagrave und Ian Nepomniachtchi mit je 4,5/7 gemeinsam an der Spitze. Mit 3,5/7 lag Caruana einen Punkt dahinter, aber mit einer starken Neuerung in seiner Partie gegen MVL in Runde 8 machte er Boden gut. Giri hatte zur Halbzeit ebenfalls 3,5 Punkte aus 7 Partien, aber in Runde 9 startete er eine eindrucksvolle Siegesserie, mit der er sich gute Chancen auf den Gesamtsieg sicherte.

Der zweite Teil dieser Betrachtungen über die Entwicklung der Eröffnungstheorie beim Kandidatenturnier behandelt vor allem drei Themen: Caruanas Vorbereitung gegen MVLs Najdorf, Giris bemerkenswerte Leistung in der zweiten Turnierhälfte und Nepomniachtchis pragmatisches Spiel während des gesamten Turniers.

Feuerwerk in der Najdorf-Bauernraubvariante

Magnus Carlsen, der das Kandidatenturnier live kommentierte, erklärte vor der achten Runde, dass MVLs zwei Schwarzpartien gegen Caruana und Ding Liren in den Runden acht und neun extrem wichtig für seine Chancen auf den Turniersieg wären.

Natürlich war die Begegnung zwischen Caruana und MVL auch extrem wichtig für Caruanas Chancen auf den Turniersieg, denn mit einem Sieg gegen MVL konnte sich Caruana auf den geteilten zweiten Platz schieben. In der Partie verblüffte Caruana mit einem überraschenden Figurenopfer im 18. Zug eines Abspiels der Bauernraubvariante im Najdorf-Sizilianer.

MVL verteidigte die schwierige Stellung umsichtig und konnte sich fast befreien, aber landete dann doch in einem schwierigen Endspiel, das nur mit großer Mühe zu verteidigen war.

 

Fabiano Caruana präsentierte eine verblüffende Neuerung in einer theoretisch gut erforschten Variante | Foto: Lennart Ootes

Giris Siegesserie

In den Runden 9 bis 12 holte Giri 3,5/4 und mit diesem eindrucksvollen Zwischensprint kam er nahe an Tabellenführer Nepomniachtchi heran. Aber mit Siegen gegen Kirill Alekseenko und Wang Hao war Nepomniachtchi in diesen Runden ebenfalls erfolgreich.

Stand nach 12 Runden

 

Doch nach der zwölften Runde zeigte sich, dass Giri seine Siegesserie wahrscheinlich fortsetzen musste, um das Turnier zu gewinnen. Nach zwölf Runden hatte Giri +3, aber da Nepomniachtchi die bessere Wertung hatte (er hatte in ihrer direkten Begegnung in der ersten Runde gegen Giri gewonnen), war das wahrscheinlich nicht genug. Um an Nepomniachtchi vorbei zu ziehen und das Turnier zu gewinnen, musste Giri sein Ergebnis von +3 wohl auf +5 erhöhen und in den letzten beiden Runden sowohl gegen Grischuk als auch gegen Alekseenko gewinnen.

Anish Giri | Foto: Lennart Ootes

2018 gewann Caruana das Kandidatenturnier mit +4, allerdings hätte ihm ein Remis in der letzten Runde und +3 ebenfalls zum Turniersieg gereicht. 2016 gewann Karjakin das Kandidatenturnier mit +3, allerdings hätte ihm ein Remis in der letzten Runde und +2 ebenfalls zum Turniersieg gereicht.

In Runde 13 verlor Giri dann gegen Grischuk, nachdem er in einem ungewöhnlichen Dameninder mit aller Gewalt versucht hatte, die Partie ins Ungleichgewicht zu bringen. Zugleich konnte Nepomniachtchi MVLs letzten Versuch, das Turnier doch noch zu gewinnen, abwehren, und stand so eine Runde vor Schluss als Turniersieger fest.

Maxime Vachier-Lagrave | Foto: Lennart Ootes

Werfen wir einen Blick auf Giris drei Gewinnpartien aus den Runden 9 bis 12 und schauen uns an, wie es ihm gelungen ist, aus der Eröffnung heraus unsymmetrische Stellungen herbeizuführen, in denen man kämpfen kann.

 
 
 

Nepomniachtchis pragmatische Vorbereitung

Nepomniachtchis Eröffnungsvorbereitung auf das Kandidatenturnier unterschied sich deutlich von den bisher gezeigten Ansätzen. Anders als Giri oder Caruana hatte er keine Gelegenheit, bedeutende Eröffnungsneuerungen aufs Brett zu bringen, sondern musste vielmehr mehr als einmal am Brett gegen Eröffnungsüberraschungen kämpfen. Doch das gesamte Turnier hindurch kam er sehr gut mit der Vorbereitung seiner Gegner zurecht und war zugleich in der Lage, Chancen wahrzunehmen, wenn sie sich ihm boten.

Die ersten beiden der unten analysierten Partien (Nepomniachtchi – Wang Hao aus der 5. Runde und Nepomniachtchi – Ding Liren aus der 6. Runde) weisen eine Reihe von Ähnlichkeiten auf: Nepomniachtchi kommt mit Weiß mit einer kleinen Eröffnungsidee zu leichtem Vorteil und setzt seinen Gegner dann durch schnelles und zuversichtliches Spiel unter Druck.

In der zweiten Hälfte des Turniers spielte Nepomniachtchi sehr pragmatisch und hat gegen zwei seiner größten Rivalen mit Weiß schnell Remis gemacht: Giri (Runde 8) und Caruana (Runde 11). Zugleich nutzte er die Möglichkeiten, die ihm geboten wurden, und gewann in Runde 10 gegen Alekseenko und in Runde 12 gegen Wang Hao. Seine Partie gegen Wang Hao werden wir hier nicht analysieren. Nepomniachtchi entschied sich mit Schwarz überraschend für Russisch und konnte die Fehler seines Gegners in einem ausgeglichenen Endspiel ausnutzen und die Partie gewinnen.

 
 
 

Ian Nepomniachtchi vs Kirill Alekseenko | Foto: Lennart Ootes

Verschiedene Ansätze der Eröffnungsvorbereitung

Im ersten Teil meiner Betrachtungen über Eröffnungsstrategien beim Kandidatenturnier haben wir einen Blick auf den Ansatz umfassender, genauer und origineller Vorbereitung geworfen. Dies war auch zu Beginn dieses Artikels Thema, als wir gesehen haben, wie Caruanas häusliche Vorbereitung gegen MVLs Najdorf ihm am Ende zu einem Sieg in einer wichtigen Partie verholfen hat.

Neben dem Ansatz tiefer Vorbereitung haben wir zwei andere Vorgehensweisen untersucht, die beide von der jeweiligen Situation im Turnier beeinflußt waren. Giri brauchte Siege, um Chancen zu haben, an Nepomniachtchi vorbeizuziehen, und hat deshalb Varianten vorbereitet, die zu zweischneidigen Stellungen führten, in denen er aus der Eröffnung heraus kämpfen konnte. Wichtig dabei war, dass die Eröffnungsstellungen, die Giri in den Runden 9 bis 12 aufs Brett bekam, theoretisch ausgetretene Pfade vermieden, strategisch komplizierte Bauernstrukturen aufwiesen und wahrscheinlich nicht schnell zu Vereinfachungen führen würden.

Nepomniachtchi brauchte in der zweiten Hälfte lediglich ein bescheidenes Plus-Score und entsprechend pragmatisch hat er gespielt. Er hat mit Weiß gegen Giri und Caruana schnell Remis gemacht und seine Chancen gegen Alekseenko und Wang Hao genutzt. Obwohl Nepomniachtchi in der zweiten Hälfte des Turniers stark gespielt hat, so glaube ich doch, dass sein Spiel in der ersten Hälfte des Kandidatenturniers seine Stärken sehr viel besser zeigt. Wie wir im vorherigen Artikel gesehen haben, hat er auf die Vorbereitung von Giri und Caruana sehr gut reagiert und konnte gegen Giri in Runde 1 sogar die Initiative übernehmen und die Partie gewinnen.

Nepomniachtchis Siege gegen Wang Hao in Runde 5 und Ding Liren in Runde 6 zeigen, in welchen Stellungen er besonders gut spielt. In beiden Fällen kam er mit einer kleinen Eröffnungsidee zu leichtem Vorteil und konnte risikolos auf Gewinn spielen. In keiner seiner Gewinnpartien verdankte er den Sieg brillanter und tiefer Eröffnungsvorbereitung, sondern er gewann, weil er bequeme Stellungen erhielt, die seinem Stil entgegenkamen.

Übersetzung aus dem Englischen: Johannes Fischer

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Joshua Doknjas ist ein kanadischer FIDE-Meister und Autor von Büchern über den Najdorf Sizilianer und den Spanier. Er ist Schachliebhaber, verfolgt das aktuelle Schachgeschehen und gibt gerne Schachunterricht und schreibt gerne über Schach. Besonders interessant findet er die Rolle, die Engines bei der Eröffnungsvorbereitung spielen und die Frage, wie KI das moderne Schach beeinflusst hat.

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