Unbehagen am Schach
Gedanken und Hoffnungsschimmer eines irritierten Amateurs
Von Silvo Lahtela
Erstveröffentlicht in "SCHACH", 2001/8
Die meisten Schachspieler, wenn sie nicht gerade zu meinen Freunden gehören,
dürften sich für den blindesten Einsteller eines Super-GM’s mehr interessieren
als für die wildeste oder tiefste meiner Partien. Keine schachliche Autorität
also meldet sich hier zu Wort, sondern jemand mit einer unspektakulären Wald-
und Wiesenelo.
Was jedoch kein Schaden sein dürfte, da auch mein Thema keineswegs elitär ist,
sondern, soweit ich sehe, vom Weltmeister bis zum letzten Patzer jeden betrifft:
Wie ein Krebsgeschwür durchziehen endlose Eröffnungs-Varianten aus riesigen
Datenbanken die Gehirne der Spieler und töten erbarmungslos ab, was zumindest
mich vor vielen vielen Jahren einmal zum Schach trieb: simple Spielfreude.
Symptomatisch für diese Erosion ist Kasparows Aussage, dass Kramnik ihn nicht am
Brett sondern in der Vorbereitung geschlagen habe. Unwichtig, ob dies stimmt
oder nicht, Weltmeister als berufsbedingte Rechthaber sind schließlich seit
jeher um Ausreden nicht verlegen, entscheidend scheint mir, daß heutzutage eine
solche Behauptung möglich ist, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Doch
auch am anderen Ende der Elo- Skala, wo sich die Mehrheit der Amateure tummelt,
kann man regelmäßig auf Spieler treffen, die im 15. Zug bei einer Nettospielzeit
von einer Minute mit gelangweiltem Gesichtsausdruck die Dame opfern. Kein
Geniestreich natürlich, sondern mühsam verdaute Lesefrucht Als Geisterfahrer auf
der Autobahn hat man vermutlich größere Überlebenschancen, als wenn man
unvorbereitet in die verminten Gefilde bestimmter Eröffnungen gerät. Prinzipiell
Zustände wie in der Formel 1: Man könnte fahren wie ein Gott, ist der Motor
nicht uptodate, schachlich in erster Linie das Eröffnungsrepertoire, überholt
einen nicht nur Schuhmacher und Häkkinnen, sondern im Zweifelsfall sogar die
eigene Oma.
Dies ist der traurige Stand der Dinge, und er ist natürlich allgemein bekannt.
Auch die Strategien mit dieser Problematik umzugehen sind relativ einsichtig: Da
gibt es die sympathisch-ehrlichen „Ich will gewinnen”- Typen, die sich mit mehr
oder weniger wasserdichten und ausgefeilten Theoriekenntnissen in die Schlacht
stürzen. Etwa Robert Rabiega, amtierender deutscher Meister, der auf meine
Frage, wie ich mich verbessern könne, unmißerständlich auf die Notwendigkeit
eines Eröffnungsrepertoires hinwies. Dann gibt es als nonchalanten und
menschlich ebenso sympathischen Gegenpol die mehr verspielten Schachfreunde, die
„die Eröffnung als notwendiges Übel” betrachten, das man „irgendwie überstehen”
musse, (Arno Nickel, kein deutscher Meister).
Zwischen diesen grundsätzlichen Haltungen, die mir aber beide nicht besonders
gefallen, (entweder spielen und sicher verlieren oder büffeln und vielleicht
gewinnen) irre ich umher -und mit mir vermutlich zahllose Leidensgenossen-, und
suche einen realistischen Ausweg. Das Dilemma ist klar: Wer kein Profi ist, und
keiner werden will, erschaudert bei der Vorstellung, Tage oder Monate oder gar
Jahre mit dem Studium von Eröffnungen zu verbringen, nur um halbwegs in der
breiten Masse mithalten zu können. Oder noch schlimmer, eine moderne Variante
der Hölle, ein realer Alptraum, ein symptomatischer Buchtitel: „Ein Leben lang
französisch”
Aber auch ein Profi müßte über die gegenwärtige Situation erschrecken, die
Schachspieler zu Fachidioten nicht allein ihres Spieles (das wäre ja noch fast
normal, im Zeitalter der Arbeitsteilung sowieso), sondern zu letztlich
engstirnigen und teilweise lebenslangen Fanatikern einer bestimmten Zugfolge
macht. Die bunten Eröffnungsnamen wie „Drachen” oder „Königsindisch” beschönigen
diese Realität, der ECO-Code kommt dem staubtrockenen Kern der Sache deutlich
näher: „Ein Leben lang C00-C19 ”. Das klingt nicht einmal mehr wie ein Alptraum,
das ist nur noch eines: langweilig.
Ich möchte ein imaginäres Beispiel geben, das die im Grunde tragische Tragweite
des Problems veranschaulicht. Man stelle sich einen GM vor, ein solider
lebenslanger d4-Spieler, der eines Morgens vor einer wichtigen Turnierpartie mit
dem Gedanken aufwacht, heute mal etwas ganz anderes als den gewohnten Stiefel zu
spielen. Die natürlichste Regung der Welt, so wie man auch nicht jeden Tag
dasselbe essen mag. Er spielt also e4, sein Gegner antwortet e5, unseren GM
reitet der Spielteufel, im Herzen spürt er seine Jugend wieder, er riskiert
frohgemut das Königsgambit, - und steht nach elf Zügen und fast völlig
verbrauchter Zeit auf Verlust. Sein Gegner, mit noch massig Zeit auf der Uhr,
hat zwar 300 Elo Punkte weniger, aber zufälligerweise ist Königsgambit und darin
wiederum besonders die gespielte Variante sein Steckenpferd gewesen.
Das schadenfrohe Lachen im Publikum dürfte den Großmeister bis in den Schlaf
verfolgen. Möglicherweise auch die Gläubiger, denn diese verpatzte Eröffnung hat
dem Spieler das Preisgeld und also vielleicht die Miete gekostet. Dieser Aspekt
sei erwähnt, denn mit Profiaugen gesehen ist die Eröffnungswahl alles andere als
eine rein akademische Frage.
Unser GM dürfte jedenfalls traumatisiert sein und den e- Bauern nicht einmal
mehr in Gedanken anfassen, höchstens vielleicht noch, um 1. e3 spielen. Eine
verständliche Angstreaktion, aber besonders für einen Großmeister dieses Spiels
auch total trostlos. Wie eine Fußballmanschaft die immer wieder aus gesicherter
Deckung heraus den Ball nach vorne schlägt. Was akzeptable Ergebnisse bescheren
mag, aber davon abgesehen das Publikum und irgendwann auch den Spieler selbst
anöden dürfte.
Die Moral dieser fiktiven Minigeschichte, die sich stündlich in der Realität
ereignen könnte, liegt allerdings keineswegs auf der Hand, vor allem ist sie
nicht diese: „Schuster bleib bei deinen Leisten”. Nein. Dieses etwas trotzige
„Nein” ist gewissermaßen das Leitmotiv meiner Zeilen. Denn irgendetwas scheint
mir völlig schief mit dem modernen Schach gelaufen zu sein, wenn man wirklich,
um Erfolg zu haben, oder um wenigstens konkurrenzfähig zu bleiben, täglich
Variantenbäume am heimischen PC im Datenbankenwald abklettern muß. Eine ziemlich
stupide Tätigkeit, eigentlich müßte es gerade für einen echten Großmeister
irgendwann unter aller Würde sein, sich derart geistlos abzustrampeln. Für einen
Amateur, der nicht einmal Geld dafür kriegt, vom fehlenden Spaß zu schweigen, um
so mehr.
So what? Was will der Typ uns erzählen, das wissen wir doch alles selbst?! Da
ich wirklich nicht mit geistigen Zugwiederholungen (Lamentieren und Jammern
gehören gewiß zu den unverwüstlichen Klassikern des Auf-der-Stelle-Tretens),
langweilen will, komme ich jetzt zu den guten Nachrichten, den Alternativen,
denn ich sehe ein Licht am Ende des Tunnels.
Die erste Alternative angesichtes der „Megabase”-Metastasen, wo
Erinnerungsvermögen Spielkultur zu ersetzen anfängt, ist eine rein persönliche
und für zarte Gemüter nicht unbedingt nachahmenswert, aber sie verdeutlicht
zumindest auf privater Ebene den Ernst der Lage: Ich habe als radikale Erste
Hilfe Maßnahme alle meine Eröffnungsbücher verschenkt und den ECO-Schlüssel aus
meinen Datenbanken gelöscht. Und mir das Gelübde auferlegt, ein Jahr lang ohne
Buch nur nach Schachverständnis und Lust und Laune zu spielen, selbst dann, wenn
ich ununterbrochen Nullen einheimsen und in hundert Eröffnungsfallen tapsen
sollte. Ich will wissen, wo ich schachlich wirklich stehe, ohne den gewohnten
Papagei auf der Schulter, der Varianten bis zum 33. Zug repetieren kann. Die
Freiheit, die neuen Horizonte, die sich dadurch eröffnen, daß ich auf zwanghafte
Eröffnungen verzichte, ist mir mehr wert als die muffige Sicherheit irgendeinen
Krähwinkels, nenne er sich nun Modern, Wolga, Englisch oder wie auch immer. Auf
meine nächste Turnierpartie, die ich unter diesem neuen Stern spielen werde,
meine persönliche Perestroika im Schach, freue ich ich jedenfalls wie früher auf
Weihnachten. Endlich wieder frei von all dem Variantenmüll aufs Brett schauen!
Aber wie gesagt, dies ist mein Weg, er dürfte anfangs von überdurchschnittlich
anfallenden Niederlagen begleitet sein, und ich will ihn nicht der Allgemeinheit
predigen. Statt dessen möchte ich eine weitere Alternative zum herkömmlichen
Eröffnungspauken anbieten, die meiner Meinung nach wirklich für ein breites
Publikum unbesehen geeignet ist: Warum richtet man nicht Turniere aus, in denen
die Stellungen auf den Brettern nach dem ECO-Code ausgelost werden? (z. B.
jeweils die Stellung im 5. Zug)? Technisch wäre dies dank der allgegenwärtigen
Computer gar kein kein Problem mehr.
Dies würde als erstes bedeuten, daß stupides Lernen angesichts des jetzt
potentiell unendlichen Materials gar nichts mehr bringt und daß wieder echte
Schachbegabung : sich in den unterschiedlichsten Stellungen zurechtzufinden,
vorrangig zählt. Und im Unterschied zu Shuffle-Chess und ähnlichem würden die
traditionell vertrauten Bilder auf dem Brett von Anfang an bleiben, das heißt,
das Kind würde eben nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden. Kein neues Schach
also, nein, sondern nur eine in der Luft liegende und notwendige Korrektur, die
dem Schach das Spielerische wieder zurückgeben würde; jenes lebenswichtige
Element, das im Augenblick durch lähmende Verwissenschaftlichung zu verschwinden
droht.
Ein vergleichender Blick über den eignen Tellerrand hinaus kann vielleicht in
diesem Sinne nicht schaden: Der Reiz des Bridgespielens etwa (von der
Komplexität mit Schach durchaus vergleichbar) dürfte gerade auch für sehr gute
Spieler darin liegen, das jedes Spiel ein neues Spiel, eine neue Herausforderung
darstellt. Ein Bridgespieler, der nur mit einer bestimmten Art Blattverteilung
gewinnen könnte, weil er eben diese Zuhause eingehend studiert hätte, was in
etwa der Variantenvorbereitung im Schach entsprechen würde, dürfte als Spieler
bestenfalls ein mitleidiges Lächeln ernten. Zurecht, und davon sollte man sich
beim Schach, wo Sardinen zu „Eröffnungshaien” mutieren, eine Scheibe
abschneiden.
Die vorgeschlagene Auslosung der Anfangsstellung nach dem ECO-Code wäre also
vergleichbar dem Mischen der Karten -und mit einem schönen Schlag wäre die
ganze, sicher nicht nur mir das Spiel oft verleidende Theorielastigkeit und
lähmende Wissenschaftlichkeit weggewischt. Auch die Göttin Caissa würde wieder
mit Anmut und ohne jede Verkrampfung lächeln, wenn statt den vielen
Bücherwürmern und Datenbankenfreaks endlich wieder mehr vom Spiel beseelte und
besessene Sieger in Erscheinung treten würden. Und auch Kasparov hätte keine
Entschuldigung mehr, wenn er gegen Kramnik herumpatzen würde. Besonders diese
letzte Konsequenz, Kasparow oder auch einen anderen Weltmeister im Verlustfall
zum Schweigen zu bringen, hat einen gewissen unwiderstehlichen Charme.
Die praktischen Details und die turniertechnisch äußerst flexiblen Möglichkeiten
dieser Idee, Spieler anhand von ausgelosten ECO-Codes gegeneinander antreten zu
lassen, stehen hier nicht zur Debatte, da ich zunächst einmal nur die Diskussion
darüber anstoßen möchte. Nur soviel: Ein Turnier, unter solche Bedinungen
annonciert und ausgerichtet, würde mit Sicherheit ein absoluter Renner werden.
Allein die Tatsache, daß man tatsächlich endlich mal einen Großmeister sehen
würde, der sich mit Schweiß auf der Stirn durch die Klippen des Königsgambits
hangeln muß, dürfte vollstes Publikumsinteresse beanspruchen. Und erst die
Spieler selbst: Kreativität wäre kein Thema diverser Sonntagsreden mehr, sondern
endlich wieder ein spielentscheidender Faktor.
Als Schachspieler aber auch als Mensch wäre dies eine Entwicklung, die ich nicht
nur begrüßen, sondern eher noch mit Champagner als mit Sekt begießen würde.
Schachspielen würde wieder richtig Spaß machen. Und diese Hoffnung ist mir
zumindest diese Worte hier mehr als wert gewesen.