John Maynard Keynes (1883-1946) steht wieder hoch im Kurs, hat er doch
in seinem Opus Magnum "The general theory of interest, employment and money"
die Rolle des Staates bei der Bewältigung ökonomischer Krisen auf
bahnbrechende Weise analysiert. Aber Achtung! Es ist, so Nobelpreisträger
Paul Samuelson, "ein schlecht geschriebenes Buch, unzulänglich gegliedert;
jeder Laie, der, von dem guten Ruf des Autors verführt, das Werk kaufte, war
um seine fünf Schillinge betrogen. Es ist arrogant, schlecht abgestimmt,
polemisch und nicht gerade üppig in seinem Quellennachweis. (...)
Geistesblitze und Intuition wechseln mit langweiliger Algebra. Eine
unbeholfene Definition öffnet plötzlich den Weg zu einer unvergleichlichen
Kadenz. Wenn diese schließlich gemeistert ist, finden wir die Analyse klar
und gleichzeitig neu. Kurz, es ist das Werk eines Genies." Ein Beispiel
dafür, wie Keynes in einer lesbaren Passage seines Buches an die Intuition
appellieren konnte, ist der Schönheitswettbewerb, den er etwa so beschreibt:
Zeitungsleser sollen sechs von 100 Fotos auswählen, und es gewinnt, wer dem
allgemeinen Urteil am nächsten kommt. Die eigene Einschätzung der Fotos
spielt dann aber keine Rolle, sondern nur die Vermutung darüber, welche
Fotos von den anderen Lesern ausgewählt werden. Nun machen sich die anderen
aber dieselben Gedanken, das heißt, man muss erahnen, was die anderen
darüber denken, was die anderen denken. Und so weiter - dieses Spiel hat
keine eindeutige Lösung, sondern fast beliebig viele. Und so ist es auch mit
dem Wert von Aktien, der ja nicht nur davon abhängt, was die Aktienbesitzer
und -käufer von dem Unternehmen halten. Entscheidend ist, was ihrer Meinung
nach die anderen Markteilnehmer von der Aktie halten, was aber wiederum
davon abhängt ... etc.
Hätte nun in unserem Experiment einfach der
Durchschnitt der anderen Zahlen erraten werden sollen, dann wäre die Aufgabe
so schwierig gewesen wie für den Zeitungsleser oder Aktienkäufer à la
Keynes. Es ging aber um 2/3 des Durchschnitts, was einen gewaltigen
Unterschied ausmacht. Denn was immer die anderen machen, 66 (bzw.100×2/3)
ist sicher besser als jede Zahl über 66. Wenn aber demzufolge klar ist, dass
niemand eine Zahl über 66 wählt, dann ist 2/3 von 66, also 44, auf jeden
Fall die bessere Wahl als jede Zahl über 44. Wenn aber klar ist, dass
niemand eine Zahl über 44 wählt, dann... und so geht es weiter, bis
schließlich nur die 0 übrig bleibt. (Werden nur ganze Zahlen zugelassen,
dann kommt auch die 1 als Lösung in Frage.) Wählen alle anderen Spieler die
0, hat man selbst keinen Grund, etwas anderes zu tun - in der Sprache der
Spieltheorie ist die 0 damit ein "Nash-Gleichgewicht" (nach jenem John Nash,
der von Russell Crowe in "Beautiful Mind" dargestellt wurde.)
Bisherige Ergebnisse
Ist es nun eine gute Idee, sich für die 0 zu
entscheiden? Eher nicht. Nach
Reinhard Selten, gemeinsam mit Nash mit dem Ökonomie-Nobelpreis geehrt,
hilft die Spieltheorie nicht beim Spielen, sondern bei der Entwicklung von
Theorien. Seit den bahnbrechenden Experimenten von Rosemarie Nagel (1995,
pdf
hier), die bei Selten promovierte, weiß man, dass dies auch für den
"Beauty Contest" gilt, bei dem ein Anteil p (häufig 2/3) des Durchschnitts
zu erraten ist. Selbst wer erkennt, dass 0 das einzige Nash-Gleichgewicht
ist, könnte denken, dass der durchschnittliche Teilnehmer zwei Drittel des
Durchschnitts wählt, der sich bei zufälliger Entscheidung ergäbe, d.h.
50×2/3 = 33. Man sollte dann 33×2/3 = 22 wählen. Mit Zahlen in dieser
Größenordnung konnte man verschiedene Beauty Contest-Experimente gewinnen,
die über das Internet oder im Hörsaal gespielt wurden. Wurde in Zeitungen
zur Teilnahme aufgerufen, war die siegreiche Zahl niedriger, zwischen 10 und
20, denn die Teilnehmer hatten mehr Zeit zu überlegen.
Sind Schachspieler anders?
Was aber passiert, wenn man das Spiel mit
Schachspielern spielt? In einer aktuellen Untersuchung (pdf
hier) wurde gefunden, dass alle Großmeister im sogenannten
"Tausendfüßlerspiel" (centipede game) die Nash-Gleichgewichtsstrategie
spielen, was bei "normalen" Teilnehmern so gut wie nie beobachtet wurde. Im
Beauty Contest konnte nun, und vielleicht ist das beruhigend, festgestellt
werden: Schachspieler verhalten sich ganz normal, und bessere Schachspieler
verhalten sich nicht anders als schlechtere.
Unsere ersten Ergebnisse
Unsere gesuchte Zahl war 21,4769 – 2/3 von
32,21539. Nick Burns aus Großbritannien, Jarred Jason Neubronner aus
Singapur und Tanner McNamara aus USA waren mit ihren Tipps am nächsten an
dieser Zahl. Während der Sieger vor seiner Antwort eine kleine eigene
Umfrage startete (u. a. mit Mathestudenten), argumentierten die Platzierten
ähnlich wie Teilnehmer bisheriger Studien und wählten daher eine Zahl in der
Nähe von 33×2/3.
Dieses Ergebnis sieht ziemlich normal aus.
Trotzdem könnte es immer noch sein, dass die Spielstärke die Höhe der
genannten Zahlen beeinflusst. Statistisch hoch signifikant, aber im Ausmaß
äußerst gering, nennt nach unseren vorläufigen Auswertungen ein um 200
Elo-Punkte besserer Schachspieler eine um den Betrag 1 niedrigere Zahl im
Schönheitswettbewerb. Der Abstand zur Gewinnerzahl 21,4769 verringerte sich
um 1 mit einem Anstieg der Elo-Zahl um satte 333.
Die Großmeister in unserer Stichprobe
(immerhin 28) fielen mit ihren Tipps allerdings überhaupt nicht aus der
Reihe; der Durchschnitt ihrer genannten Zahlen war sogar ein wenig höher als
der aller übrigen Teilnehmer!
Die zweite Runde
Wir haben jedem, der dies in unserem ersten
Fragebogen angegeben hatte und dessen Spamfilter uns nicht aufgehalten hat,
einen Link zu einer weiteren Runde unseres Experimentes geschickt. Dort
haben wir die Zielzahl der ersten Runde (21,4769) verkündet. Auf dieser
Grundlage sollte geschätzt werden, wie hoch die Zielzahlen in sechs nach
Elo-Zahlen geordneten Gruppen ausgefallen sind. Die folgende Grafik stellt
die tatsächlichen Gruppenergebnisse aus Runde 1 und deren geschätzte Werte
von Teilnehmern aus Runde 2 gegenüber. Ergebnis: Die Schachspieler selbst
glauben, dass der Tipp im Schönheitswettbewerb und die Elo-Zahl korrelieren,
allerdings nicht sehr stark. Zudem haben wir den Teilnehmern mit unserer
Frage diese Hypothese etwas unter die Nase gerieben.
Die besten Tipps kamen aus Holland, Dänemark,
Kanada, Rumänien und Indien von Martijn Pauw, Torill Skytte, Jonathan Tayar,
Mihai Mitu und Manish Kashyap. In einer
Gruppe hat der Gewinner bislang nicht auf unsere Mails geantwortet:
Heutzutage ist es eben schwer, Spamfilter und Mailadressaten zu überzeugen,
dass sie etwas gewonnen haben – in unserem Fall einen ChessBase-Gutschein.
Schließlich haben wir eine weitere Runde des
Schönheitswettbewerbes gespielt, in der nun 2/3 des Durchschnitts der
genannten Zahlen in der eigenen Gruppe getippt werden sollten. Diesmal hatte
man also nur gegen Schachspieler der ungefähr gleichen Spielklasse gespielt.
Warum das? Unsere bisherigen Ergebnisse lassen noch zwei Interpretationen
zu. Erstens hängt die Cleverness im Beauty Contest nicht mit der Spielstärke
zusammen. Oder, zweitens: Sie tut das doch - es könnte ja z.B. sein, dass
starke Schachspieler die theoretische Lösung gesehen haben, aber geahnt
haben, dass der durchschnittliche Teilnehmer einen weniger „intelligenten“
Tipp abgegeben hat. Wenn an dieser Vermutung etwas dran ist, dann sollten
die Tipps sich der theoretischen Lösung nähern, sobald die starken
Schachspieler "unter sich" sind. Die nächste Grafik mit den Differenzen aus
erster und zweiter Runde – wenn man so will mit den Lerneffekten – zeigt
eher das Gegenteil. Insgesamt konnten wir, wie in allen zweiten Runden
üblicher Beauty Contests, auch in unserer zweiten Runde sinkende Zielzahlen
feststellen. Aber bei stärkeren Schachspielern ist dieser Effekt eher
weniger stark.
Die Gewinner dieser zweiten Runde: Reiner
Odendahl, Uwe Stein und Thomas Seelen aus Deutschland, Mark Huizer und Regis
Huc aus Holland, Matthew Tapp, UK, Michel de Vathaire, Frankreich , Mark
Ryan, USA, Alexis Murillo Tsijli, Costa Rica und Marcos Eloy Morales Santana
wohnhaft auf Gran Canaria.
Fazit?
Einer von uns ist Schachspieler (Elo 2220),
und der andere würde vermutlich schon beim Aufstellen der Figuren den ersten
Fehler machen. Bei letzterem ist die Freude über unsere Ergebnisse noch
etwas größer: Die Spielstärke im Schach überträgt sich nicht auf das
Abschneiden im Beauty Contest. Natürlich sind wir damit noch nicht am Ende
mit unserer Auswertung. Mit den Daten lässt sich noch einiges anstellen,
aber nun wissen Sie zumindest, was es mit unseren Experimenten auf sich
hatte. Wir danken an dieser Stelle auch noch mal sehr herzlich ChessBase und
allen Teilnehmern, die uns sehr aufschlussreiche Kommentare und Anregungen
mit auf den Weg gegeben haben. An dieser Stelle können wir nur drei
Highlights erwähnen.
Das erste stammt von Frederic Friedel, der mit einem hübschen Beispiel
für einen realen Beauty Contest aufwarten konnte: "Vor langer Zeit habe ich
(..) als junger Student (Philosophie, Hamburg/Oxford) einen Streit mit dem
ZDF Sportstudio -- oder war es ARD? -- angezettelt, ohne damals natürlich
irgendetwas vom Keynesian beauty contest gehört zu haben. Mich störte
nämlich, dass man ein Tor des Monats wählen konnte, und dabei Gewinner
prämierte, die unter denjenigen ausgelost wurden, die das 'richtige' Tor
gewählt hatten. Mich hatte es unendlich gestört, dass man damit das Ergebnis
der Wahl automatisch fälschte. Ich versuchte, dem Sender klarzumachen: die
Teilnehmer würden nicht das Tor wählen, das sie am schönsten fanden; sondern
das Tor, von dem sie meinten, dass die meisten es schön finden würden."
Das zweite Highlight stammt vom italienischen Schachspieler Gabriele
Bini, der sich überhaupt nicht wundert, dass die Elo-Zahl kaum mit dem
Abschneiden im Beauty Contest-Experiment korreliert: "Waren Sie schon mal
mit einem Pilzexperten auf Pilzsuche? Wo Sie nur Blätter und Dreck sehen,
entdeckt der erfahrene Pilzsucher sofort die Pilze. Würden Sie deshalb
vermuten, dass der Pilzexperte intelligenter ist als Sie?" Das ist eine sehr
schöne Analogie zum Schachspiel, denn aus der psychologischen Forschung weiß
man, dass die entscheidende Fähigkeit starker Schachspieler das
Wiedererkennen bestimmter Muster in Stellungen ist, die dem Anfänger
verwirrend unbekannt und chaotisch erscheinen - Dreck und Blätter auf 64
Feldern.
Drittens entpuppte sich einer unserer Teilnehmer,
Alain Ledoux, als von der Fachwelt vergessener Vorreiter dieser Art von
Experimenten; Details
hier (pdf).
Für weitere Hinweise sind dankbar: frank@uni-kassel.de
c.buehren@uni-kassel.de
P.S.: Achtung Organisatoren von Großmeisterturnieren:
Wenn Sie sich vorstellen können, dass wir Ihre
Teilnehmer mit weiteren Experimenten unterhalten, bitte melden Sie sich! Wir
würden sehr gerne zu Ihren Turnieren kommen; teilnehmende Schachspieler
haben die Chance, etwas Geld zu gewinnen.
Dank an Rosemarie
Nagel und Dr. Palm für die Bilder.