FIDE-Bosse
im Wahlkampf
An der
Sitzung des FIDE Presidential Boards am 6./7.
Juli 2002 nahm der Präsident des Weltschachbundes FIDE, Kirsan Nikolajewitsch
Iljumschinow, nicht teil. Artjom Michailowitsch Tarassow, der (ehemalige?) Chef
der Firma FIDE Commerce International, präsentierte sich der
Schachöffentlichkeit zuletzt bei den Wüstenduellen im Rahmen des UAE
Schach-Grand-Prix in Dubai (2.-9. April 2002). Die beiden FIDE-Bosse befinden
sich in Russland im Wahlkampf.
Nach drei Monate währender Prüfung kam das russische Verfassungsgericht am 9.7.
zu einer Entscheidung über das seit dem 16. Oktober 1999 geltende Wahlgesetz
bezüglich der Amtszeiten bei Legislative und Exekutive. Dieses Gesetz sieht vor,
dass nur zwei Amtszeiten zulässig sind. Die zu entscheidende Frage war, wie
Amtsträger zu behandeln sind, die ihr Amt vor dem 16. Oktober 1999 angetreten
haben.
Kirsan N. Iljumschinow wurde 1993 zum Präsidenten von Kalmückien gewählt. Vor
Ablauf seiner regulären Amtszeit soll der damalige russische Präsident Boris
Jelzin Kirsan Iljumschinow geraten haben, eine Wiederwahl mit verlängerter
Amtszeit anzustreben. So ließ sich Iljumschinow 1995 wieder wählen - bis 2002!
Das russische Verfassungsgericht entschied nun, dass das Gesetz vom Oktober 1999
nicht rückwirkend gilt. So können z.B. der Bürgermeister von Moskau Juri
Luschkow, der Gouverneur von St. Petersburg Wladimir Jakowlew, der Präsident von
Baschkortostan Murtasa Rachimow und der Gouverneur der Region Swerdlow Eduard
Rossel weitere Amtszeiten anstreben. Kirsan Iljumschinow kann seine Wiederwahl
im Oktober 2002 betreiben, wonach seine erste Amtszeit im Sinne des Wahlgesetzes
beginnen würde. Danach ist wiederum eine Wiederwahl möglich - dies würde dann
die vierte Amtszeit insgesamt sein, im Sinne des Wahlgesetzes jedoch nur die
zweite.
Kirsan Iljumschinow, der große Förderer des professionellen Schachs, hat vor der
Wahl in Kalmückien im Oktober zwei wichtige Termine, die mit der Wahl direkt
natürlich nichts zu tun haben: in Moskau das Schachmatch Russland gegen der Rest
der Welt (8.-12. September) und in Kalmückien - ebenfalls im September - den
Besuch des Dalai Lama. Ob der Dalai Lama tatsächlich kommt, steht in den
Sternen. Das geistliche Oberhaupt der Buddhisten wird traditionell alljährlich
in das buddhistische Kalmückien eingeladen, kam bislang aber erst ein Mal.
Wie schon im Jahre 1995, als er erstmals zum FIDE-Präsidenten gewählt wurde,
steht Kirsan Iljumschinow 2002 vor zwei Wahlen, denn auch beim FIDE-Kongress in
Bled (November 2002) ist ein neues Präsidium zu wählen. Bis zum 7. August 2002
müssen Kandidaturen beim FIDE-Sekretariat in Lausanne (Schweiz) annonciert
werden.
Unklar ist zur Zeit, ob man Artjom Michailowitsch Tarassow noch als „FIDE-Boss"
betrachten kann.
Artjom Tarrassow
Bei der Sitzung des Presidential Boards der FIDE Anfang Juli in Qatar wurde - in
Abwesenheit von Tarassow - zwar über Fide Commerce gesprochen und bekannt
gegeben, dass Iljumschinow den FIDE-Funktionär Casto Abundo (Philippinen) zu
einem Direktor der Firma ernannt habe, man ließ jedoch nichts darüber verlauten,
ob Artjom Tarassow noch Präsident, bzw. Direktor der Firma FIDE Commerce
International ist.
Im amtlichen
Firmenregister Großbritanniens sind derzeit übrigens zwei Firmen
ähnlichen Namens verzeichnet: FIDE Commerce Limited und FIDE Commerce
International Limited.
FIDE Commerce Ltd. war die erste gemeinsame Gründung des Schachgespanns
Iljumschinow/Tarassow. Diese Firma (Register-Nr. 3689369) wurde nicht, wie man
1999 glaubte und publizierte, im März 1999 gegründet, sondern bereits am 29.
Dezember 1998. FIDE Commerce Ltd. (Sitz: 175 Piccadilly, London, W1V 9DB;
Geschäftszweck: other business activities) wurde still und leise am 10. Juli
2001 aufgelöst.
FIDE Commerce International Ltd. wurde am 26. Juni 2000 gegründet (Register-Nr.
4023838). In dem Bericht der Britischen Schachföderation über den FIDE-Kongress
2000 war vor allem von der neuen Firma FIDE Commerce International die Rede. Zu
deren Direktor war Tarassow ernannt worden, und während des FIDE-Kongresses 2000
wurde bekannt, dass FIDE-Präsident Iljumschinow ebenfalls zum Direktor der Firma
ernannt werden würde. Auf dem Firmenkonto bei der Barclays Bank befanden sich
damals 911.806,43 US Dollar. Beteiligt an FIDE Commerce International waren
Chess Trust (70 Prozent - Iljumschinow) und Gambit Trust (30 Prozent - Tarassow).
Aufgabe dieser neuen Firma sollte es sein, kommerzielle Sponsoren für die WM im
besonderen und für die FIDE im allgemeinen zu suchen.
Nachdem diese Daten bekannt waren, billigte der FIDE-Kongress 2000 die bis 2017
(mit Option bis 2027) laufende Vereinbarung zwischen FIDE und FIDE Commerce
International.
Der kleine, aber bedeutsame Unterschied zwischen FIDE Commerce und FIDE Commerce
International drang erst Ende Januar 2001 in das Bewusstsein der
Schachöffentlichkeit, als gemeldet wurde, dass FIDE Commerce International Ltd.
am 24. Januar 2001 im Zentralen Schachklub in Moskau eine Vereinbarung mit der
bekannten Sportmarketing-Firma Octagon Sponsorship Consulting Ltd. Corporation (Octagon)
unterzeichnet hat.
Wer in der Sponsoren-Datenbank Großbritanniens stöbert, findet dort einen
Eintrag, aus dem hervorgeht, dass Octagon am 25. Juni 2001 bekannt gab, dass die
Firma von FIDE Commerce die weltweiten Vermarktungsrechte von Schach erworben
hat und einen britischen Sponsor für ein WM-Finale in London sucht. Unter
Kontaktinformation wurde auf eine Sportsponsoring-Seite verwiesen, auf der zu
lesen war:
" WORLD CHAMPIONSHIP GRAND FINAL
Octagon Marketing, the leading global sports marketing and entertainment agency,
has acquired use of exclusive rights from FIDE Commerce to capitalise on the
commercial and marketing potential of chess worldwide. A UK sponsor is sought
for a major World Championship Grand Final event. The event will be covered by a
terrestrial broadcaster and held at a premium central London venue. This will be
the culmination of hundreds of competitors across the globe vying for the
Undisputed World Champion crown. (...)"
Vor der Schachöffentlichkeit präsentierte sich Artjom Tarrasow zuletzt bei den
Wüstenduellen im Rahmen des UAE Schach-Grand-Prix in Dubai (2.-9. April 2002).
Da der Preisfonds dort nicht so hoch war, wie ihn sich die Spieler erhofft
hatten und wie er ihnen anscheinend auch versprochen worden war, wurden
Schuldige gesucht. Angeblich sollte deswegen Tarassow entlassen und der Vertrag
mit Octagon gekündigt werden (Peter Swidler in Schach 5/2002, S. 5, bzw.
bezüglich Octagon Alexei Schirow bei Mark Crowther’s TWIC 388 v. 15.4.2002 und
TWIC zur Auszahlung Tarrassows durch Iljumschinow und der Nicht-Erneuerung des
Vertrages mit Octagon unter Berufung auf John Henderson in The Scotsman [TWIC
390 v. 29.4.2002]).
Octagon (David Collins) reagierte darauf mit der Richtigstellung (TWIC 389 v.
22.4.2002): „Octagon continue to work alongside FIDE and FIDE Commerce to build
on the success of this first Grand Prix in Dubai."
Bei den Verhandlungen zur Einigung der Schachwelt Anfang Mai in Prag haben
Beobachter weder Artjom Tarassow noch einen Vertreter von Octagon gesichtet (ein
Vertreter des Fernsehsenders und Brain-Games-Rechtsnachfolgers Einstein war
anwesend, wurde aber nicht zu den Verhandlungen zugelassen [Stefan Löffler in
Schach 6/2002, S. 23]).
Mitte Juli 2002 wiederholte Mark Crowther’s TWIC (Nr. 401 v. 15.7.2002), dass
Artjom Tarassow FIDE Commerce International verlassen, die Kontrolle über das
FIDE-Netzwerk im Internet aber behalten habe, sodass die FIDE gezwungen sei,
ausgehend von der neuen Adresse
http://www.fideonline.com, ein neues Netz zu knüpfen. Eine
offizielle, ausdrückliche Bestätigung dieser Behauptung enthält das Communique
der FIDE zur Sitzung des Presidential Boards jedoch nicht.
Bemerkenswert ist: Der Eintrag für die Domain
worldfide.ru
wurde am 3. Juni 2002 geändert: „delegated till 2002.10.16". Die für FIDE
Commerce, bzw. Artjom Tarassow (175 Piccadilly London) am 8. Juni 1999
registrierte Internet-Domain
http://www.worldfide.com lief am 8. Juni
2002 ab, ohne dass sie (bislang) erneuert worden ist (whois-Anfrage v.
19.7.2002). FIDE Commerce International (Geschäftszweck: business & management
consultancy) hat ihren Sitz nicht mehr im Empire House (175 Piccadilly), sondern
laut britischem Firmenregister in dem christlichen Hause Faith House, 7 Tufton
Street, London, SW1P 3Qb, wo sich auch das Konsulat der attraktiven kleinen
Republik Kiribati befindet. Irgend etwas also ist passiert.
Am 28. April 2002 starb Alexander Lebed in einem Helikopter-Crash. Der ehemalige
russische General hatte sich als Herausforderer des damaligen russischen
Präsidenten Boris Jelzin profiliert und galt als derjenige, der Moskaus Krieg in
Tschetschenien (1994-96) beendete. Nach dem Waffenstillstandsabkommen ging ein
Bild um die Welt, das Alexander Lebed bei einer Schachpartie mit seinem
tschetschenischen Verhandlungspartner zeigte. Lebed war seit Mai 1998 Gouverneur
der Region Krasnojarsk (Sibirien/Russland), einem Gebiet, das viermal so groß
ist wie Frankreich.
Am 17. Juni berichtete Jelena Schischkunowa bei
gazeta.ru, dass
Artjom Tarassow an diesem Tag in Krasnojarsk angekommen sei, wo er auch gleich
eine Pressekonferenz einberufen habe, um bekannt zu geben, dass er sich in
dieser Region, aus der seine Familie mütterlicherseits stamme, um das vakante
Amt des Gouverneurs bewerben wolle. Wenn er das Rennen gewinne, dann wolle er
der Region ausländische Investitionen verschaffen: „Ich bin hier, um zu
arbeiten." Am 18. Juni wollte er die Wahlbehörden über seine Kandidatur
offiziell informieren.
Da andere Kandidaten als aussichtsreicher gelten, haben die größeren Medien
seither nichts mehr über die Kampagne Tarassows berichtet. Vermutlich sammelt er
derzeit die erforderliche Anzahl von Unterschriften, um zur Wahl zugelassen zu
werden. Die Wahl in Krasnojarsk soll am 8. September stattfinden - dem Tag, an
dem auch das Schachmatch Russland gegen den Rest der Welt in Moskau beginnen
soll.
Am 22. Juli 2002 wurde die britische Sponsoren-Datenbank aktualisiert. Auf der
Sportsponsoring-Seite ist die Suche Octagons nach einem Sponsor für den
Schachtitel Undisputed World Champion gestrichen und durch einen anderen
Eintrag
ersetzt worden. Dies kann zweierlei bedeuten: entweder ist Octagon bei der Suche
nach einem Sponsor fündig geworden, oder die Firma ist nicht mehr zuständig.
Wie auch immer die Wahl in Krasnojarsk ausgehen mag: Artjom M. Tarassow wird
danach nicht arbeitslos sein, wenn er weiterhin bei dem kirgisischen Internet
Service Provider
Transfer Ltd. als Sales Department Manager
tätig ist.
Gerald Schendel/22.7.2002