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Im Kandidatenfinale zwischen Fischer und Petrosian konnte der Armenier direkt in der ersten Partie (gespielt am 31.09.1971) seine beste Eröffnungsüberraschung anbringen. Fischer hatte die folgende Stellung schon in Partien mit Taimanow und Najdorf auf dem Brett. Diese spielten jeweils 11…Sd4 und verloren beide. Petrosian spielte mit 11…d5 eine Neuerung.
Am Ende hatte Petrosian keinen Erfolg mit dieser Neuerung. Anscheinend konnte er sich im 16. Zug trotz halbstündigen Nachdenkens nicht mehr an den besten Zug 16… Txg2 erinnern. Nachdem er diese Chance nicht nutzte, war die Partie ausgeglichen. Fischer gab sich aber nicht mit Remis zufrieden, kämpfte weiter und kurz vor der Zeitkontrolle verlor Petrosian den Faden und die Partie.
Interessant ist die Frage, wer Petrosian diese Neuerung mitgeteilt hat und wie es dazu kam. In der Literatur gibt es dazu unterschiedliche Angaben. Dies brachte mich dazu, mich mit dem Thema näher zu beschäftigen.
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Wie bereits angedeutet, hatte Fischer die Stellung nach dem weißen elften Zug schon vorher zweimal auf dem Brett gehabt. Beide Gegner spielten 11… Sd4. Gegen Najdorf 1966 spielte Fischer den Zug 12.Lc4 und gewann eine hübsche Partie. In seinen Kommentaren (Fischer 1972) und (Kashdan 1968) weist Fischer selbst darauf hin, dass dieser Zug sehr gut mit 12… d5 hätte beantwortet werden können. In seinen weiteren Varianten spielt Schwarz dann La3:, Da5 und 0-0-0 und erreicht eine gute Stellung (laut Stockfish sogar eine bessere Stellung).
Laut Fischers Analyse wäre 12.Sc4 deutlich stärker gewesen. Konsequenterweise spielte er dann diesen Zug auch gegen Taimanow in der 6. und letzten Partie des Kandidatenmatches 1971. Sieht man sich die zeitgenössischen Kommentare an (z.B. Tal 1971 oder Bozic 1971), so entsteht der Eindruck, dass Schwarz schlecht aus der Eröffnung rausgekommen ist und in der Folge die Partie chancenlos verlor. Timman (Timman 2021) weist aber zu Recht darauf hin, dass Schwarz im 14. Zug klar in Vorteil hätte kommen können; seiner Meinung nach hätte Schwarz nach 14… Se7 sogar auf Gewinn gestanden.
In einer weiteren Partie gegen Rosetto 1960 bekam Fischer eine ähnliche Stellung aufs Brett. Wegen einer anderen Zugreihenfolge kam die Stellung einen Zug früher mit einem Minustempo für Schwarz aufs Brett (der schwarze Läufer stand noch auf c8). Schwarz spielte hier dann 10… d5 und in der Folge die Züge La3:, Da5 und 0-0-0. Wegen des Minustempos konnte Schwarz die Stellung nicht ausgleichen, konnte aber dennoch lange mithalten, bevor er am Ende verlor.
Petrosian hatte nur wenig Erfahrung in dieser Variante. Die einzige Partie von ihm, in der er vorher gegen die Taimanow Variante gespielt hatte, war 1968 gegen Ivkov. Dort spielte Ivkov 6.c4 und gewann die Partie.
Interessant ist, dass Fischer vor seiner Petrosian Partie bereits zweimal mit der Idee d5 konfrontiert wurde. Beide Male waren auch analog zu der Petrosian Partie die Züge La3:, Da5 und 0-0-0 die Fortsetzung des Schwarzen.
Wer hat die Neuerung gefunden und wer hat sie Petrosian mitgeteilt?
Diese Frage kann nicht so einfach beantwortet werden, da sich die Quellen widersprechen. Schauen wir sie uns der Reihe nach an.
Karolyi&Gyozalyan (2022): Der moldauische Schachspieler Tschebanenko hatte die Neuerung gefunden und seine Analysen an Petrosian geschickt. Weiter führen die Autoren aus, dass Fischer nach 11…d5 weiter schnell spielte und erst nach 14…0-0-0 anfing zu überlegen.
Timman (2021): Der lettische Spieler Alvis Vitolins hatte den Zug 11…d5 in seinen Anmerkungen zu der Partie Fischer-Taimanow in Shakhmaty Riga vorgeschlagen. Petrosian kannte den Artikel. Zusätzlich erhielt Petrosian nach dem Abschluss des Matches gegen Korchnoi einen versiegelten Umschlag, der die Variante einschließlich 15… Thg8 enthielt.
Müller (2009): Nach dem Abschluss des Matches Kortschnoi-Petrosian erhielt Petrosian einen versiegelten Umschlag, der an den Sieger des Matches adressiert war. In diesem befand sich die Analyse von Tschebanenko, die auch den Zug 15…Thg8 enthielt.
Kasparov (2004): Gibt gleich drei Autoren an, die die Neuerung unabhängig voneinander gefunden haben
11…d5 wurde von dem lettischen Meister Vitolins in seinen Anmerkungen zu der Partie Fischer-Taimanow in Shakhmaty Riga vorgeschlagen.
Der moldauische Schachspieler Tschebanenko schickte seine Analysen zu dem Zug an Petrosian.
Im August 1971 hatte auch Polugayevsky 11…d5 gefunden und wollte den Zug in der 39. UDSSR Meisterschaft anwenden (er plante aber 15…Kb8)
Auch Kasparov weist daraufhin, dass Fischer erst ab dem 15. Zug anfing zu überlegen.
Suetin (1997): Ich (Suetin) entdeckte den Zug 11…d5 schon 1962 und teilte ihn 9 Jahre später Petrosian mit. Fast zeitgleich erhielt Petrosian einen Brief von dem moldawischen Schachspieler Tschebanenko mit dessen Analysen zu dem Zug. Später kursierte die Mitteilung, dass auch Meister Vitolins auf sie gestoßen war.
Parallel zu dem Kandidatenturnier fand auch die 39. UDSSR Meisterschaft statt. Wie bereits erwähnt hatte Polugayevsky geplant, selbst 11…d5 zu spielen. Vor dem 31.09.1971 (dem Tag, an dem die erste Partie Fischer-Petrosian gespielt wurde) hatte er in 2 Schwarzpartien Sizilianisch auf dem Brett. Beide Male spielte er aber 2… d6, versuchte also gar nicht, die Neuerung selbst zu spielen. Wollte er nicht oder durfte er nicht?
Ein anderer Spieler hätte ebenfalls die Chance gehabt, die Neuerung in dem Turnier zu spielen. In der ersten Runde – am 15.September – trafen Karpow und Taimanow aufeinander. Taimanow spielte aber 11…Se7 und verlor die Partie. Da stellt sich die Frage, ob Taimanow die Neuerung 11…d5 noch nicht kannte oder er den Zug auf Anweisung von oben nicht spielen durfte.
Wie ging es mit der Variante weiter?
Man hätte nun meinen können, dass die Partie Fischer-Petrosian der ganzen Variante den Todesstoß versetzt hätte und keiner mehr 11… d5 zugelassen hätte. Dem ist nicht so. Bis 1973 gab es noch 5 weitere Partien auf hohem Niveau, wo Weiß so gespielt hatte, u.a. die Partie Timman – Anderson 1973. Besonders erfolgreich waren die Weißspieler nicht und bei der Timman Partie hat man den Eindruck, dass die beiden Spieler sich bereits vorher auf ein schnelles Remis geeinigt hatten. Nach 1973 ist die Variante dann in der Versenkung verschwunden.
Nach Prüfung der Quellen erscheint es mir sicher, dass Vitolins und Tschebanenko beide den Zug 11… d5 unabhängig voneinander gefunden haben. Ob auch Suetin und Polugayevsky die gleiche Idee hatten, kann nicht mit ausreichender Sicherheit bestätigt werden. Hier gibt es nur die Selbstauskunft der beiden Spieler.
Interessanter ist die Frage, was der entscheinde Zug der Neuerung war. War es 11… d5 oder die Züge 14… 0-0-0 oder 15… Thg8? Die Tatsache, dass Fischer erst nach dem 14. Zug von Schwarz anfing nachzudenken, zeigt in Richtung der beiden späteren Züge. Die vorliegenden Quellen geben übereinstimmend an, dass die Analyse von Tschebanenko auch diese beiden Züge enthielt.
Bei Vitolins konnte ich das bisher nicht prüfen, da mir die Orginalquelle – eine Ausgabe des Shakhmaty Riga aus dem Jahr 1971 – nicht vorliegt. Sollte ein Leser dieses Artikels noch die entsprechende Ausgabe dieser Schachzeitschrift haben oder einsehen können, so würde ich mich über die Zusendung einer Kopie sehr freuen und mich erkenntlich zeigen (die Chessbaseredaktion hat meine Kontaktdaten). In einigen Bibliotheken in den USA scheint es tatsächlich entsprechende Exemplare der Zeitschrift zu geben. Sollte z.B. jemand in nächster Zeit in New York sein und etwas Zeit übrighaben, dann könnte er oder sie die Zeitschrift in der New Yorker Library einsehen (Adresse: Stephen A. Schwarzman Building, Fifth Avenue and 42nd Street Third Floor Room 315). Anscheinend muss man vorab anmelden, dass man die Zeitschrift einsehen möchte. Diese Anmeldung/Reservierung sollte über den Link https://www.nypl.org/research/research-catalog/bib/b13255218 möglich sein. Ich denke, allein das Gebäude (siehe folgendes Foto, Quelle wikipedia) ist schon einen Besuch wert. Und dann noch die Aussicht, bei der Auflösung eines historischen Rätsels mitzuwirken, sollte doch jeden Schachspieler motivieren dort hinzugehen.
Fotoquelle: Wikipedia
Spannend ist auch die Frage, wie es dazu kam, dass Fischer so überrascht werden konnte. Bereits zweimal war er in seinen Partien mit der Idee d5 konfrontiert worden, einmal in seiner Partie mit Najdorf (seine eigene Analyse in Fischer 1972) und einmal in seiner Partie mit Rosetto. Man kann kaum glauben, dass er nicht selbst auf die Idee gekommen ist. Meine Vermutung dazu ist, dass er wie andere Kommentatoren die 6. Partie aus dem Kandidatenwettkampf mit Taimanow nur oberflächlich analysiert hat und er der Meinung war, dass er einen überzeugten Gewinn erzielt hatte und dass keiner es mehr wagen würde, diese Variante gegen ihn zu spielen. Daher hat er wahrscheinlich die Variante keiner weiteren Überprüfung unterzogen.
Komplett auflösen kann man die Mysterien um die Neuerung heute nicht mehr, da leider keiner der Protagonisten mehr lebt. Aber ich hoffe, dass ich mit dem Artikel ein klein wenig Licht in die Geschichte hinter dem Zug 11… d5 bringen konnte.
Bozic (1971): Anmerkungen zur 6. Partie Fischer - Taimanow, Informator 11, Partie 303
Fischer, B. (1972): Meine 60 denkwürdigen Partien, Hamburg: Eduard Wildhagen
Karolyi, T & Gyozalyan (2022): Petrosian Year by Year, Volume II (1963-1984), Wroclaw: Elk and Ruby
Kashdan, I. (1968): Second Piatigorsky Cup, New York: Dover Publications
Kasparov, G. (2004). My great Predecessors (Part III). London: Everyman Chess.
Müller, K. (2009). Bobby Fischer, Milford: Russel Enterprises
Suetin, A. (1997). Tigran Petrosjan: Die Karriere eines Schachgenies. Berlin: Verlag Bock & Kübler.
Tal, M. (1971), Anmerkungen zur 6. Partie Fischer - Taimanow, Deutsche Schachzeitung 1971, Seite 248
Timman, J. (2021). The Unstoppable American. Alkmaar: New in Chess.
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