Zweite Front am Königsflügel eröffnen
Wie kann man seine Spielstärke verbessern ? Die brennende Frage, die sich der
mittelstarke Clubspieler mit DWZ zwischen 1400-2100 regelmäßig stellt,
beantwortet IM Yaroslav Srokovski, Landestrainer des Badisch-Württembergischen
Schachverbandes, in seinem praktischen Ratgeber „Strukturiertes Schachtraining“
Er hat zwar etliche extrem erfolgreiche Schüler und Schülerinnen vorzuweisen
(WGM Marta Litinskaja, IM Heimann, Strohäcker, Strunski und Florian Handke, der
als 19Jähriger den GM-Titel schaffte) die seine Trainingsmethoden übernahmen,
doch Yaroslav Srokovski schwadroniert nicht über eigene große Erfolge, spielt
sich nicht in den Vordergrund und will auch nicht mit grandiosen,
atemberaubenden Kombinationen brillieren, was ihn sehr sympathisch und sein Buch
leicht verständlich macht. Dieser pragmatische Trainer will vor allem
einen praktischen Ratgeber liefern. Ausgehend von den Prinzipien, die der erste
WM Wilhelm Steinitz (1836-1900) für die Beurteilung einer Stellung entwickelte,
baut Srokovski sein strukturiertes Training in zwölf Kapiteln auf, die sich an
den Steinitz-Kriterien und Überlegungen zur Einschätzung ausgesperrter Figuren,
schlechter Königsstellung, offenen Linien, Bauernschwächen, Bauernmajorität auf
einem Flügel, Freibauer und den Vorteilen von Läufer gegenüber Springer oder
Springer gegenüber Läufer orientieren.
In jedem Kapitel finden sich rund ein Dutzend Beispiele zu diesen Aspekten,
die mit Diagrammen und ausführlicher Analyse erörtert werden. Unter den 129
besprochenen Turnier-Partien stammen viele von hochkarätigen GM und Weltmeistern
wie Capablanca, Lasker, Aljechin, Euwe, Bobby Fischer, Kasparow, Anand,
Karpov, Spasski, Kortschnoi, Larsen, Lautier, Kamsky, Iwantschuk, Radjabov, den
Polgar-Schwestern u.a.). Dazu gibt es noch 54 Übungsaufgaben, deren Lösungen am
Schluß mitgeliefert werden. Srokovski hat immer die Lerneffekte für den
hochmotivierten Spieler im Blick, systematisch und in logischen Schritten gibt
er uns erstmal die einfachen, an Steinitz orientierten Richtlinien für die
Einschätzung einer Stellung an die Hand und entwickelt daraus dann alle
weiteren wichtigen Aspekte: Welche Felder, welche Figuren sind stark, welche
schwach? Ist der Läufer oder der Springer in dieser speziellen, komplexen
Stellung stärker? Wie gut sind die Figuren des Gegners koordiniert? Wie kann
man sich die Vorteile einer ausgesperrten gegnerischen Figur zunutze machen?
Im Kapitel „Guter Springer gegen schlechten Läufer“ analysiert Srokovski die Partie Saidy-Bobby Fischer von 1963 (New York). Der weiße,
schwarzfeldrige Läufer von Saidy steht auf c1, Bobbys schwarzer Springer auf d7,
am Königsflügel stehen sich jeweils drei Bauern gegenüber, am Damenflügel
die weißen Bauern auf a3, b2 und d4- dieser Bauer behindert und beeinträchtigt
allerdings den eigenen Läufer, daher ist der schwarze Springer mobiler und
besser als der weiße Läufer. Wie der Trainer dann die nächsten Züge kommentiert
und kritisch-analytisch begleitet, ist ebenso einleuchtend wie überzeugend. Denn
jeder Plan der Spieler, jede Phase wird von Srokovski erst vorgestellt und
die Ausführung dann genauestens kommentiert. Er blickt beiden Spielern bei ihren
Zügen sozusagen über die Schulter und behält dabei ihren großen Plan immer im
Auge: „Auf e6 steht der schwarze Springer sehr gut, denn er behält das weiße
Sorgenkind, den Bauern d4, im Auge. Aber wie kann man den Vorteil vergrößern?
Antwort: Erst einmal muss man eine zweite Front am Königsflügel
eröffnen....h7-h5. Bereitet den Vormarsch des schwarzen Königs über h7-g6-f5
vor“. Es ist daher ein Hochgenuss beim Nachspielen am Brett diesen Feldzug des
Schwarzen zur Eroberung des Königsflügels mitzuverfolgen und Fischers Strategie
unmittelbar bei der Ausführung nachzuempfinden.
Und am Rande streut Srokovski noch Sentenzen und psychologische
Einsichten ein, die sich für jeden Club-Spieler als echte Perlen erweisen
dürften. So kommentiert er etwa Fischers merkwürdiges, mehrmals wiederholtes
Manöver Kg6-Kf5 : „Die Partieführung ist typisch für einen Spieler der
Extraklasse...er verfolgt drei Ziele: Erstens wird die Partie in die Länge
gezogen, wonach die Wahrscheinlichkeit von Ermüdungsfehlern beim Verteidiger
sich erhöht. Zweitens gewinnt Schwarz Bedenkzeit, denn Weiß muss Zeit darauf
verwenden, abzuschätzen, worin der schwarze Plan nach Sd8 besteht. Und drittens
erzeugt der Zug psychologischen Druck: dem Gegner wird bedeutet, dass er nur
abwarten kann, während man selbst spielen kann, was man will“. Das sind absolut
plausible Aspekte, denn gerade der clevere Psychologe Bobby konnte seine
Gegner mit langfristig angelegten Kombinationen ebenso souverän bezwingen wie
mit solchen undurchsichtigen Finessen.
Da jedes angesprochene Thema- von der ausgesperrten Figur bis zur offenen
Linie, dem König in der Mitte und dem Vorteil des Läuferpaars im Mittelspiel-
in ausführlichen Kapiteln mit vielen Diagrammen sehr detailliert behandelt wird,
profitiert der Leser, der diese Partien nachspielt, unmittelbar von diesem
nachhaltigen Mix aus kristallklarer Analyse und spannendem Kommentar.
Und auf vierzig Seiten werden im Anhang noch die Lösungen der gestellten
Aufgaben präsentiert. Darunter sind prickelnde Raritäten wie etwa die Partie
Aljechin-Teichmann (Berlin 1921, in der Weiß einen Bauern weniger hat und
trotzdem gewinnt) oder Euwe-Flohr (AVRO-Turnier Holland 1938), in der Weiß der
Einbruch in die ungünstige schwarze Stellung und damit der Sieg gelingt. Die
schrittweise Akkumulierung kleiner Vorteile wird auch exemplarisch in der Partie
Leo-Kasparov (Frankfurt 2000) demonstriert, in der Weiß einen vom eigenen
Zentralbauern behinderten Läufer hat und es Schwarz gelingt, einen
Freibauern zu bilden. Yaroslav Srokovski liefert hier einen optimal
strukturierten Ratgeber, den man mit Hochgenuss studiert und von dem
tatsächlich jeder mittelstarke Clubspieler mit DWZ-Werten
zwischen 1400-2100 profitieren dürfte.
Yaroslav Srokovski: Strukturiertes Schachtraining. Ein Ratgeber für aufstrebende
Schachspieler. SchachDepot Verlag Stuttgart, 255 S., 19,80,- Euro
Rezension von Peter Münder