Für eine Ukraine "ohne
Zeitnot"
Von Gerald Schendel
War es ein Zufall, dass in der Endphase des
Präsidentschaftswahlkampfes in der Ukraine auf einer ukrainischen
Internet-Schachseite ein Text auftauchte, in dem darüber spekuliert wurde, ob
die Absage des WM-Kampfes Ponomariow-Kasparow in Jalta Ende August 2003 auf eine
gegen Garri Kasparow gerichtete Initiative des russischen Präsidenten Wladimir
Putin zurückzuführen ist? ChessBase online berichtete über diesen Text am
8.11.2004 und gab den
Link an.
Der Verfasser des zuerst am 4.11.04 in einer russischsprachigen Publikation in
Israel erschienenen Textes, Dr. Mark Livshitz, sah den eigentlichen Grund für
die Absage des Matches in "anti-russischen Äußerungen" Kasparows in westlichen
Medien und führte dann auch noch das im Januar 2004 gegündete "Komitee 2008" an,
dessen Präsident Garri Kasparow wurde.
Nun kann man fragen, ob es logisch zulässig ist, zur Erklärung eines Vorganges
im Sommer 2003 ein Ereignis anzuführen, das fünf Monate später stattfand. Man
könnte auch untersuchen, warum "schachpolitische" Fragestellungen verengt auf
die Rolle von Russland, Moskau und dem Kreml zugespitzt werden.
Als der Weltschachbund FIDE bekannt gab, dass zum Auftakt der WM der ukrainische
Präsident Leonid Kutschma für Ruslan Ponomariow und der russische Präsident
Wladimir Putin für Garri Kasparow den ersten Zug ausführen würden, war Kasparows
kritische Haltung gegenüber der Politik Putins längst bekannt. Putin wäre nicht
eigens wegen der WM nach Jalta gereist, sondern wegen eines GUS-Gipfels. Dieser
Gipfel fand im Gegensatz zur WM statt. Im September 2003 wurden in Jalta
(Krim/Ukraine) Maßnahmen zur Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes
besprochen.
Im Sommer 2003 wusste man auch schon, dass die zweite Amtszeit von Leonid
Kutschma 2004 abläuft. Unklar war, ob der Amtsinhaber für eine dritte Amtszeit
kandidieren würde. In der ukrainischen Verfassung von 1996 (während Kutschmas
erster Amtszeit als Präsident 1994-1999) war festgelegt worden, dass ein
Präsident maximal zwei Amtszeiten absolvieren dürfe. Am 30. Dezember 2003
entschied das Verfassungsgericht der Ukraine, dass Präsident Kutschma sich 2004
erneut um das Amt des Präsidenten bewerben dürfe.
Mitte Januar 2004 sagte Oppositionsführer Viktor Juschtschenko Journalisten, die
hinter der Regierung stehende Parlamentsmehrheit versuche, Präsident Leonid
Kutschma zu einem "Interim-Präsidenten" 2004-2006 zu machen, indem man eine
Verfassungsreform plane, durch die 2004 der Präsident letztmals durch direkte
Wahl ermittelt werden solle - ab 2006 solle das Parlament den Präsidenten
wählen.
Dabei war Leonid Kutschma eben von einem mehrwöchigen Kuraufenthalt in
Deutschland zurückgekehrt. Mehrmals schon hatte Kutschma betont, er wolle 2004
nicht mehr zur Wahl antreten.
Taras Kuzio
vom Zentrum für russische und osteuropäische Studien an der Universität Toronto
erklärte die Situation in einem Beitrag für Radio Free Europe/Radio Liberty
(RFE/RL; 28.01.04) mit der Furcht des Regierungslagers, ohne die
Integrationsfigur Kutschma in mehrere rivalisierende Fraktionen zu zerfallen.
Hinter mehreren politischen Gruppierungen stehen unterschiedliche
Oligarchen-Clans. Der Donbas-Clan und die Dnepropetrowsk-Gruppe hätten
begriffen, dass mit dem Ende der Amtszeit Kutschmas auch das Ende des
Kapitalismus der "Räuberbarone" komme. Sie wollten "respektabel" werden,
benötigten jedoch eine Absicherung gegen eine Umverteilung von Vermögen.
Demgegenüber gibt es Oligarchen, die weiter nach den alten Regeln aus den 1990er
Jahren spielen wollen.
Eine Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE), in der
Kiew vor einer politischen Reform mit unkonstitutionellen Mitteln gewarnt wurde,
wies der Repräsentant des Präsidenten im Parlament, Oleksandr Sadorosny, am 30.
Januar zurück; der Resolutionstext stamme von "zwei wunderlichen Damen, die
keine Ahnung von den Entwicklungen in der Ukraine haben". Man versuche, den
Oppositionsführer Viktor Juschtschenko als neuen Präsidenten aufzudrängen. PACE
hatte umgekehrt argumentiert: die Reformen seien der Versuch, einen Wahlsieg des
führenden Oppositionskandidaten und früheren Premierministers Viktor
Juschtschenko im Oktober 2004 zu verhindern.
Die Berichterstatter des Europarats riefen Kutschma während eines
Ukraine-Besuchs im Januar dazu auf, sich nicht um eine dritte Amtszeit zu
bewerben. Polen und die Vereinigten Staaten hatten das Urteil des ukrainischen
Verfassungsgerichts vom Dezember 2003 kritisiert. Das ukrainische Parlament gab
dem Druck am 3. Februar nach und hob diejenigen Reformbestimmungen auf, die sich
auf eine Wahl des Präsidenten durch das Parlament bezogen.
Ende April beklagte der ukrainische Präsident Leonid Kutschma vor dem
Europäischen Wirtschaftsforum in Warschau die unklare Position der Ukraine im
europäischen Integrationsprozess: "Wir haben vor langer Zeit eine strategische
Eintscheidung in Richtung Europa getroffen. Wir verlangen heute nicht viel von
der EU, wir wollen nur wissen, ob die EU uns als Teil der Union sehen möchte. In
den letzten Jahren haben wir keinerlei klare Signale erhalten, dass die Ukraine
in der Europäischen Gemeinschaft willkommen ist." Kutschma sagte Journalisten in
Warschau am 29. April, dass die EU-Außenminister in Dublin an diesem Tag ein
"negatives Signal" gesandt hätten, indem sie der Ukraine nicht den Status einer
Marktwirtschaft einräumten. Später sagte er, die Situation erinnere ihn an den
Stierkampf: "Die Ukraine ist der junge Stier, der sich auf das rote Tuch stürzt,
während die EU stillsteht. Das rote Tuch ist inzwischen in der Sonne verblichen,
und so rennen wir nicht mehr so gierig hinter dem Tuch her."
Oppositionsführer Juschtschenko kritisierte das Projekt eines einheitlichen
Wirtschaftsraums mit Weissrussland, Kasachstan und Russland, das im September
2003 in Jalta beschlossen worden war. Der Text des Vertrages zeige, dass das
Projekt ein für die Ukraine nachteiliger politischer Populismus oder eine Art
Bestechung sei, um die russische Unterstützung für den Präsidentschaftswahlkampf
zu erlangen, berichtete RFE/RL am 30.04.04.
Hätte die WM Ponomariow-Kasparow parallel zu dem GUS-Gipfel in Jalta
stattgefunden, hätte dies die internationale Publicity für das Projekt eines
einheitlichen Wirtschaftsraumes im Osten gewiss verstärkt.
Am 21. Mai erhob der kommunistische Abgeordnete Valeri Mischura vor dem
ukrainischen Parlament den Vorwurf, westliche Organisationen und Stiftungen -
hauptsächlich in den Vereinigten Staaten und Deutschland - würden
Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) in der Ukraine finanzieren, um sich in
die Innenpolitik des Landes einzumischen und um Oppositionsführer Juschtschenko
zu helfen, die kommenden Präsidentschaftswahlen zu gewinnen. Ein anderer
kommunistischer Abgeordneter, Juri Solomatin, schlug vor, alle ukrainischen NGOs
zu verbieten, deren Operationen durch ausländisches Geld unterstützt werden. An
demselben Tag traf der frühere US-Präsident George Bush zu einem privaten Besuch
in der Ukraine ein und führte Gespräche mit Präsident Kutschma, Premierminister
Viktor Janukowitsch und drei Oppositionsführern, darunter Viktor Juschtschenko.
Der
Pressedienst von Viktor Juschtschenko
kündigte am 1. Juni an, dass Juschtschenko an diesem Tag das Waisenhaus
"Elternhaus" im Dorf Petriwske (Region Kiew) besuchen werde. Dort werde der
Schachweltmeister Ruslan Ponomariow mit begabten Waisen Schach spielen.
Veranstalter der Aktion sei die Stiftung "Ukraine 3000" (Juschtschenkos
Stiftung).
Juschtschenko, der von Dezember 1999 bis April 2001 Regierungschef war, hatte
die Stiftung "Ukraine 3000" als internationalen Fonds im November 2001
gegründet. Aktiv ist die Stiftung in den Bereichen Archäologie, Geschichte,
Gesellschaftspolitik und Wohltätigkeit.
Ruslan Ponomariow spielte im Waisenhaus simultan an 15 Brettern. Viktor
Juschtschenko dankte dem 20jährigen "Wunderkind" für die Teilnahme an dieser
Wohltätigkeitsveranstaltung und hob hervor, dass Ponomariow mit seinen Siegen in
Schachturnieren mehr dazu beigetragen habe, das Image der Ukraine zu verbessern,
als Politiker. Die teilnehmenden Kinder versprachen, sich das nächste Mal besser
vorzubereiten, und Ruslan Ponomariow versprach, dieses Waisenhaus bald wieder zu
besuchen.
Am 15. Juni berichtete glavred.info über eine Pressekonferenz von
Stanislav Belkowski in Kiew. Belkowski, Leiter des Rats für Nationale Strategie
in Moskau, sagte, Moskau sehe drei für Russland günstige Szenarien bei den
ukrainischen Präsidentschaftswahlen. Das erste Szenario würde die Wahl des
derzeitigen Premierministers Viktor Janukowitsch zum Präsidenten sein, das
zweite die hypothetische Wiederwahl von Präsident Leonid Kutschma zu einer
dritten Amtszeit, und das dritte würde die Wahl eines "ukrainischen Putin" sein,
also eines Mitglieds der Sicherheitsorgane. Das dritte Szenario sei das am
meisten und das erste das am wenigsten erwünschte. Dies sei nicht seine
persönliche Ansicht, sondern "die Meinung der Gruppen innerhalb der
Verwaltungselite, die wesentlichen Einfluss auf Putin hat". Doch selbst wenn die
Wahl von dem Führer des Oppositionsbündnisses "Unsere Ukraine", Viktor
Juschtschenko, gewonnen wird, würde Moskau dies akzeptieren. Außerdem würde im
nachhinein jeder künftige ukrainische Präsident als "Kandidat Moskaus"
betrachtet werden, selbst wenn es Juschtschenko sein sollte.
Am 2. Oktober telefonierte Viktor Juschtschenko mit dem EU-Vertreter für
gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Javier Solana, am 22. Oktober traf er
sich mit dem früheren US-Außenminister Henry Kissinger. Dabei sprach sich der
ukrainische Präsidentschaftskandidat für den baldigen Beitritt der Ukraine zur
Welthandelsorganisation WTO und für die Förderung der euroatlantischen
Integration aus.
Am 16. November 2004, wenige Tage vor dem entscheidenden zweiten Wahlgang am
21.11., berichtete der
Pressedienst von Viktor Juschtschenko,
was auch
andernorts zu
lesen war: "Schachweltmeister Ruslan Ponomariow hat seine Landsleute aufgerufen,
bei den Wahlen den ukrainischen Präsidentschaftskandidaten Viktor Juschtschenko
zu unterstützen."
"Ich betrachte es als meine bürgerliche Pflicht, Viktor Juschtschenko zu
unterstützen", sagte Ponomariow. Alle Ukrainer sollten klar und furchtlos
Stellung beziehen und jeden darüber informieren. Das Volk solle keine Angst
haben, sich die Entscheidung reiflich überlegen und sich nicht unter Druck
setzen lassen. Ponomariow erinnerte an den Wahlspruch des Weltschachbundes FIDE:
'Gens una sumus' ('wir sind eine Familie') und rief die Ukrainer dazu auf,
darüber nachzudenken: "Wenn wir vereint sind, sind wir unbesiegbar."
Ponomariow bemerkte, er sei in Horliwka (Donbas) geboren und habe dort zwanzig
Jahre lang gelebt: "Ich bin sicher, auch im Donbas gibt es genügend Anhänger von
Viktor Juschtschenko, und sie werden wählen gehen, um für Veränderungen zu
stimmen."
"Ein Schachspieler erarbeitet sich für eine Partie eine klare Strategie. Ich
glaube, unter Juschtschenko wird der Staat auch eine sorgfältig ausgearbeitete
Strategie für die Entwicklung der Ukraine verfolgen, ohne in Zeitnot zu
geraten."
In einer der letzten
Ansprachen
vor dem zweiten Wahlgang versuchte Viktor Juschtschenko dem Eindruck
entgegenzutreten, er sei der Kandidat des Westens gegen den Osten, gegen
Russland.
"Russland ist der strategische Partner der Ukraine. Wir sind verbunden durch
Geschichte, wirtschaftliche und politische Ziele, und durch Kultur." Gegner
zivilisierter Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland versuchten, das
ukrainische Volk aufzuteilen in diejenigen, die eine Stärkung der Beziehungen
zwischen der Ukraine und Russland unterstützen, und diejenigen, die dagegen
sind: "Ich glaube, dass die Ukraine die Lokomotive sein wird, die Russland und
Weissrussland in die Europäische Union hineinzieht. Wir streben nach aktiver
politischer Zusammmenarbeit mit Europa in derselben Weise wie Russland. Wir
werden uns der Europäischen Union an der Seite Russlands nähern und werden
unsere Aktionen mit Moskau abstimmen. Die Beziehungen zwischen der Ukraine und
der NATO werden den bilateralen Vereinbarungen zur Sicherheit zwischen der
Ukraine und Russland nicht widersprechen."
Gerald Schendel / 25.11.2004