Diskriminiert oder privilegiert?
Ein
Blick aufs Frauenschach anhand von Jennifer Shahades
Chess Bitch
Johannes Fischer
Jennifer Shahade, Chess Bitch: Women in
the Ultimate Intellectual Sport,
Siles Press, Los Angeles 2005, 320 S.,
gebunden, 26,50€.
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Schach Niggemann |
Was haben die Ekuadorianerin Martha Fierro,
die Sambierin Linda Nangwale, die Iranerin Shadi Paridar und die Vietnamesin
Hoang Trang gemeinsam? Antwort: Sie sind jung, attraktiv, spielen gut Schach und
werden von Jennifer Shahade in ihrem kürzlich erschienenen Buch Chess Bitch:
Women in the Ultimate Intellectual Sport vorgestellt.
Bildunterschrift: Martha Fierro, 1997 Sportlerin des Jahres in Ekuador
Unterschrift: Linda Nangwale mit Anna Dergachova
Die Iranerin Shadi Paridar: 4fache iranische Landesmeisterin
Die Vietnamesin Hoang Trang: Eine der besten Spielerinnen Asiens
Jennifer Shahade, Jahrgang 1980, ist
zweifache US-Meisterin, Mitglied der amerikanischen Frauenolympiamannschaft und
beschäftigt sich in Chess Bitch mit der Rolle von Frauen im männlich
dominierten Schachsport.
Charmant und erfolgreich: Jennifer Shahade, Autorin und Schachspielerin
Sie erzählt u.a. von der 1906 geborenen Vera
Menchik und der Deutschen Sonja Graf, zwei der ersten Frauen, die in Männer- und
Frauenturnieren international Erfolge feierten, sie berichtet, wie Spielerinnen
wie die Georgierin Nona Gaprindashvili, die Schwedin Pia Cramling, die Chinesin
Xie Jun und die Ungarinnen Susan und Judit Polgar dem Frauenschach in ihren
Ländern und international zum Durchbruch verholfen haben, und sie zeigt, wie
sich eine junge Generation von Spielerinnen wie Alexandra Kosteniuk, Humpy
Koneru und Antoaneta Stefanova im heutigen internationalen Schach Jet-Set
komfortabel eingerichtet haben.
Alexandra Kosteniuk, Humpy Koneru, Antoaneta Stefanova
Wahrscheinlich ist der provokante und leicht
anzügliche Titel des Buches auf diese und andere erfolgreiche junge
Schachspielerinnen gemünzt. "Bitch", so verrät das Internetwörterbuch Leo (www.leo.org),
bedeutet u.a. "Hure", "Miststück", "Schlampe" und "Zicke", wobei letzteres wohl
die adäquate Übersetzung ist, denn Shahade versteht unter "bitches" Frauen, "die
sich selbst Einfluss verschaffen". Tatsächlich zeigen die Erfolge und die
Popularität der besten Spielerinnen von heute, wie sehr sich das Frauenschach
und die Einstellung zum Frauenschach im Laufe der letzten Jahre gewandelt hat.
Die ältere Generation von Schachspielerinnen
wurde oft nicht ernst genommen und war Opfer von Vorurteilen und
Diskriminierungen. Etliche dieser Spielerinnen drifteten ins gesellschaftliche
Abseits.
So verfiel Sonja Graf nach Missbrauchserfahrungen in früher Kindheit
später dem Alkohol und führte ein rastloses Leben voll wechselnder
Männerbekanntschaften und rauschhafter Exzesse.
Ähnlich ging es auch Diane Lanni, einer der besten amerikanischen Spielerinnen.
Wie Sonja Graf wuchs sie unter schwierigen Verhältnissen auf, war später
zeitweilig alkohol- und kokainabhängig und finanzierte ihre Sucht als
Stripteasetänzerin und Prostituierte. Für die Beteiligung an einem illegalen
Buchmacherring musste sie sogar eine Zeitlang ins Gefängnis.
Ein solches
Schicksal blieb Mona Karff und Gisela Gresser, den Rekordgewinnerinnen der
US-amerikanischen Frauenmeisterschaft, erspart. Beide kamen aus wohlhabenden,
reichen, Familien, beide beherrschten mehrere Sprachen und lebten mit einer
Neigung zur Exzentrik ein unabhängiges, ungebundenes Leben. Was sie in den USA
der Nachkriegszeit allerdings ebenfalls zu gesellschaftlichen Außenseiterinnen
machte.
Mona Karff, (1914-1990), 7-fache US-Meisterin. Ihre Rivalen Gisela Gresser
(1906-2000) gewann den Titel 9 Mal.
Auch Susan Polgar, die erste Frau, die durch
ihre Turnierergebnisse den Großmeistertitel der Männer errang, wurde lange Zeit
systematisch benachteiligt: So weigerte sich der Ungarische Schachverband
etliche Jahre, sie zu Turnieren ins Ausland zu schicken oder nominierte sie
trotz erfolgreicher Qualifikation nicht für die Teilnahme am Interzonenturnier –
mit der plötzlichen Begründung, dort dürften nur Männer spielen. Heute jedoch
genießen Spielerinnen wie Alexandra Kosteniuk, Antoaneta Stefanova, Humpy Koneru
oder auch Shahade die Vorzüge als Frau in der Schachwelt zu leben. Sie werden zu
Turnieren in der ganzen Welt eingeladen, wohnen auf Verbandskosten in luxuriösen
Hotels, können üppige Preisgelder gewinnen und genießen Ruhm und öffentliche
Aufmerksamkeit.
Susan Polgar bei den Reichen und Schönen –
hier mit Meryl Streep
Woher rührt der plötzliche Boom des
Frauenschachs? Reflektiert sich hier in der Schachwelt, was sich als
gesellschaftliche Entwicklung in westlichen Industrieländern beobachten lässt,
nämlich dass Frauen, obwohl in den Schaltzentralen der Macht noch immer
unterrepräsentiert, zunehmend mehr Einfluss gewinnen und gewinnen wollen? Oder
verdanken wir diese Entwicklung Judit Polgar, die gezeigt hat, dass Frauen im
Schach mit den Männern mithalten können, und die so nicht nur das Denken über
Frauenschach radikal geändert, sondern auch zahllose junge Spielerinnen als
Vorbild inspiriert hat und inspiriert?
Oder liegt es am Internet? Schließlich sorgt
das Internet für eine schnelle Berichterstattung von Schachereignissen aus aller
Welt, verlangt aber kontinuierlich nach neuen Informationen und attraktiven
Bildern. Und Bilder von Schachspielerinnen sind eben doch meist ansehnlicher als
die ihrer männlichen Kollegen. Sie garantieren eine höhere Aufmerksamkeit des
Publikums und verleihen dem Schach ein anderes Image als das eines langweiligen
Sports für alte Männer. Allerdings betritt man hier heikles Terrain. Denn wie
Shahade beklagt, geht diese Art von Berichterstattung leicht in Sexismus über.
Soll heißen, über Frauenschach wird nicht wegen des Schachs, sondern wegen des
Aussehens der Spielerinnen berichtet. über Alexandra Kosteniuk, die auf ihrer
Webseite freizügige Photos präsentiert und ihre weiblichen Reize gezielt
vermarktet, schreibt Shahade: "Ich finde nichts verkehrt daran, dass Alexandra
auf ihr Aufsehen stolz ist. Allerdings geht sie auf ihrer Webseite zu weit, und
erweckt den Eindruck, dass Kleider, Make-up und die Arbeit als Model ihr
wichtiger sind als Schachvarianten, wodurch sie die Vorstellung aufrechterhält,
dass die wichtigste Eigenschaft einer Frau ihr Aussehen ist. (...) Die Klischees
weiblicher Unterlegenheit, die Alexandra mit ihrem Spiel über den Haufen wirft,
werden so durch ihre lächelnden, scharfen Fotos gedeckt." (S.181)
Alexandra Kosteniuk beim Simultan
Shahade fügt hinzu: "Während Schach so für
die breite Masse attraktiver wird, hilft es nicht unbedingt allen
Schachspielerinnen. Weniger attraktive Spielerinnen oder diejenigen, die ihr
Aussehen nicht in die Waagschale werfen möchten, könnten mit wenig
Aufmerksamkeit, wenig Unterstützung und wenig Einladungen zurückbleiben." Es sei
denn, so möchte man hinzufügen, sie spielen besser. Das Schicksal fehlender
Aufmerksamkeit, fehlender Unterstützung und fehlender Turniereinladungen würden
diese Frauen übrigens mit vielen männlichen Großmeistern teilen. Und keine
Angst: Auch Shahades Buch enthält zahlreiche Bilder attraktiver
Schachspielerinnen und Titel und Coverbild des Buches nutzen die subtile
Anziehungskraft weiblicher Reize, um Aufmerksamkeit zu erregen und die
Verkaufszahlen zu erhöhen.
Denn Sexismus hin oder her: Offensichtlich
werden Frauen in der Schachwelt heute nicht in erster Linie wegen ihres starken
Spiels bevorzugt behandelt, sondern weil sie Frauen sind. Die einzige Ausnahme
ist wieder Judit Polgar. Sie verdankt ihre Einladung zur WM in San Luis nicht
der Tatsache, dass sie eine Frau ist, sondern ihrer Elo-Zahl. Und möglicherweise
spielt Judit Polgar deshalb so stark, weil sie seit ihrer Jugend konsequent
versucht hat, gegen starke Gegner zu spielen und darauf verzichtet hat, in
Frauenturnieren anzutreten. Nur bei den Schacholympiaden 1988 und 1990 ging sie
bei den Frauen an den Start und verhalf zusammen mit ihren Schwestern Susan und
Sofia dem ungarischen Frauenteam in beiden Olympiaden zur Goldmedaille. Diese
konsequente Nichtteilnahme an Frauenturnieren hat Judit Polgar Hunderttausende
an Preisgeld gekostet. Ein Preis, den kaum eine andere Spielerin entrichten mag.
Judit Polgar, WM-Teilnehmerin
Denn Frauen genießen in der Schachwelt im
Vergleich "zum wirklichen Leben" heutzutage eine privilegierte Stellung. Während
Frauen, die beruflich-gesellschaftlich erfolgreich sein wollen, immer noch mehr
leisten und besser sein müssen als Männer, ist es im Schach genau umgekehrt:
Hier bekommen Frauen für die gleiche oder die schlechtere Leistung mehr Geld.
Mit ihrer augenblicklichen Elo-Zahl von 2332 könnte Shahade nicht einmal davon
träumen, bei den Männern ins Olympiateam aufgenommen zu werden, sie würde für
keine Weltmeisterschaft nominiert werden, ihr Verband würde keine Reisen in die
Luxushotels ferner Länder bezahlen, kaum jemand würde ihre Partien nachspielen
und bei offenen Turnieren würde sie in der Masse der Teilnehmer verschwinden.
Wie ihr Bruder, Gregory Shahade, Internationaler Meister mit 2446 Elo, von dem
die meisten wohl nur wissen, dass er eine berühmte Schwester hat.
Internationaler Meister Greg Shahade
Auch ein Großmeister Alexander Kosteniuk
würde mit einer Elo-Zahl von 2511 keine große Wellen schlagen. Und selbst wenn
er hundert Elo-Punkte mehr hätte, wäre es für ihn schwierig, Einladungen zu
lukrativen Turnieren zu bekommen.
Andererseits: Wer weiß, wie viele
talentierte junge Mädchen sich vom Schach abwenden, weil sie sich in dieser
Männerwelt nicht wohlfühlen, nicht respektiert werden, Spott, Hänselei und
sexistische Bemerkungen ertragen müssen? Oder weil sie es nicht mögen, permanent
kritisch beobachtet zu werden? Oder weil Schach zu spielen nicht mit den
klassisch weiblichen Rollenmodellen übereinstimmt, als unweiblich gilt und
Erfolg im Schach zu haben das eigene Selbstverständnis als Frau in Frage stellt?
Solche Fragen diskutiert Shahade anregend,
informiert und mit stark persönlicher Note. Ihr lebhafter, eleganter Stil macht
Chess Bitch dabei so faszinierend, dass man nicht immer ihrer Meinung
sein muss, um das Buch mit Vergnügen zu lesen. So etabliert sich Jennifer
Shahade mit Chess Bitch als eine der interessantesten Schachautorinnen
überhaupt – Männer und Frauen im gleichen Wettbewerb vereint.
Jennifer Shahade bei der Präsentation ihres
Buches im Marshall Chess Club in New York.
ChessBase-Bericht über Shahades Buchpräsentation im Marshall Chess Club...
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