Freestyle: "Gut gefritzt ist halb gewonnen"

von ChessBase
09.03.2006 – Selbst wenn man weiß, was mit Freestyle-Schach gemeint ist, weiß man noch lange nicht, wie man dies erfolgreich spielt. Schon 1996 hat Garry Kasparov den Vorschlag zu dieser Schachform gemacht und es als "Advanced Chess" der Öffentlichkeit vorgestellt. In León gab es das erste Advanced Chess Turnier. Doch schon vorher wurde von den Fernschachspielern Schachprogramme als Rechen- und Analysehilfe eingesetzt. Der Berliner Verleger und Fernschachgroßmeister Arno Nickel (Bild) ist eine der führenden Experten für dieses Thema und gibt im Folgenden kostenlose Überlebens-Tipps für alle, die sich im 16.000-Dollar Freestyle-Schachturnier versuchen wollen. Mehr...

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Gut gefritzt ist halb gewonnen
Kostenlose Überlebens-Tipps für das 16000-Dollar-Turnier

Intro

Hartgesottene Insider werden mit der Überschrift nicht ganz einverstanden sein. "Gut gefischt...", muss es doch eigentlich heißen, seit unter den Schachengines ein neuer Star Furore macht: Rybka 1.01 beta 13d, wie die letzte Version, scheinbar spröde, lautet. Indes ist "Rybka" das tschechische Wort für "kleiner Fisch". Programmautor IM Vasik Rajlich, der in den USA lebt, hat alles andere als ein "sprödes" Programm auf den Markt geworfen. "Klein" mag ja sein, aber eher ein Piranha als ein Zierfisch.

Falls Sie an dem 16000-Dollar-Turnier für Jedermann teilnehmen möchten und kein Computerschach-Experte sind, sollten Sie mir für diesen kostenlosen Rat zutiefst dankbar sein. Ich habe Sie eventuell davor bewahrt, daß Ihnen eine Fingerkuppe abgebissen wird, bevor Sie überhaupt wahrgenommen haben, gegen wen Sie da spielen.

Schach-Engines

Fischers Fritze fischt..., halt! da war doch noch etwas - richtig, Shredder. Letztes Jahr wurde rauf und runter geshreddert. Im Klartext: die Phalanx der Enginespieler beim PAL/CSS-Freistil-Turnier setzte unisono auf Shredder 9, der damals als der Überflieger galt. Programmautor Stefan Meyer-Kahlen sitzt derzeit eifrig an Shredder 10, wenn man der Computerschachgerüchteküche glauben darf. Wäre er denn damit schon draußen, würde sicherlich nicht so inszentiös gerybbt werden im sogenannten Maschinenraum auf Playchess.com und folglich auch nicht beim neuen Freistil-Turnier am 18./19. März, wo 16000 bugs an Land gezogen werden wollen. Wenn Sie mich fragen: Fritz 9, Hiarcs 10, Fruit 2.2, Spike 1.1, Junior 9 und ein gutes Dutzend andere Programme sind genauso gut als Zugeinflüsterer geeignet, wenn Sie mit dem nötigen S(ch)achverstand zu Werke gehen, das heißt als "Zentaur" spielen und sich nicht auf den Autopiloten (sprich: Engine spielt allein) verlassen wollen. Und noch ein kostenloser Tipp: Rybka ist oft sehr freigiebig mit seinen Bauern - oft liegt er damit richtig, aber es mangelt ihm, was kein Geheimnis ist, in vieler Hinsicht noch an elementarem Endspielwissen. Work in progress. Auch seine Königssicherheit ist noch stark verbesserungswürdig, da gefällt mir persönlich sowohl im Angriff als auch in der Verteidigung Fritz 9 um einiges besser.

Edel-Kiebitz Garri, "ZackS" und andere

Das mal zur ersten Einstimmung. Garri wird wohl wieder als Kiebitz dabei sein, wenn er Zeit hat. Letztes Jahr vermuteten ihn manche (zu Unrecht) hinter dem geheimnisumwitterten Turniersieger "ZackS", der in den Play-Offs namhafte Großmeister abkochte. Man konnte sich einfach nicht vorstellen, daß kein starker Großmeister zum ZackS-Team gehörte, sondern dieses, wie sich später herausstellte, aus zwei waschechten Computerfreaks mit einer Elo unter 2000 bestand. Nun bedurfte es laut Reglement keinerlei Erlärungen seitens der beiden recht jungen US-Amateure, denn im Freistil ist ja alles erlaubt, aber sie waren auf Anfrage gern bereit, ein wenig Einblick in das Geheimnis ihres Erfolges zu geben (siehe Frederic Friedels Beitrag in CSS-Online 5/2005 - ein Link findet sich in der nebenstehenden offiziellen Turnierausschreibung).

Der Erfolg des ZackS-Teams, das dieses Jahr übrigens wieder am Start ist, sollte allen Mut machen, die sich kaum Chancen gegen die Konkurrenz der spielstarken Titelträger ausrechnen. Der allgemeine Trend war zwar, dass sich die Kombination Großmeister+Engine gegen die reinen Enginespieler und die schwächeren Zentaur-Teams durchsetzte, doch Ausnahmen sind jederzeit möglich, und auch der Einzug der GM Lanka,  Kossyrew ("Tank 1") und Dobrow war keineswegs das Zuckerschlecken, das diese Cracks von Openbegegnungen mit Schachluschen gewohnt sind. Das war harte Arbeit, um in den Genuss von Petrodollars zu gelangen.

Elo 3000

Garri Kasparow, der geistige Urheber des Advanced Chess (übrigens im Jahre 1996), sah sich durch den Verlauf, wie er in seiner New In Chess-Kolumne (5/2005) schrieb, in vieler Hinsicht bestätigt. Die schachliche Stärke guter Advanced Chess Spieler dürfte in Elo-Zahlen ausgedrückt, irgendwo bei 3000 liegen. Völlig zu Recht stellte Frederic Friedel daher in seinem Fazit vor einem Jahr fest: "...Das Spielniveau war sehr hoch, möglicherweise das höchste, das je bei diesen Zeitvorgaben gesehen wurde. Es dürfte klar sein, dass ein menschlicher Spieler, auch wenn er zu den stärksten der Welt gehört, sich in einem solchen Feld kaum Chancen ausrechnen könnte." (Es handelte sich übrigens um 60 Minuten-Partien mit 15 Sekunden Zeitzugabe pro Zug.)

Das allein sollte Grund genug sein, einem solchen Turnier die nötige Beachtung zu schenken, doch neue Ideen haben es manchmal schwer, sich auf breiter Front durchzusetzen, zumal wenn sich noch kein griffiger Veranstaltungsmodus herausgebildet hat. Die Ochsentour im vergangenen Jahr mit recht vielen Spielterminen sollte dieses Jahr nicht wiederholt werden, weshalb ein in vieler Hinsicht vereinfachtes Modell gewählt wurde, an dem mitzuwirken, in Zusammenarbeit mit den Veranstaltern, inbesondere auch dem Sponsor, der PAL Group in Abu Dhabi (Stichwort: HYDRA Projekt), ich die Ehre hatte.

Freestyle Grand Prix !!

Der Kerngedanke, der in der bisherigen Ausschreibung wegen noch nicht ganz geklärter Terminfragen ausgespart wurde, ist nun überaus dazu angetan, das Experiment Freistil-Schach bzw. Advanced Chess zu verstetigen und zu popularisieren: eine jährliche Grand Prix Serie mit insgesamt drei solchen Turnieren, wobei jeweils die gleiche Preissumme zur Verfügung steht. Die nächsten Termine sind für Juni und September angedacht. Im Dezember könnte es dann zu einem weiteren Highlight kommen, wo die drei Turniersieger des Jahres aufeinander treffen, um den Super-Freestyle-Champion auszuspielen, wobei der Phantasie für die zünftige Ausgestaltung dieses Höhepunktes keine Grenzen gesetzt sind...

Wer ist dieses Jahr dabei?

Zurück zum 18./19. März. Bislang liegen Anmeldungen aus mehr als 20 Ländern vor, und es steht zu erwarten, dass sich die Teilnehmerzahl für das Hauptturnier (8 Runden Schweizer System, 45min+5sec Partien) gegenüber dem Vorjahr, als sich insgesamt (mit Qualifikationsturnier) knapp 80 Teams gemeldet hatten, mindestens verdoppeln wird. Allerdings halten sich die Titelträger mit Meldungen noch ziemlich bedeckt. Handelt es sich hier um Nachwirkungen des ZackS-Schock vom Vorjahr? Wie auch immer, das erhöht natürlich die Chancen der Amateure auf einen Platz an der Sonne.

Unter den Schachprofis genießt Advanced Chess immer noch vorwiegend den Status von Showkämpfen, bestenfalls mit Experimentalcharakter. Ansonsten ist es anrüchig, mit Computerhilfe zu spielen, was sicherlich auch durch den Mißbrauch per elektronischem Doping bei menschlichen Turnieren verursacht wurde. Pikanterweise sind es ja längst nicht mehr nur Amateure, die beim Mogeln ertappt wurden, sondern nach und nach tragen sich auch Titelträger in die Schwarzen Listen ein. Nicht zu verkennen ist andererseits der Trend hin zum Advanced Chess Analysieren. Hier gibt es durchaus schon eine etablierte Kultur. Immer häufiger zitieren Kommentatoren getreu dem Kasparow'schen Vorbild Fritz mit seinen Variantenvorschlägen und geben damit unfreiwillig zu erkennen, dass es "ohne" nicht mehr geht... Warum dann nicht auch einmal das Experiment Advanced Chess wagen, meine Herren? Oder ist Ihr Laptop etwa zu schwach auf der Brust?

Hardware und Nutzungstechniken

Nun, zugegeben, um im Freistil-Turnier zu bestehen, bedarf es auch einer möglichst leistungsstarken Hardware. Mit einem Pentium 3 und heutzutage schlappen 800 MHz, werden Sie Mühe haben, einen halben Punkt zu ergattern, auch wenn Sie eine FIDE-Elo von mehr als 2400 haben. Optimal ist ein Team mit zwei bis drei Rechnern. Auf dem Internetrechner schalten Sie eine "Kiebitz"-Engine ein, die brauchen Sie nicht zu bedienen, denn sie schaltet automatisch auf die aktuelle Stellung um. Hier können Sie nicht analysieren, sondern nur ablesen, entweder im Ein-Variantenmodus oder in einem Mehr-Variantenmodus. Behalten Sie diesen Kiebitz immer im Auge, denn er bewahrt Sie vor Fehleingaben auf Ihrem Zweit- oder Drittrechner. Dort analysieren Sie vermutlich mit einem anderen Programm, und gehen zur Klärung und Beschleunigung der Analyse in kritische Varianten hinein. In der Hektik kann es Ihnen passieren, das Sie nicht wieder zur richtigen Partiestellung zurückkehren. Deshalb, Obacht, immer ab und zu einen Kontrollblick zum Internetrechner.

Tablebases und Team-Aspekte

Auf mindestens einem (wenn nicht allen) Rechner(n) sollten Sie die Fünfsteiner-Endspieldatenbanken installiert haben. Spezialisten haben teilweise schon Festplatten mit ausgewählten Sechsteinern parat. Wenn Sie ohne Fünfsteiner-Tablebases spielen, wird Sie das mit Sicherheit Punkte kosten. In Zeitnot ließ ich mich im vergangenen Jahr gegen einen starken US-Großmeister auf eine Abwicklung ein, die uns ein Endspiel 2 Springer (er) gegen einen Bauern (ich) bescherte. Es war für mich ein Schock, als mir meine Tablebases ein Matt in 79 Zügen ankündigten. Ich fragte mich noch, wann im Zuge dieser Abwicklung ein Bauer gezogen oder ein Stein geschlagen wird (50 Züge Regel...). Das alles war aber unnötige Aufregung, denn mein Gegenüber hatte keine Tablebases installiert und tappte 50 Züge vergeblich mit seinen Springern übers Brett, um hernach frustriert aus dem virtuellen Turniersaal zu flüchten. Er hatte mein innigstes Mitgefühl, wenngleich ich mich über diesen halben Punkt natürlich außerordentlich gefreut habe.

Grundsätzlich ist ein Team von zwei Spielern, wenn es gut harmoniert - technisch, schachlich, menschlich, wo immer die Schwerpunkte liegen -, im Vorteil gegenüber einem Einzelspieler. Das war wohl auch ein Aspekt des ZackS-Erfolges. Wenn Sie erst lange diskutieren müssen mit Ihrem Partner über einfachste Dinge, dann haben Sie etwas falsch gemacht. Klare Strukturen, klare Prioritäten, sonst bringt die Zusammenarbeit angesichts des großen Zeitdrucks nichts, sondern schadet nur.

Umgang mit der Bedenkzeit

Wir haben in diesem Jahr eine etwas kürzere Bedenkzeit: 45 Minuten plus 5 Sekunden. Auf dieses Weise sollte es ermöglicht werden, 8 Partien an einem Wochenende zu spielen, ohne dass es in zu großen Stress ausartet. Man muss bei den Rundenansetzungen davon ausgehen, dass angesichts der hohen Genauigkeit des Spiels immer die eine oder andere Partie dabei ist, die mehr als 100 Züge dauert. Das sind oft interessante Endspiele, und es wäre kein guter Stil, sie zu früh durch einen Verzicht auf Zeitzugabe pro Zug abzuwürgen.

Wie dem auch sein, die psychologische und praktische Einstellung auf diese Zeitbedingungen ist außerordentlich wichtig, um erfolgreich zu spielen. Ich vermute, daß diese Zeitbedingungen (im Unterschied zu 60 Minuten-Partien) ein klein wenig den reinen Enginespielern entgegenkommen, denn sie erzielen meistens einen gewissen Zeitvorsprung aus der Eröffnung heraus, wenn sie denn mit einem großen Eröffnungsbuch spielen, was meistens der Fall ist. Der Zeitfaktor spielt also eine ganz große Rolle im Vergleich Zentaur gegen Engine. Wenn der Zentaur in deutlichen Zeitnachteil gerät und außerdem mit seiner Stellung Probleme hat, dann ist dies bereits der Keim seiner Niederlage. Andererseits haben die automatisch spielenden Engines häufig das Problem, dass sie bei selbstverständlichen Zügen Zeit verplempern. Das kann der Zentaur systematisch ausnutzen, weshalb wohl viele Engingespieler - zumindest als ein Grund - auf Playchess.com das Spiel gegen Zentauren von Haus aus per Formel ablehnen. Wird ein Zug ausgespielt, den die automatische Engine erwartet hat, wird sie in der Regel entweder sofort oder relativ schnell antworten. Spielen Sie deshalb, wenn Sie die Wahl eines gleichwertigen, aber weniger wahrscheinlichen Antwortzuges haben, lieber diesen, um das Programm zum Neuberechnen zu zwingen.

Good luck!

Es gibt viele kleinere technische Hinweise, die den Umgang mit dem Playchess-Server betreffen, die hier unerwähnt bleiben müssen. Am besten sammeln Sie im Maschinenraum ein paar Erfahrungen, bevor es losgeht. Und, mein letzter Tipp, sorgen Sie für eine angenehme Atmosphäre in Ihrem Schachlabor, denken Sie an geeignete Verpflegung, Getränke, Musik, je nach dem, was Sie brauchen, um gut drauf zu sein. Und - nehmen Sie es nicht zu ernst, erfreuen Sie sich auch am guten Spiel des Gegners, kiebitzen Sie bei den anderen Partien, wenn Ihre früher beendet sein sollte, und fühlen Sie sich als Mitglied einer world wide Advanced Chess community. Garris Segen haben Sie bereits.

Arno Nickel
(Fernschach-GM und Schachverleger in Berlin)

 

 

 

 

 

 


Die ChessBase GmbH, mit Sitz in Hamburg, wurde 1987 gegründet und produziert Schachdatenbanken sowie Lehr- und Trainingskurse für Schachspieler. Seit 1997 veröffentlich ChessBase auf seiner Webseite aktuelle Nachrichten aus der Schachwelt. ChessBase News erscheint inzwischen in vier Sprachen und gilt weltweit als wichtigste Schachnachrichtenseite.

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