Gewinnen lernen (1): Ungleichgewichte schaffen

von Jan Markos
23.03.2022 – Gewinnen macht Spaß, ist aber nicht immer leicht. Was, zum Beispiel, macht man, wenn man unbedingt gewinnen muss oder will und der Gegner mit einem Remis mehr als zufrieden ist? Der slowakische Großmeister und preisgekrönte Autor Jan Markos weiß Rat: Ungleichgewichte schaffen! Im ersten Teil seiner Serie "Gewinnen lernen" zeigt er, wie man Ungleichgewichte herbeiführt und sich Gewinnchancen verschafft. | Foto: Dreamstime

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Gewinnen lernen 1: Nicht Risiko, sondern Ungleichgewicht

Stellen Sie sich vor, Sie spielen ein Turnier, und in der letzten Runde müssen Sie gewinnen, um das Turnier zu gewinnen oder ins Preisgeld zu kommen oder eine Norm zu machen. Wie würden Sie Ihre Chancen auf einen Sieg maximieren? Nun, wir alle kennen die Antwort, nicht wahr? Ohne Risiko kein Sieg! Man spielt eine riskante Eröffnungsvariante und hofft auf das Beste. Aber ist das wirklich eine so gute Idee?

Tatsächlich ist dieses Vorgehen zu direkt und in den meisten Fällen einfach falsch. Denn es gibt andere, raffiniertere und effizientere Wege zum Sieg. Gewinnen ist eine Kunst, die man lernen kann. Wie man sie lernen kann, möchte Ihnen diese Artikelserie zeigen.

Mein Name ist Jan Markos. Ich komme aus der Slowakei, bin Großmeister, ehemaliger Jugendeuropameister und war schon zwei Mal slowakischer Landesmeister. In den letzten Jahren habe ich mich jedoch mehr auf das Training konzentriert und mit jungen Großmeistern und Internationalen Meistern gearbeitet. Außerdem habe ich einige Schachbücher geschrieben und 2018 wurde mein Buch Under the Surface vom englischen Schachverband zum Buch des Jahres gekürt. Mein neuestes Buch The Secret Ingredient, das ich zusammen mit David Navara geschrieben habe, konzentriert sich auf praktische Aspekte des Schachkampfes.

Doch nun zurück zu unserem Thema. Warum ist es falsch, zu große Risiken einzugehen? Und wie kann man eine chancenreiche Stellung bekommen, ohne Risiken einzugehen? Nun, Schach ist kein Roulettespiel. Beim Schach entscheidet nicht das Glück, sondern das Können. Deshalb muss man Stellungen bekommen, in denen man sein größeres Können zur Geltung bringen kann, und nicht Stellungen, in denen Glück oder Zufall den Kampf entscheiden.

Kurz gesagt: Sie müssen keine übermäßigen Risiken eingehen, aber Sie müssen ein Ungleichgewicht auf dem Brett schaffen. Was ist damit gemeint? Schauen wir uns einige Beispiele aus der Großmeisterpraxis an.

Ungleichgewicht 1: Bessere Struktur vs. Läuferpaar

Bei der Vorbereitung auf den WM-Kampf 2018 gegen Magnus Carlsen mussten Fabiano Caruana und sein Team eine schwierige Frage beantworten: Wie kann man mit Weiß gegen Carlsen Stellungen bekommen, die Gewinnchancen bieten?

In diesem Wettkampf war Carlsens Hauptwaffe gegen 1.e4 der Sveshnikov-Sizilianer. Um Chancen gegen einen hervorragend vorbereiteten Gegner zu bekommen, hat Caruana versucht, langfristige Ungleichgewichte zu schaffen. In der ersten Partie spielte er die Rossolimo-Variante:

1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 g6 4.Lxc6 dxc6

 

Warum in aller Welt sollte man freiwillig im vierten Zug das Läuferpaar aufgeben, ohne durch …a7-a6 dazu provoziert worden zu sein? Nun, in der Rossolimo-Variante strebt Weiß nach einem ganz bestimmten Ungleichgewicht: bessere Bauernstruktur vs. gegen Läuferpaar.

Die schwarzen Doppelbauern sind noch nicht schwach. Der Bauer auf c5 kann mit ...b7-b6 gut gedeckt werden. Aber die Notwendigkeit, diesen Bauern decken zu müssen, führt dazu, dass die gesamte Damenflügelstruktur des Schwarzen unbeweglich ist. Außerdem könnten die Doppelbauern dem weißen Springerpaar entgegenkommen, denn Springer lieben Bauernstrukturen mit Schwächen. Sollte sich die Stellung allerdings öffnen, so verschafft das Läuferpaar Schwarz einen wichtigen Vorteil.

Am wichtigsten jedoch ist, dass sich dieses strategische Ungleichgewicht nicht so schnell verflüchtigen wird. Der Zug Lxc6 lässt sich nicht so einfach "rückgängig" machen und man kann das Läuferpaar nicht einfach für eine bessere Bauernstellung tauschen.

So steht ein komplexer Kampf bevor, den der bessere Spieler wahrscheinlich gewinnen wird. Hier ist der Beweis:

 

Nach nur 14 ist eine inhaltsreiche Stellung mit Chancen für beide Seiten entstanden, ein schnelles Remis ist nicht zu erwarten. Die schwarzen Läufer sind stark, aber die weißen Chancen sollten nicht unterschätzt werden: er ist besser entwickelt und kann aktives Spiel auf der f-Linie einleiten. Ein Springer auf f6 wäre schön, nicht wahr?

Carlsen sah sich hier zu 14…g5 gezwungen, was Raum am Königsflügel gewinnt. Aber jetzt ist klar, dass Schwarz lang rochieren wird, was der Stellung zusätzliche Spannung verleiht.

Im weiteren Verlauf der Partie zeigte sich jedoch, dass Carlsen ein besseres Gefühl für diese Art von Stellungen hatte. Caruana spielte ungenau und stand kurz vor einer Niederlage. Mit ein wenig Glück konnte er die Partie am Ende jedoch noch Remis halten.

 

Die beiden folgenden Partien mit der Rossolimo-Variante endeten ebenfalls mit Remis. Deshalb war in der achten Partie die Zeit gekommen, eine andere Form des Ungleichgewichts herbeizuführen…

Ungleichgewicht 2: Asymmetrische Bauernstruktur

In der achten Partie ließ sich Caruana auf die Sveshnikov-Variante ein und probierte die Variante mit 7.Sd5. Die Diagrammstellung entstand nach 1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 e5 6.Sdb5 d6 7.Sd5 Nxd5 8.exd5 Sb8

 

Das Ungleichgewicht, das in dieser Stellung verborgen ist, unterscheidet sich von der vorherigen. Es beruht auf der Asymmetrie der Bauernstrukturen. Weiß hat eine Mehrheit (=einen Vorteil) am Damenflügel. Das bedeutet, dass Schwarz nicht passiv bleiben kann. Sein Damenflügel ist auf lange Sicht nicht zu verteidigen.

Dasselbe gilt jedoch auch für den weißen Königsflügel. Mit einem König auf g1, der sich dem Sturm der schwarzen Königsflügelmehrheit gegenübersieht, könnte eine passive Verteidigung auf diesem Teil des Brettes zum Scheitern verdammt sein.

Deshalb müssen beide Spieler klug und einfallsreich sein: Sie müssen die Aktivität auf ihrem Flügel mit Abwehrmaßnahmen gegen den gegnerischen Angriff kombinieren.

Und noch einmal: Es gibt keine einfache Möglichkeit, dieses Ungleichgewicht "rückgängig" zu machen und eine langweilige remisliche Stellung zu erreichen. Daher wird in den meisten Fällen der bessere Spieler gewinnen!

Dieses Mal war Caruana dem Sieg viel näher. Schauen wir uns die Stellung nach zwanzig Zügen an:

 

Der Amerikaner spielte 21.c5! und nutzte so seine Damenflügelmehrheit. Die Computer sind sich einig, dass Weiß hier objektiv gesehen bereits auf Gewinn steht. Obwohl die Partie wieder mit einem Remis endete, ist der Verlauf der Eröffnung erstaunlich. Nach 20 Zügen gegen Carlsen Gewinnstellung zu erreichen, ist bemerkenswert.

Hier die vollständige Partie

 

Ungleichgewicht 3: Schnell vs Langsam

Es gibt viele Ungleichgewichte, die Sie nutzen können, um Ihre Partien zu gewinnen. Schauen wir uns an, wie Vishy Anand mit Schwarz gegen FM Matthias Bach, einen Gegner mit deutlich niedrigerer Elo-Zahl auf Gewinn gespielt hat. Die Partie begann mit:

1.Sf3 d5 2.c4 d4

 

Nach nur zwei Zügen ist schon ein Ungleichgewicht entstanden. Mit dem ehrgeizigen 2...d4 übt Anand erheblichen Druck auf seinen Gegner aus. Warum ist das so? Weil der d4-Bauer sowohl verwundbar als auch stark ist. Einerseits ist er freiwillig näher an die weiße Armee herangerückt. Das verschafft Weiß eine kurzfristige Initiative. Wenn Weiß jedoch nicht aktiv und energisch spielt und Schwarz erlaubt, den d4-Bauern zu stärken und zu stützen, dann wird genau dieser Bauer die Grundlage für den Raumvorteil (=positionellen) Vorteil des Schwarzen bilden.

Dies ist ein typisches Beispiel eines schnell vs langsam Ungleichgewichts. Schnelles, aktives, zweischneidiges Spiel kommt Weiß entgegen, langsames Spiel, bei dem sich beide Seiten ruhig entwickeln, kommt Schwarz entgegen.

Aber halt! Eine Frage: Wären Sie bereit, gegen Anand bereits in der Eröffnung alles auf eine Karte zu setzen? FM Bach war dazu nicht bereit und entschied sich für ein ruhiges Vorgehen. Und nach nur 13 Zügen stand Schwarz bereits besser:

 

Der Bauer d4 ist sicher gedeckt, Schwarz hat Raumvorteil und die aktiveren Figuren und steht klar besser. Anand gewann mühelos.

Die vollständige Partie

 

Ungleichgewicht 4: Die Kraft der Läufer

Die Gangart der Läufer macht es schwer, sie von einem Flügel zum anderen zu bringen. Deshalb gelingt es starken Spielern oft, ein verdecktes Ungleichgewicht zu schaffen, das auf der unterschiedlichen Kraft der Läufer beruht.

Ich musste das auf die harte Tour lernen. In einer Partie gegen GM Tomashevsky hatte ich Schwarz und war mit dem Ergebnis der Eröffnung relativ zufrieden:

 

Die vier Springer waren schnell vom Brett verschwunden, und ich dachte, in der vereinfachten Stellung hätte ich gute Chancen, gegen meinen nominell stärkeren Gegner zu bestehen.

Ich hatte jedoch unterschätzt, dass unsere schwarzfeldrigen Läufer auf unterschiedlichen Diagonalen operieren. Genauer gesagt, in einem ganz anderen Universum. Es ist ein wichtiges Prinzipg, das aber von vielen Spielern ignoriert wird, auch von mir im Jahr 2008: Läufer der gleichen Farbe, die auf dem gleichen Flügel stehen, haben viel weniger Berührungspunkte als Läufer der gleichen Farbe, die auf unterschiedlichen Flügeln stehen.

Wie ging es weiter? Tomashevsky stellte seinen schwarzfeldrigen Läufer nach b2 und öffnete dann (mit meiner Hilfe) die lange Diagonale sowie die f-Linie. Und das führte zum folgenden Eröffnungsdesaster:

 

Nach nur 13 Zügen steht Schwarz klar schlechter, vielleicht sogar kurz vor dem Verlust. Sein Läufer auf c5 ist nutzlos, während der schwarzfeldrige Läufer des Weißen auf b2 glänzt. Tomashevsky verdoppelte seine Türme auf der f-Linie und brachte dann seinen Weißfelder nach e4. Die beiden Läufer auf b2 und e4 richteten ihre ganze Feuerkraft auf meinen armen Königsflügel. Ich verlor chancenlos.

Die ganze Partie

 

Warum habe ich diese Partie verloren? Ich wusste einfach nichts über das Ungleichgewicht, das durch die Kraft der Läufer entstehen kann.

***

Es gibt viele weitere Ungleichgewichte, die ein starker Spieler kennen sollte. Einige sind offensichtlich, wie entgegengesetzte Rochaden. Andere sind komplizierter, wie das Ungleichgewicht Springer gegen Läufer.

Aber vor allem sollten Sie eins aus diesem Artikel mitnehmen: Um auf Sieg zu spielen, müssen Sie keine übermäßigen Risiken eingehen, gekünstelt oder unnatürlich spielen. Sie müssen nur ein langfristiges, strategisches Ungleichgewicht schaffen - und danach beweisen, dass Sie der bessere Spieler sind.

Übersetzung aus dem Englischen: Johannes Fischer


Jan Markos ist ein slowakischer Schachautor, Trainer und Großmeister. Sein Buch "Under the Surface" wurde 2018 vom Englischen Schachverband zum Buch des Jahres gewählt. Sein neuestes Buch, "The Secret Ingredient", das er zusammen mit David Navara geschrieben hat, konzentriert sich auf die praktischen Aspekte des Schachs, z.B. Zeitmanagement am Brett oder Vorbereitung auf einen bestimmten Gegner. Markos war vor zwanzig Jahren U16-Europameister und jetzt verhilft er seinen Schülern aus mehreren Ländern zu ähnlichen Erfolgen. Neben Schachbüchern hat er auch Bücher über kritisches Denken, moralische Dilemmata und Phänomenologie geschrieben.

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