Gibt es eigentlich bei Schachmannschaftskämpfen einen Heimvorteil?

von Roger Lorenz
17.10.2024 – Beim Fußball und auch bei anderen Ballsportarten spielt der Heimvorteil eine große Rolle. Aber wie ist es beim Schach. Laute Gesänge der Fans gibt es ja eher nicht. Und auch keine Choreo. Roger Lorenz wollte sich nicht auf Vermutungen stützen und beleuchtet die Frage mit statistischen Methoden. | Foto: Keith Johnston/ Pixabay

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Mit dieser Frage hat mich vor kurzem meine Frau überrascht. Ich muss gestehen, dass ich mich noch nie mit dieser Frage beschäftigt hatte und tat mich daher schwer, direkt eine Antwort zu geben.

Mein Bauchgefühl sagte mir, dass es so einen Heimvorteil geben müsste, weil die Auswärtsmannschaft in der Regel eine längere und damit auch stressigere Anreise hat. Bei einigen Spiellokalen kommen sicherlich die Licht- und Lärmverhältnisse hinzu, die ggf. die Heimmannschaft bevorteilen könnten.  Aber qualifizierte Informationen, ob es diesen Heimvorteil wirklich gibt und wie groß dieser Vorteil ist, hatte ich keine. Also beschloss ich, mich mit diesem Thema näher zu beschäftigen.

Wie sieht es in anderen Mannschaftssportarten aus?

Bevor ich mich mit Schachmannschaftskämpfen beschäftigte, habe ich mir zunächst angeschaut, wie es in anderen Mannschaftssportarten aussieht. Blicken wir da – wie könnte es in Deutschland anders sein – zunächst auf die Fußballbundesliga. Auf der Seite von Bundesliga-Trend findet man entsprechende Statistiken (https://www.bundesligatrend.de/heimvorteil-in-der-fussball-bundesliga-statistik-psychologie-wettquoten.html), die den Heimvorteil klar belegen. So sah die Statistik für die Saison 2017/2018 wie folgt aus:

Der statistische Heimvorteil lag in dieser Saison also bei knapp 18%. Das ist schon einiges. In den Anfangsjahren der Bundesliga lag dieser Wert noch deutlich höher. In den 60er und 70er Jahren haben die Heimteams noch über 55% Siegquote erreicht.

Was sind nun beim Fußball die Gründe für den Heimvorteil? Schaut man sich bei Wikipedia um (https://en.wikipedia.org/wiki/Home_advantage), dann werden dort folgende Gründe für den Heimvorteil gegeben:

  • Anreise
  • Spielstätte
  • Zuschauer

Man geht aber davon aus, dass sich im Profisport die Auswirkungen der Anreise immer weiter abschwächen. Mittlerweile ist es Standard, dass die Teams bereits am Vortag zu den Matches anreisen, und sicherlich hat sich auch der Anreisekomfort deutlich verbessert. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum sich die Heim-Siegquote in der Bundesliga seit den 70er Jahren reduziert hat.

Bei der Spielstätte gibt es schon krasse Beispiele. So trägt zum Beispiel die Fußballnationalmannschaft von Bolivien ihre Heimspiele in dem Stadion Estadio Hernando Siles aus. Dieses liegt in La Paz auf einer Höhe von über 3500 Metern.

Abbildung 1: Stadion Estadio Hernando Siles (Quelle: juhauski72 - the stadium, Miraflores Bajo from Killi-Killi, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16016235)

Den Heimvorteil der Bolivianer durch dieses Stadium erkennt man daran, dass Bolivien in den Qualifikationsturnieren zu den Fußball WMs 2006-2018 zuhause insgesamt 14 Siege und 10 Unentschieden geholt hat, während auswärts nur zwei Unentschieden und kein einziger Sieg erzielt wurde.

In Deutschland liegt das höchste Bundesliga Stadion aktuell in Heidenheim (Voith-Arena) auf etwas über 550 Metern Höhe. Auch sind mittlerweile alle Plätze fast gleich groß und seit dem Umzug der Freiburger in ihr neues Stadion gibt es auch keinen Platz mit messbarem Gefälle mehr. Daher gehe ich davon aus, dass die Spielstätten in der Bundesliga nur in sehr geringem Maß zum Heimvorteil beitragen.

Bleibt noch der Faktor Zuschauer. Und dieser scheint in der Tat mittlerweile für den Heimvorteil in der Bundesliga eine große Rolle zu spielen. Es gibt unzählige Untersuchungen, die nachweisen, dass das Publikum den Schiedsrichter beeinflusst. Die Heimmannschaften bekommen mehr Elfmeter und Freistöße zugesprochen, weniger gelbe Karten gezeigt als die Auswärtsmannschaften und werden somit bevorzugt. Klar, dass sich dieses dann auch in den Ergebnissen zeigt.

Die Covid-Zeit führte dazu, dass viele Spiele im Profisport vor leeren Rängen durchgeführt wurden. Untersuchungen in der Nordamerikanischen Eishockeyliga NHL haben gezeigt, dass vor Covid die Heimmannschaften ca. 55% der Spiele gewonnen haben (Unentschieden gibt es in dieser Liga nicht), während diese Zahl während Covid auf 49% sank (https://www.onlinegambling.ca/sports-betting/hockey/nhl/nhl-home-ice-advantage.php).

Heimvorteil in Schachmannschaftskämpfen

Wenden wir uns aber den Schachmannschaftskämpfen zu. Um hier fundierte Aussagen treffen zu können, benötigt man zunächst einmal valide Daten. Diese findet man auf den Ergebnisseiten des Deutschen Schachbundes (https://ergebnisdienst.schachbund.de/bedh.php?liga=nrw-k4). Für die Jahre 2003 bis heute kann man dort die Ergebnisse von Mannschaftskämpfen nachschauen. Ursprünglich war der Ergebnisdienst wohl für die 3 höchsten Spielklassen vorgesehen, aber in den letzten Jahren sind weitere Ligen hinzugekommen, so dass jetzt mindestens für NRW alles bis zur 5. Liga verfügbar ist.

Mittels eines selbst programmierten Web-Crawlers habe ich die einzelnen Ergebnisseiten gescannt und die gefundenen Ergebnisse in einer Excel-kompatiblen CSV-Datei auf der Plattform Kaggle gespeichert (https://www.kaggle.com/datasets/roger5293/german-chess-team-competitions-2003-2024/data?select=german_chess_team_results.csv ).

Abbildung 2: Aufbau der CSV-Datei mit den Mannschaftsergebnissen

Wie man sieht, ist die Datei einfach aufgebaut. Jede Zeile stellt ein Ergebnis dar, und pro Ergebnis werden die Liga, das Jahr, die Runde, die beteiligten Vereine und das Ergebnis gespeichert. Die Datei ist für alle frei, jeder darf sie für eigene Auswertungen verwenden.

Insgesamt enthält die Datei über 18.000 Einträge, das sollte für eine statistische Auswertung reichen. Allerdings habe ich für meine Auswertungen auf die Ergebnisse der 1. Bundesliga (sowohl der Frauen als auch der Männer) verzichtet, da diese Mannschaftskämpfe in der Regel an einem Ort mit 4 Teams durchgeführt werden. In dieser Konstellation ist es schwierig, von Heim- und Auswärtsmannschaften zu sprechen. Durch diese Reduktion verringerte sich die Datenmenge auf ca. 15.000 Einträge.

Bevor wir jetzt die Datei auswerten, sollten wir uns vorher noch überlegen, was wir als Ergebnis erwarten. Kann man einen Heimvorteil nachweisen und wenn ja, wie groß wird er sein und was sind die Gründe für den Heimvorteil?

Bei den Beispielen vom Fußball und Eishockey, die wir betrachtet haben, geht man davon aus, dass die Zuschauer einen großen Anteil an dem Heimvorteil haben. Beim Schach haben wir selten Zuschauer und wenn doch, dann verhalten sie sich zurückhaltend. Also wird dieser Faktor bei einem möglichen Heimvorteil keine Rolle spielen. Damit ist zu erwarten, dass der Heimvorteil bei Mannschaftskämpfen deutlich geringer sein wird als beim Fußball oder Eishockey. Ich persönlich bin von einer Heimquote von 53% ausgegangen.

Des weiteren ging ich davon aus, dass die Länge der Anreise der entscheidende Faktor für den Heimvorteil ist. Um dieses nachzuweisen, müsste man jetzt für jeden Wettkampf ermitteln, wie weit die Orte der beiden Mannschaften auseinander liegen und dann eine entsprechende Auswertung erstellen. Das wäre aber sehr aufwendig, so dass ich eine andere Idee verfolgt habe. Einige Ligen sind so zugeschnitten, dass die Entfernung zwischen den einzelnen Spielorten grundsätzlich nicht so weit ist. Als Beispiel habe ich mir hier die Landesliga Hamburg rausgesucht. Daneben gibt es andere Ligen, wo die Entfernung zwischen den Spiellokalen schon sehr weit sein kann. Hier fallen mir die vier 2. Bundesligen ein.  So musste z.B. letzte Saison in der 2. Bundesliga West Werder Bremen II in Koblenz antreten, das sind mehr als 400 Kilometer Anreise. Daher erwartete ich für die 2. Bundesliga West ein höhere Heimquote als in der Landesliga Hamburg.

Die Ergebnisse

Als erstes schauen wir uns zunächst die Gesamtauswertung an. Diese sieht wie folgt aus:

Das Ergebnis zeigt, dass es einen Heimvorteil gibt. Dieser fällt mit 51,5% aber deutlich geringer aus, als von mir erwartet.

Als nächstes schauen wir uns an, wie diese Quote in den einzelnen Ligen variiert. Wenn man sich auf die Ligen konzentriert, in denen mindestens 200 Wettkämpfe stattgefunden haben, so ergibt sich folgende Tabelle:

Meine Annahme, dass der Heimvorteil in der 2. Bundesliga West höher ist als in der Landesliga Hamburg, war korrekt. Allerdings widersprechen andere Ergebnisse meiner These, dass die Entfernung die Heimquote beeinflusst. Eine Heimquote von unter 50% in der 2. Bundesliga Süd (bei über 900 ausgewerteten Mannschaftskämpfen) passt da nicht ins Bild.

Zum Spaß habe ich noch eine weitere Auswertung erstellt. Mich hat interessiert, welche Mannschaften zuhause deutlich stärker sind als auswärts. Dazu habe ich dann mit folgender Formel den Heimstärke Koeffizienten berechnet:

(Anzahl Heimsiege/ Anzahl Heimsiege + Anzahl Heimniederlagen)
-
(Anzahl Auswärtssiege/ Anzahl Auswärtssiege + Anzahl Auswärtsniederlagen)

Wenn man nur Mannschaften berücksichtigt, die mindestens 50 Mannschaftskämpfe bestritten haben, so sind das die TOP-3 Mannschaften:



Koblenz und Neuruppin sind zuhause jeweils eine Macht, während sie auswärts mehr verlieren als gewinnen. Bei Krumbach sollte man eher von einer Auswärtsschwäche als von einer Heimstärke sprechen. Wenn man übrigens bei Koblenz die letzte Zweitliga Saison, in der sie alle 5 Heimspiele verloren haben (aber “nur” 2 von 4 Auswärtsspielen), ausblenden würde, dann würden sie diese Tabelle anführen.

Diese Auswertung muss jedoch mit Vorsicht genossen werden, da die Datenqualität bei der Schreibweise der Vereinsnamen nicht besonders gut ist. Bei einigen Vereinen sind unterschiedliche Schreibweisen zu finden (z.B. “Baden Baden” und “Baden-Baden”), die dazu führen, dass diese Einträge jeweils separat behandelt werden.

Zusammenfassung

Die Ergebnisse zeigen, dass es einen kleinen Heimspielvorteil bei Schachmannschaftskämpfen gibt. Dieser ist deutlich geringer als in anderen Sportarten. Aus den Daten lässt sich nicht nachweisen, dass die Entfernung bei der Anreise die Heimquote beeinflusst.

Sollte jemand Ideen für weitere Auswertungen haben, dann bitte mich kontaktieren. Für eine spannende Aufgabe bin ich immer zu haben.


Roger Lorenz studierte Informatik in Bonn in den 1980ern und arbeitete später viele Jahre als Projektmanager und Berater. Im Ruhestand hat er nun mehr Zeit für seine Hobbies wie Schachspielen, Schachgeschichte und Schachengines. Er ist Mitglied des Schachklubs Bonn-Beuel und der Chess History and Literature Society. Kontaktieren kann man ihn über seine Homepage.
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