Unzusammenhängende Bemerkungen (I)
Von Dr. Robert Hübner
Der Weltmeisterschaftskampf des Jahres 2008 zwischen Anand und Kramnik hat begonnen.
Er wird in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bonner "Museumsmeile" durchgeführt.
Hier konnte man in den letzten Jahren viel Kulturgut aus alter und neuerer Zeit
bewundern. Besonders sind mir die Ausstellungen über die Azteken (2002/2003)
und über Angkor (2006/2007) in Erinnerung geblieben. Jüngst konnte man Interessantes
über den Buddhismus in Japan erfahren. Ich versage es mir, die Schwerpunkte
der zahlreichen vorzüglichen Gemäldeausstellungen zu nennen. Das Schachspielen
hat einen ganz neuen Platz zugewiesen bekommen: sollte es etwa unter die Kulturgüter
zu rechnen sein?
Die Schachspieler haben Glück. Die Ausstellung, die zur Zeit neben der Schachveranstaltung
dargeboten wird, zeichnet sich meines Erachtens nicht durch besondere Qualität
aus. Sie heißt "Rom und die Barbaren" und soll angeblich in die spannenden Zeiten
der Völkerwanderungen Einblick geben. In Wirklichkeit werden hauptsächlich Grabfunde
dargeboten, die ins 1.-6. Jahrhundert nach Christus gehören und aus den verschiedensten
Gebieten stammen. Sie werden kaum unter zusammenhängende Gesichtspunkte gestellt;
dem künstlerisch Interessierten bieten sie wenig Besonderes. Nirgendwo wird
auch nur ein Teilbild der Völkerwanderungszeit von einigem Umfang erstellt.
Man wendet sich also rasch dem schachlichen Geschehen zu. Durch eine Türschleuse
gelangt man in einen kleinen Theatersaal; abschüssige Sitzreihen führen auf
eine Bühne zu. Die Zuschauer hocken im Dunkeln, wie es im Theater üblich ist;
die beiden Spieler auf der Bühne strahlen in gleißendem Licht. Doch scheinen
sie unendlich weit entfernt zu sein; winzig und unwirklich sehen sie aus, so,
als erblicke man sie durch ein Opernglas, das man verkehrt herum an die Augen
hält. Der Grund dafür, daß dieser Eindruck entsteht, liegt darin, daß der Raum
über den Köpfen der Spieler von einem riesigen elektronischen Schaubrett beherrscht
wird, auf dem die Stellung, die geschehenen Züge und die von den Spielern verbrauchte
Zeit in großer Klarheit dargeboten werden.
Diese Art der Darstellung und die so geschaffene Stimmung haben mich angenehm
berührt. Das Wichtige sind hier die Züge auf dem Schachbrett, nicht die Gesichtszüge
der Spieler. Man setzt die schaffenden Meister nicht in einen Glaskasten, um
der Welt sichtbar zu machen, wie sich die Anstrengung, die mit ihren Geistesgeburten
gepaart geht, in schmerzverzerrten Gesten äußert. Es werden keine Gefühlssensationen
feilgeboten. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer wird hier auf das gelenkt, worauf
es ankommt: den Inhalt der Partien.
Man sieht nicht, wie an solchem Platz die Atmosphäre des Verfolgungswahns gedeihen
könnte, die den letzten Zweikampf um die Weltmeisterschaft (Kramnik-Topalov)
zerstörte. Es ist aber natürlich hauptsächlich das Verdienst der Spieler, wenn
der Schachbegeisterte sich in fröhlichem Forschen dem Versuch zum Verständnis
der Stellungen widmen kann, ohne durch Unruhe erzeugendes Gefasel über sachfremde
Erscheinungen abgelenkt zu werden.
Die erste Partie wird von den Teilnehmern an einem derartig anfordernden Wettkampf
häufig ruhig angelegt, weil sie dazu dienen muß, in die Stimmung des Kampfes
hineinzuwachsen, sich auf die neue, ungewohnte Umgebung einzustellen und schlummernde
Kräfte zu wecken; so auch diesmal. Kramnik hatte Weiß.
In der zweiten Partie wuchs beträchtliche Spannung an. Die Bauernstruktur zeigte
eine symmetrische Form; aber der Stellungstypus war recht neuartig und ungewöhnlich.
Der Eröffnungsverlauf muß aus Kramniks Sicht befriedigend gewesen sein. Anscheinend
wußte er dann aber nicht, ob er entschlossen auf Ausgleich spielen oder mehr
anstreben solle. Mit 21…Sdf6 entschied er sich falsch und schlug einen zweifelhaften
Weg ein.

2. Partie. Stellung nach
21...Sdf6
Danach verfuhr er jedoch sehr geschickt; er verstand es, eine Stellung zu schaffen,
in der es für Anand schwer war, ein deutliches konkretes Ziel zu finden und
einen klaren langfristigen Plan zu entwickeln. Der Vorteil mußte in vorsichtiger,
geduldiger Manövrierarbeit - Schritt für Schritt - festgehalten werden. Das
ist nicht Anands größte Stärke. Er geriet in Zeitdruck, und Kramnik nutzte Anands
innere Unsicherheit zu diesem Zeitpunkt für ein gutgezeitetes Remisangebot aus.
Der Partieverlauf wirft viele schwierig zu beantwortende inhaltliche Fragen
auf; für mich war dies das bisher interessanteste Spiel des Wettkampfs.
Die dritte Partie zeigte eine Verlaufskurve, wie man sie recht häufig findet.
Kramnik wurde offenbar in der Eröffnung überrascht. Da die Stellung von großer
taktischer Komplexität war, verbrauchte er sehr viel Kraft und Zeit, um eine
gute Lösung zu finden; aber er fand sie. Anand zehrte seinen Zeitvorsprung auf;
es gelang ihm, Kramnik Probleme zu stellen, auch wenn die Stellung bei spieltheoretischer
Betrachtungsweise als ausgeglichen zu bezeichnen sein dürfte. Kramnik hatte
keine Kraft mehr, der zweiten Druckwelle standzuhalten. Der Wert der Eröffnungsvorbereitung
bestand nicht so sehr in der Werthaltigkeit der Züge (fehlerhaltig durften sie
natürlich nicht sein) als in der erzielten Kraftersparnis in der ersten Partiephase.
Es wird interessant sein zu untersuchen, wo Weiß den entscheidenden Fehler beging:
ob er in 27.a4 (statt 27.f5), in 29.Ta3 (statt 29.Td1) oder gar erst in 33.Ld3
(statt 33.Kb3 oder 33.Td3) bestand.
Man darf auf die weiteren Kämpfe gespannt sein.