Heinz Josef Ullrich (1936-2021)
Heinz Josef Ullrich war ein Schachfreund, wie es sie in Deutschland sicher viele gibt. Aber er war natürlich auch ein ganz besonderer Mensch. Ich habe ihn kennengelernt, als ich mich - mit etwas zeitlicher Verzögerung - im Nachklang zum Weltmeisterschaftskampf Fischer gegen Spassky mehr für das Schachspiel zu interessieren begann. Das war 1975, aus heutiger Sicht Steinzeit. So war es Mitte der 1970er Jahre gar nicht so leicht herauszufinden, wie man sich in Bad Godesberg im Schach verbessern konnte. Zusammen mit einem Freund fanden wir einen Schachkurs am Aloisiuskolleg (Ako), einem von Jesuiten geleiteten Godesberger Gymnasium und Internat. Der Schach-Kurs dort wurde von Heinz-Josef Ullrich geleitet. Nach ein paar Unterrichtsstunden mit vermutlich elementaren Schachlektionen schickte uns Heinz-Josef Ullrich in den Godesberger Schachklub, der damals in der Koblenzer Straße in einer Gastwirtschaft residierte. Wer hier freitags einkehrte, musste im Verlauf des Abends wenigstens ein Pflichtgetränk bestellen. Bald danach wechselte der Godesberger Schachklub aber sein Domizil und fand ein erstklassiges Klublokal wenige 100 Meter weiter in den Räumen der Pfarrgemeinde St. Marien im Zentrum von Bad Godesberg.
Heinz Josef Ullrich war der Jugendwart des Godesberger Schachklubs. Zusammen mit seinem Freund Horst Geuer war er schon kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges, 1948 in den GSK eingetreten. Der Godesberger SK war 1929 gegründet worden und im Ursprung ein Arbeiterschachklub. Mitte der 1970er Jahre waren jedoch viele der Mitglieder Beamte. Bonn war ja noch Bundeshauptstadt und viele der Bundesbeamten wohnten in Bad Godesberg. Heinz Josef Ullrich hatte Altphilologie studiert, ursprünglich auf Lehramt. Er arbeitete dann aber nicht als Lehrer, sondern für den Deutschen Entwicklungsdienst DED. Wir haben aber selten über berufliche Dinge gesprochen, meist nur über Schach. Heinz Josef Ullrich hatte wie viele andere Bundesbeamte ein Reihenhaus in Bonn-Pennenfeld gekauft und lebte hier mit seiner Frau, die aus Portugal stammte, und seinen beiden Töchtern Susanna und Gigi, auf die er sehr stolz war.
Heijo Ullrich am Brett
Mitte der 1970er Jahre hatte Heinz-Josef Ullrich seine aktive Karriere als Turnier-Schachspieler wohl schon weitgehend aufgegeben. Aber er blieb dem Schach eng verbunden. Heijo Ullrich hatte sämtliche deutsche Schachzeitungen, so viele gab es ja nicht, abonniert, außerdem Kurt Rattmanns Schach-Archiv, eine Loseblattsammlung, die monatlich theoretische Abhandlungen über aktuelle Eröffnungen veröffentlichte. Etwas Besseres konnte man damals für die Eröffnungstheorie kaum bekommen.
Heinz Josef Ullrich bildete eine Schachjugendgruppe, die sich außerhalb des Schachclubs am Nachmittag regelmäßig in einem Heim der Arbeiterwohlfahrt auf dem „Heiderhof“ traf, einem Godesberger Ortsteil. Freitags war der Klubabend des Godesberger Schachklubs ein fester Termin für die schachbegeisterten Jugendlichen, von denen es einige, aber auch nicht übermäßig viele gab. Ein systematisches Schachtraining gab es eher nicht. Die Jugendlichen waren eher Autodidakten oder unterrichteten sich gegenseitig, wurden aber von Heinz-Josef Ullrich mit Büchern und Zeitschriften unterstützt, wenn sie wollten, zum Beispiel mit dem besagten Schach-Archiv. Wahrscheinlich war er als Schachtrainer auch zu weich. Hinweise an manche Schüler, 1.e4 als Eröffnungszug sei für Schachanfänger bessere geeignet als 1.c4 oder 1.Sf3 stießen auf eigensinnigen Widerstand. Auch seine Vorschläge, mehr Endspiele anzuschauen, fielen nicht auf fruchtbaren Boden.
Der Trainingseffekt ergab sich eher aus der Praxis. Heinz-Josef Ullrich opferte als Jugendbetreuer unzählige Sonntage, um mit seiner Jugendgruppe an Jugendmannschaftskämpfen teilzunehmen. Er holte seine Schützlinge bei Auswärtskämpfen morgens mit dem Auto bei ihren Familien ab und brachte sie zu den Wettkampforten in Bonn oder den umliegenden Gemeinden. Dort wartete er geduldig, bis alle Partien beendet waren und gab die jungen Schachfreunde am späten Nachmittag dann wieder bei ihren Eltern ab.
Zu Heijo Ullrichs Schachaktivitäten gehörten außerdem Einsätze als Schach-Schiedsrichter. Er war über viele Jahre der Schiedsrichter bei den Heimkämpfen der SG Porz. Dort betätigte er sich auch als Fotograf und hielt die Wettkämpfe in Bildern fest. 1979 nahm er seine Jugendgruppe zu einem ganz besonderen Wettkampf mit. Die SG Porz spielte im Europapokal gegen eine Mannschaft aus der Sowjetunion, aus Kiew. Es war das erste Mal, dass ich dem besten deutschen Schachspieler jener Zeit, Robert Hübner begegnete. Für Kiew spielten Oleg Romanishin und sicher auch noch einige andere berühmte Spieler, von deren Bedeutung ich aber zu der Zeit keinen blassen Schimmer hatte.
Heinz-Josef Ullrichs Freund Horst Geuer war auf die andere Rheinseite gezogen und hatte dort im Siebengebirge eine eigene Jugendgruppe aufgebaut. Etwa 1978 wurden die beiden Jugendgruppen zusammengebracht und daraus im Godesberger Schachklub eine recht starke Jugendmannschaft geformt. Das Jugendteam des Godesberger Schachklubs setzte sich dann bei den Jugendvereinsmeisterschaften im Mittelrheinbezirk und auf NRW-Ebene gegen die Konkurrenten durch und qualifizierte sich für das Finale der Jugendvereinsmeisterschaften in Hamburg. Gespielt wurde an acht Brettern, davon ein Mädchenbrett und ein Schülerbrett. Das GSK-Team kämpfte lange um den Sieg mit und wurde schließlich nach Zweitwertung Dritter, punktgleich mit dem Siegerteam. Die Betreuung durch die beiden Erwachsenen war freundlich und nachsichtig. Nur, als unser Mädchen auf Eigeninitiative und ohne groß Bescheid zu geben mit ein paar anderen Mädchen die Reeperbahn besuchte, entstand einige Nervosität. Die Mädchengruppe kehret aber unbeschadet von ihrem Ausflug in den Hamburger Rotlichtbezirk zurück.
v.li. Heijo Ullrich, Fröhlich, Hänze, Gathen, Schulz, G. Bühl, Röttgen, Finge (verdeckt), Horst Geuer
Das Turnier im Winter 1979 in einer Jugendherberge in Hamburg-Langenhorn, gleich am Flughafen, war auf vielerlei Art ein bemerkenswertes Erlebnis. Es war das Jahr, in dem Hamburg und Norddeutschland vom so genannten Jahrhundertwinter heimgesucht wurde. In der Nacht vor dem letzten Spieltag hatte es ausgiebig geschneit und am Morgen waren die Fenster der Unterkünfte, die sich im Erdgeschoss befanden, vollständig zugeschneit. Nach der Siegerehrung machten wir uns auf den Weg nach Hause, aber der Zug Richtung Köln war schon ausgefallen. Mit dem letzten Zug, der Hamburg noch verlassen konnte, kamen wir nach Hannover und hatten das Glück, dort einen Anschlusszug Richtung Westen zu finden. Das alles geschah trotz der Widrigkeiten in guter Stimmung, denn das Turnierergebnis war ein Erfolg und die Harmonie im Team und mit den beiden Betreuern Heinz Josef Ullrich und Horst Geuer war die ganze Zeit über prächtig gewesen. Und im Zug konnte man prima Schach spielen. Wir kamen irgendwann mitten in der Nacht in Godesberg an, in bester Laune.
Bald danach war dieser Lebensabschnitt und für die meisten dieser Altersklasse auch die Sonderrolle als Schachjugendlicher beendet. Jüngere Spieler rückten nach und erzielten ebenfalls Erfolge. Mit seinen Jugendbetreuern stach der Godesberger Schachklub in seiner Nachwuchsarbeit heraus.
Der Kontakt zu Heijo Ullrich wurde lockerer, aber er riss nie ab, auch nicht als er das Ende seiner aktiven Berufszeit erreicht hatte. Seiner Frau hatte er damals versprochen, bei Eintritt ins Rentenalter mit ihr in ihre Heimat nach Portugal zu ziehen und das Versprechen hielt er ein. Auch danach hielt Heijo Ullrich weiter Kontakt zu seinen Schachfreunden in Deutschland und unterstützte den Godesberger Schachklub großzügig.
Immer, wenn ich Heijo Ullrich traf oder mit ihm sprach, versprühte er viel Energie und schwungvollen Charme. Gerne erzählte er vom Werdegang seiner Töchter, von denen eine Karriere als Opernsängerin machte. Er verfolgte aus seiner Wahlheimat Portugal über das Internet intensiv das internationale Schachgeschehen und diskutierte bei unseren Gesprächen die Nachrichten, die er auf der ChessBase Nachrichtenseite gelesen hatte. Heijo Ullrich war ein begeisterter Schachfreund, der andere mit seinem Enthusiasmus ansteckte und mitriss.
Er starb am 6. Dezember 2021 in einem Krankenhaus in Lissabon nach kurzer schwerer Krankheit. Heinz-Josef Ullrich wurde 85 Jahre alt.