Der Mainzer
„Schach-Kannibale“ ist Armstrong immer einen Sieg voraus
Für Viswanathan Anand sind die Chess Classic die Tour de France auf 64 Feldern
Von Hartmut Metz
In Indien hat
Viswanathan Anand Schach zum Volkssport gemacht. Nur Kricket erfreut sich
größerer Beliebtheit. Von 2000 bis 2002 war der „Tiger von Madras“ bereits
Weltmeister. In den vergangenen zwei Jahren gewann der 35-Jährige fast alle
Turniere. Die Führung in der trägen Weltrangliste übernahm Anand aber erst im
Juli, weil der nur noch selten spielende Garri Kasparow seinen Rücktritt
verkündet hatte. Unbestritten die Nummer eins ist der Großmeister mit der
schnellsten Auffassungsgabe seit einem Jahrzehnt in den Partien mit einer
maximalen Bedenkzeit von einer halben Stunde. Bei den Chess Classic Mainz trifft
der „schnelle Brüter“ von Donnerstag bis Sonntag (jeweils 18.30 und 20 Uhr) auf
den Russen Alexander Grischuk. Im Interview mit Hartmut Metz erläutert der
Baden-Badener Bundesligaspieler Anand, welchen Stellenwert für ihn das
Schnellschach-Mekka besitzt.
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Frage:
Bei den Chess Classic Mainz geht es um den Titel des Schnellschach-Weltmeisters
…
Anand:
Nein, es geht um mehr! Für Schnellschach bedeutet Mainz eher
etwas wie Wimbledon für Tennis, Augusta für Golf und die Tour de France für den
Radsport. Diese Wettbewerbe besitzen alle ihren eigenen Charakter, genau wie die
Chess Classic. Keiner der Veranstalter würde sein Turnier eintauschen gegen
einen gelegentlich ausgespielten WM-Titel. Chess-Classic-Chef Hans-Walter
Schmitt sieht das genauso.
Frage:
Sie könnten zum achten Mal bei den Chess Classic auf dem Siegerpodest stehen –
der „Kannibale“ Lance Armstrong hat „nur“ sieben Mal die Tour de France
gewonnen, um bei Ihrem Vergleich zu bleiben …
Anand:
Der Unterschied ist: Ich höre aber auch danach nicht auf! Und zudem: Es ist auch
nicht der einzige Wettbewerb, den ich jedes Jahr gewinne (grinst).
Frage:
Einige wenige Großmeister trauen dem russischen
Weltranglistenelften Alexander Grischuk zu, Sie nach fünf Siegen in Folge
abzulösen.
Anand:
Grischuk ist in der Tat ein gefährlicher Gegner, noch mehr im Schnellschach. Es
kann knapp werden. Ich muss eben jeden Tag einen frischen Kopf haben.
Hoffentlich kann ich vermeiden, was mir vor zwei und drei Jahren passierte, als
ich gegen Ruslan Ponomarjow und Judit Polgar ständig in Rückstand geriet und
ausgleichen musste.
Frage:
Sollten Sie wider Erwarten Grischuk unterliegen: Spielen Sie
dann im nächsten Jahr im Ordix Open mit, um sich zu qualifizieren?
Anand:
Ich fordere dann natürlich Revanche!
Frage:
Damit endlich etwas Abwechslung in Ihre Garderobe kommt, will Organisator
Hans-Walter Schmitt dem Sieger ein weißes statt ein schwarzes Jackett am Sonntag
überstreifen.
Anand:
Er hat gottlob viele Ideen und ist ja immer für eine Überraschung gut. Jetzt bin
ich erst recht voll motiviert, das schwarze Einerlei in meinem Kleiderschrank zu
beseitigen (lacht).
Frage:
Wer war bisher Ihr schwerster Gegner bei den Chess Classic
Mainz?
Anand:
Zweifellos Kramnik, mit dem es 2001 eine Remis-Serie gab, die
erst im Tiebreak entschieden wurde. Doch auch die Duelle 2002 mit Ruslan
Ponomarjow und 2003 mit Judit Polgar verliefen ziemlich schwierig. Gegen die
Ungarin setzte ich mich nach einem 3:3 erst am letzten Tag in beiden Partien
durch. Im Duell 2004 gegen Alexej Schirow lag ich dagegen eigentlich immer einen
ganzen Punkt vorne, das war beruhigend.
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Frage:
Auf welche Partie sind Sie besonders stolz?
Anand:
Im Duell mit Ponomarjow kam es in der entscheidenden
achten Partie zu einem doppelten Springeropfer. Aber auch meine
Französisch-Partien 2000 gegen Schirow und Alexander Morosewitsch waren von
außerordentlicher Qualität.
Frage:
Welches war Ihr bedeutendster Sieg bei der Chess Classic?
Anand:
Eindeutig der im Jahr 2000, als die Top 6 der Welt
mitspielten. Das doppelrundige Turnier überstand ich ungeschlagen mit fünf
Siegen und fünf Remis. Es war ein perfektes Turnier gegen Kasparow, Kramnik,
Schirow, Leko und Morosewitsch. Damals gab es ein Novum, das bis heute Bestand
hat: Sogar die kompletten Top Ten waren anwesend!
Frage:
Es heißt, Sie als bester Schnellschachspieler der Welt würden sich etwas
langweilen, wenn Sie Partien mit langer Bedenkzeit spielen müssen.
Anand:
Ja, aber daran habe ich mich mittlerweile gewöhnt, meine
Turnierteilnahmen in Linares und Wijk aan Zee haben dies eindeutig gezeigt.
Frage:
Sie sagen, die Qualität Ihrer Schnellschach-Partien sei nicht viel schlechter
als die in normalen Turnierpartien. Wäre es daher nicht wieder sinnvoll, wie zu
Beginn Ihrer Karriere zu spielen: rasend schnell? Dann könnten die Gegner bei
Ihrer Bedenkzeit auch kaum nachdenken und wären schwächer. Ganz zu schweigen vom
psychologischen Druck, den solch eine Spielweise ausübt.
Anand:
Manchmal ist es im Turnierschach so, dass man eine halbe Stunde brütet und dann
patzt – im Schnellschach passiert das schneller. Meist werden Partien in Zeitnot
oder durch Schnitzer entschieden. Ich glaube daher nicht, dass die Qualität der
Partien im Turnierschach viel höher ist. Die Eröffnung spult man hier wie dort
herunter. Im Schnellschach bist du die ganze Stunde voll konzentriert. In
Sieben-Stunden-Partien hältst du das nicht durch, und die Konzentration lässt
zuweilen nach. Schnellschach-Partien sind intensiver. Für mich sind zwei
Schnellschach-Begegnungen anstrengender als eine Turnierpartie, selbst wenn die
insgesamt deutlich länger dauert. Ich spiele nur schnell, wenn ich mich danach
fühle. Nicht, um den Gegner zu verblüffen. Immerhin gerate ich durch mein
schnelles Spiel nie in Zeitnot.
Frage:
Wie fühlen Sie sich als neuer Weltranglistenerster?
Anand:
Na ja, ich krabbele nicht jeden Morgen aus dem Bett und denke mir: Toll, du bist
die Nummer eins! Ich bin - ohne eine einzige Partie zu spielen - Erster
geworden. Das ist nicht unbedingt etwas, was einen besonders erregt (grinst).
Von größerer Bedeutung ist die nächste Weltmeisterschaft Ende September in
Argentinien. Im Moment ist es wichtiger, den WM-Titel inne zu haben – und der
würde mehr zählen als die paar letzten.
Frage:
Als Sie wie einige andere Asse die WM In Libyen boykottierten. Es gibt noch
immer zwei Weltmeister: Den Sieger von San Luis, der Champion des
Schachweltverbandes FIDE ist, und Wladimir Kramnik, der vor fünf Jahren den
FIDE-abtrünnigen Weltmeister Garri Kasparow bezwang.
Anand:
Nach Kasparows Rücktritt nehmen alle Topspieler teil, weshalb der FIDE-Titel
eine größere Legitimation als zuletzt bekommt.
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Frage:
Wird anschließend die längst überfällige Titelvereinigung Wirklichkeit? Die FIDE
nahm allerdings einen Passus in die Verträge auf, die derlei verbietet.
Anand:
Es ist bedauerlich, dass Kramnik nicht in Argentinien mitspielt – ich verstehe
jedoch auch seine Sichtweise. Nachdem wir vier Jahre über die Wiedervereinigung
diskutierten, die uns ins Nichts führte, zählt zunächst eines: Die WM ist ein
hochkarätig besetztes Turnier, das die Schachfans in aller Welt unterhalten
wird. Sie wollen Partien sehen, keine Palaver. Ich mache mir keine weiteren
Gedanken darüber. Lassen Sie mich erst da gewinnen – dann sehen wir weiter.
Frage:
Das heißt: Sie sind als Topfavorit auf Sieg programmiert.
Anand
(lacht): Ich will mein Bestes geben. Ich sehe mich nicht als großer Favorit. Das
achtköpfige Feld liegt eng beisammen. Es gibt keinen schwachen Gegner, jeder
kann einem gefährlich werden. Ich fliege einfach hin und will gewinnen.
Frage:
Sie haben den zurückgetretenen Kasparow auf Position eins der Weltrangliste
beerbt. Glauben Sie, dass er nochmals zurückkehrt?
Anand:
Ich bin mir unschlüssig. Möglicherweise feiert er ein Comeback. Aber unter
welchen Voraussetzungen? Wenn ihm Kramnik eine WM-Revanche anbieten würde,
könnte er bestimmt nicht widerstehen. Kasparow könnte der nächste Imran Khan
sein: Der pakistanische Kricket-Star war ein großer Sportsmann, jedoch ein
mäßiger Politiker. Die westlichen Medien wenden sich an Kasparow, wenn sie eine
Stimme aus Russland brauchen. Aber mein Eindruck bleibt der, dass er in seinem
eigenen Land nicht so ernst genommen wird. Ich glaube, Kasparow wird nichts mehr
so gut machen wie Schach. Mit seinem Hirn mag er ein fantastischer politischer
Kommentator sein – aber nicht mehr.
Frage:
In dem Massenblatt „The Hindu“ wurde die Frage aufgeworfen, ob Sie den Rücktritt
des Größten aller Zeiten nicht auch gewisse Motivation kostet. So behauptete es
jedenfalls einst John McEnroe, als dessen größter Rivale, Björn Borg, mit 26
Jahren abtrat.
Anand:
Manchmal bedauere ich es. Dann denke ich wiederum, dass ich nicht der einzige
Großmeister bin, der von seinem Rücktritt betroffen ist. Andere hätten ihn auch
gerne ins Visier genommen. Deshalb ist es in Ordnung, so wie es kam. Es gibt
auch noch andere starke Kontrahenten. Selbst Kasparow hatte beim Topturnier in
Linares ein paar Gegner, gegen die er regelmäßig remisierte und nicht schlagen
konnte. Er war zweifellos einer der Größten aller Zeiten. Aber nun spüre ich die
Rivalität mit Weselin Topalow intensiver. Deshalb vermisse ich Kasparow nicht im
Wettbewerb.
Frage:
Sind Sie überrascht davon, dass Ihnen plötzlich Weselin Topalow in der
Weltrangliste im Genick sitzt, nachdem Sie nominell die klare Nummer zwei hinter
Kasparow waren?
Anand:
Stimmt schon. Ich war eine Zeit lang mit größerem Abstand Zweiter. Nun hat
Topalow dieselbe Ratingzahl – und ich muss darauf reagieren. Ich werde noch
härter trainieren, um Fortschritte zu erzielen.
Frage:
Das hört sich nach Schwächen an – was man sich beim Weltranglistenersten kaum
vorstellen kann.
Anand:
Ich habe zuweilen Schwierigkeiten, die gesamte Partie
hindurch voll konzentriert zu sein oder zumindest in den wichtigen Phasen. Als
ich in Wijk aan Zee gegen Peter Leko verlor, fiel ich nur eine Minute in ein
Loch – und weg war der Punkt nach einem Patzer. Das gleiche passierte mir in
Linares gegen Michael Adams.
Frage:
Was sind die Stärken Topalows? Was können Sie von ihm lernen?
Anand:
Er investiert in die Partien unheimlich viel Energie. Er riskiert viel. Ich habe
mich diesbezüglich in den vergangenen Jahren auch deutlich verbessert. Im
Vergleich zu 2002 gewinne ich weit häufiger mit Schwarz.
Frage:
Topalow sieht richtig drahtig aus. Wie steht es um Ihre Physis?
Anand:
Ich bin sehr fit. Ich glaube nicht, dass Topalow besser trainiert ist als die
anderen Topspieler. Nehmen Sie beispielsweise Leko.
Frage:
Natürlich, Leko ist ebenso ein Fitnessapostel. Nicht grundlos hat er vor kurzem
das ungarische Prominententeam angeführt, das vor dem Grand Prix die
Fomel-1-Fahrer um Michael Schumacher herausforderte (Endstand vor 20.000
Zuschauern 6:6). Aber mit Verlaub: Topalow und Leko sehen austrainierter aus und
würden hier nicht diese Nachos verschlingen.
Anand:
Nein, wirklich, ich trainiere auch einiges abseits des
Brettes und fühle mich am Ende eines Turniers nicht schlapp (sprach’s und saugt
grinsend an seinem Schoko-Shake).
Frage:
Sie gaben vor einiger Zeit aus, als zweiter Spieler nach Kasparow die magische
Elo-Grenze von 2800 knacken zu wollen. Sind Sie stark genug dafür?
Anand:
Ich wäre in der Tat glücklich, wenn ich dieses Ziel erreichen würde. Dummerweise
kosteten mich zwei Partien einige Punkte: Die bereits erwähnte Niederlage gegen
Adams brachte mich um fünf Elo, die ich bei einem Remis mehr auf dem Konto
hätte. Außerdem verlor ich durch ein Unentschieden in der Bundesliga gegen
Sawtschenko vier Elo, weil ich eine Gewinnstellung nicht umsetzen konnte. Ohne
die beiden Unfälle wäre ich bereits bei 2798 Elo. Egal, momentan denke ich mehr
an Argentinien. Wie ich über die 2800 komme, ist kein großes Geheimnis: Ich muss
nur gut spielen.
Frage:
Ein längerfristiges Ziel ist hier für Ihren Klub in Baden-Baden die deutsche
Meisterschaft. Klappt das endlich mit den Neuerwerbungen Etienne Bacrot und
Ihrem gelegentlichen Sekundanten Peter Heine Nielsen?
Anand:
Es ist schön, die beiden Jungs in der Mannschaft zu haben. Sie sind beide sehr
nett und garantieren ein wundervolles Team. Wir hätten auch schon die zwei
vergangenen Jahre den Titel holen können – doch in beiden Fällen ging binnen
fünf Sekunden die Arbeit eines Jahres den Bach runter. Es lief einfach ein
Moment in einer Partie schief und schon war alles ruiniert. Nächste Saison
ziehen wir es einfach durch (lacht)!