18.08.2010 – Auf den Shetland Inseln im Norden Schottlands gibt es mehr Schafe als Menschen. Das ist allerdings keine Kunst: Auf der Insel Fetlar beispielsweise wurden beim letzten offiziellen Zensus noch 86 Personen gezählt. Inzwischen leben nur noch 50 Menschen dort. Peter Kelly, Verwaltungsbeamter im Ruhestand und der örtliche Kirchenälteste der Church of Scotland, hat die Zeichen der Zeit erkannt und versucht die Insel wieder ins Gespräch zu bringen, um vielleicht neue Bewohner anzulocken. Dazu hat er das alte Wikingerschach Hnefatafl wiederentdeckt und trägt nun regelmäßig Weltmeisterschaften aus. Die 4. Hnefatafl-Wm findet 2011 statt. Noch kann man sich durch frühe Anmeldung einen der raren Teilnahmeplätz sicheren. Dr. René Gralla weiß... mehr...
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Hnefatafl
DAS SCHACH DER WIKINGER KOMMT ZURÜCK - NEUE HOCHBURG IST EINE ENTLEGENE INSEL
IM SHETLAND-ARCHIPEL Text: Dr. René Gralla
Bildproduktion: Daniel Blank
Asien, das ist das Stichwort, das sofort fällt, wird über die Wurzeln des
Schachspiels gesprochen. Der Blick geht quasi reflexhaft Richtung Osten, gleich
welcher wissenschaftlichen Schule sich die Experten verbunden fühlen, egal ob
indische oder chinesische Fraktion. Die nördliche Halbkugel bleibt außerhalb des
Fokus.
Dem raubeinigen Volk an seinen windgepeitschten Küsten hat bisher eben kaum
jemand zugetraut, etwas Wesentliches zur hohen Kunst der symbolischen Königsjagd
beigetragen zu haben. Ein Vorurteil, weil ausgerechnet die ansonsten wenig
feinsinnigen Wikinger eine spannende eigene Schachversion entwickelt haben, und
die feiert neuerdings eine unverhoffte Renaissance, und zwar auf exakt 60° 36'
32'' nördlicher Breite und 0° 52' 6'' westlicher Länge.
Dort liegt nämlich Fetlar, ein knapp 41 Quadratkilometer großes Eiland im
Shetland-Archipel, wo sich am letzten Juliwochenende 2010 bereits zum dritten
Mal eine Schar von Enthusiasten versammelt hat, um
allsommerliche Welttitelkämpfe auszufechten im "Hnefatafl".
Ein
strategisches Spiel, das auf dem Brett einen Raid der Drachenbootfahrer
simuliert.
Erste Funde des original skandinavischen Denksports stammen aus dem Dänemark des
4. Jahrhunderts. Den Gipfel seiner Popularität erreichte Hnefatafl zwischen
dem 9. und 11. Jahrhundert ...
...
bevor es dem Schach arabischer Provenienz, das aus dem Süden einsickerte, am
Ende doch weichen musste.
Ein
früher Fall von globalem Verdrängungswettbewerb und allein aus diesem Grund
schon äußerst bedauerlich, meint Peter Kelly, Verwaltungsbeamter im Ruhestand
und einer der 50 Menschen, die heute auf Fetlar wohnen. Da hat es sich gut
getroffen, dass der umtriebige Kirchenälteste der Church of Scotland obendrein
eine lokale Entwicklungsgesellschaft leitet, die sich dem galoppierenden
Bevölkerungsschwund entgegen stemmen soll, der letzte Zensus 2001
hatte wenigstens noch 86 Insulaner registriert. Folglich sucht Peter Kelly
nach innovativen Wegen, das kriselnde Fetlar wieder ins Gespräch zu bringen,
neben den bekannten Attraktionen: ein Vogelschutzgebiet, das von Odinshühnchen
und Gryllteiste geschätzt wird, ferner ein vorgeschichtlicher Steinkreis sowie
ein 2,3 Meter hoher Menhir.
Mit
der Hnefatafl-WM hat der Regionalpolitiker sein Leuchtturmprojekt gestartet.
Zumal er an eine stolze Tradition anknüpft, schließlich sah Fetlars Nachbarinsel
Unst im 9. Jahrhundert ein veritables Landungsunternehmen von Norwegens erstem
König Harald I. "Schönhaar" (ca. 850 - 933).
Der
spätere König Harald I. "Schönhaar" (r.), dessen expansive Politik der Einigung
des zuvor in Kleinherrschaften zersplitterten Norwegens den Weg bereiten sollte,
empfängt die Krone aus der Hand seines Vaters Halvdan Svarte, zu deutsch: "der
Schwarze" (l.), der von ungefähr 810 bis 860 lebte und Gebiete im Osten und
Süden sowie im Westen des skandinavischen Landes kontrollierte. Eine
allegorische Darstellung im "Flateyjarbók", einer isländischen Handschrift aus
dem 14. Jahrhundert.
Kein Zweifel, dass die wilden Blondbärte damals an Bord auch den einen oder
anderen Set Hnefatafl verstaut hatten. Jedenfalls darf Peter Kelly mit einiger
Plausibilität behaupten, wahrscheinlich habe sich ausgerechnet an dieser
stürmische Ecke im Nordmeer eine frühe Hochburg des Wikingerschachs etabliert.
Eingedenk der gloriosen Vergangenheit ist als angemessener Rahmen für einen
Relaunch des Hnefatafl selbstverständlich nur eine Weltmeisterschaft in
Frage gekommen. Premiere war 2008, frohgemute 12 Kandidaten traten an ...
...
und den ersten Platz eroberte - die Emanzipation macht auch vor Wikingern
nicht Halt - eine Frau, die aus dem englischen Yorkshire angereiste Wendy
Sutherland.
Rapid
Hnefatafl-Weltmeisterschaft 2008
2009 sah Tim Millar vorne, einen Glasbildhauer aus der Grafschaft Somerset im
Südwesten des United Kingdom ...
...
und der hat 2010 seinen Titel erfolgreich verteidigt, trotz scharfer und
inzwischen sogar transkontinentaler Konkurrenz, letztere repräsentiert von einem
Fan aus Texas, der seit zwei Jahren auf Fetlars Schwesterinsel Unst wohnt.
Champs on the beach: Der alte und neue Hnefatafl-Weltmeister Tim Millar
(Somerset/England) und der Junior-Titelträger Dean Thomason (Schottland) feiern
mit Veranstalter Peter Kelly (von links) nach dem Ende der WM 2010 am Strand von
Fetlar/Shetland-Inseln.
Wer jetzt ernsthaft darüber nachdenkt, im kommenden Jahr 2011
statt routinemäßig Malle oder Malediven mutig umzusteuern gen Fetlar, um
dort womöglich selber Champ zu werden, der sollte
freilich diesen besonderen Sporturlaub umsichtig planen. Denn der Anmarschweg
ist eine echte Herausforderung: mit dem Flieger - alternativ: per Fähre von
Aberdeen - nach Lerwick auf der Hauptinsel, anschließend 26 Meilen Landstraße,
in Toft die Fähre zur Insel Yell nehmen, das dauert 20 Minuten. Noch einmal 17
Meilen im Auto bis Gutcher, dort wartet die zweite Fähre, die Fetlar nach 25
Minuten erreicht.
Im
Verhältnis zu den logistischen Widrigkeiten sind die Matches im Hnefatafl wahre
Spaziergänge.
Auf
einem 121-Felder-Brett befehligt die eine Seite 24 Wikinger, die aus Nord, Süd,
West und Ost stürmen und den zentral postierten König der Gegenpartei
samt dessen 12 getreuen Recken attackieren.
Der
Herrscher versucht, sich zu einer der vier Fluchtburgen an der
Peripherie durchzuschlagen, und gelingt ihm das, hat er den Kampf zu seinen
Gunsten entschieden.
Wird Majestät vorher gestoppt und umzingelt, triumphieren die Angreifer und
holen den vollen Punkt.
Die Figuren, der bedrängte Monarch eingeschlossen, manövrieren wie Schachtürme
senkrecht oder waagerecht über beliebig viele freie Positionen. Wikingern und
Leibwächtern droht die Gefangennahme, wenn sie von Kriegern der anderen
Partei in die Zange genommen werden. Das heißt: Alle drei Akteure - in der Mitte
das Opfer, während die Feinde von zwei gegenüberliegenden Seiten herandrängen -
bilden eine gerade Linie, stets horizontal oder vertikal und niemals diagonal.
Wichtig: Die Zernierung muss durch einen Zug des Opponenten vollendet werden.
Drängt sich indes ein Normanne oder ein Recke des Königs todesmutig zwischen die
ihm übel gesonnenen fremden Gesellen, wird ihm kein Haar gekrümmt.
Mehr Männer sind notwendig, soll der König ausgeschaltet werden. Die Häscher
müssen den Monarchen von vier Seiten umstellen (am Spielfeldrand genügen drei),
das ist der Exitus des Herrscher und die Entscheidung der Partie.
Weltmeisterschaften werden ausgetragen im Blitzmodus auf Kommando, alle zehn
Sekunden ertönt ein Gong, die unerbittliche Aufforderung, eine Figur zu setzen.
Viel Zeit zum Nachdenken bleibt nicht, Grübler und Zögerliche haben keine
Chance, das ist echter Viking-Style. Und reich ist die Beute, die am Ende winkt:
neben der (virtuellen) WM-Krone ein gläsernes Relief der Location, die Insel
Fetlar zum Anfassen, obendrein ein repräsentativer Set Hnefatafl aus
Holzfiguren, Stück für Stück geschnitzt vom Künstlerehepaar Theresa und George
New.
Gleichzeitig darf sich der Sieger fortan "Großmeister" im Hnefatafl nennen.
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