"Homo Neubau": Ausstellung mit Ernst Grünfeld

von Stefan Löffler
09.06.2021 – Im Winter 1921/22 dachte sich Ernst Grünfeld eine revolutionäre Schacheröffnung aus. Knapp hundert Jahre später ist der Wiener, der aus Not Berufsspieler wurde und wegen seines jüdisch klingenden Namens in die NSDAP eintrat, der unwahrscheinliche Star einer Ausstellung. Stefan Löffler hat sie besucht. | Fotos, wenn nicht anders angegeben: Sammlung Michael Ehn

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Der Mann mit dem Variantenkoffer

"Homo Neubau" ist eine Ausstellung über die Jahre 1938 bis 1945 und wie es in dieser Zeit Menschen aus dem siebten Wiener Gemeindebezirk, also aus Neubau, ergangen ist. Niemand ist in dieser Ausstellung auch nur annähernd so detailliert vertreten wie Ernst Grünfeld (1893-1962), der fast sein ganzes Leben in Neubau gewohnt hat, dessen Bausubstanz trotz seines Namens vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert stammt. Fünfzehn Texttafeln, Dutzende Fotos, eine Filmsequenz und eine Vitrine voller Bücher erzählen vom Leben eines Schachmeisters und NS-Mitläufers.

Grünfeld in den Mittelpunkt zu stellen, war nicht geplant. Es hat sich so ergeben. Das Bezirksmuseum Wien-Neubau im Amerlinghaus, einem über dreihundert Jahre alten zweistöckigen Gebäude mit einem charmanten Innenhof, ist in den letzten zwei Jahren zu einem der Fixpunkte des Wiener Schachs geworden.

Mehrere Vereine treffen sich hier. Bei einem Städtewettkampf im hybriden Schach trat Wien aus den Museumsräumen gegen Berlin an. Als die Museumsleiterin Monika Grußmann von der geplanten Ausstellung erzählte, kam schnell der Name Ehn ins Gespräch. Michael Ehn kennt sich in der österreichischen Schachgeschichte aus wie kein zweiter. Aus seinem Wissen und seiner Sammlung schöpfte die Kuratorin Sonya Todorova gleichsam aus dem Vollen. An diesem Donnerstag findet in der Ausstellung erstmal ein Turnier mit Zehn-Minuten-Partien statt. Im Herbst wird Ehn einen Vortrag über Grünfeld halten.

Lesemappe zur Ausstellung...

 

Frage für ein Schachquiz: Welcher Spieler des 20. Jahrhunderts, der Schach erst mit 18 Jahren lernte, schaffte es bis in die Weltspitze?

Ernst Grünfeld begann sich für das Spiel zu interessieren, während der WM-Kampf Lasker – Schlechter 1910 zur Hälfte in seiner Heimatstadt Wien ausgetragen wurde. Beigebracht hat es ihm ein Jahr später sein Schwager, der Arbeiterschachaktivist Oskar Zimmermann. Als Kind hatte Grünfeld bei einem Unfall ein Bein verloren und musste zeitlebens Prothesen tragen. Ein Sport, den er im Sitzen ausüben konnte, kam ihm gelegen.

Emmerich Göndör zeichnete Grünfeld (links) und Vladimir Vukovic (rechts) 1922 beim Turnier in Wien, während dem Grünfeld mit Grünfeld-Indisch keinen Geringeren als den späteren Weltmeister Alexander Aljechin schlug.  

Während des Ersten Weltkriegs blieb er vom Fronteinsatz verschont, doch er verlor seinen Vater und zwei Brüder. Die Bronzegießerei, in der er bis dahin die Buchhaltung erledigte, konnte er wegen seiner Behinderung nicht übernehmen. Als die Familie die Werkstatt aufgab, wurde er mangels Alternativen Berufsspieler.

Ernst Grünfeld, Moskau 1925

Mit dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft 1923, zugelassen als Vertreter Österreichs, das damals von vielen als nicht auf Dauer eigenständig angesehen wurde, begannen seine besten Jahre, in denen er zu den zehn stärksten Spielern der Welt zählte. In Margate gewann er vor Aljechin, Bogoljubow und Réti und ein Jahr später in Meran vor Spielmann und Rubinstein. 1925 in Moskau wurde er Neunter. Im damals entstandenen Stummfilm Schachfieber ist Grünfeld während der ersten zwei Minuten wiederholt im Bild – und natürlich in der Ausstellung zu sehen.

 

Schachfieber, 1925

Ernst Grünfeld ist zwischen 1'39'' und 1'59'' zu sehen, zusammen mit Rudolf Spielmann, li.

Seine Stärke waren sein exzellentes Gedächtnis und seine säuberlich notierten Eröffnungsanalysen, der vielfach beschworene „Variantenkoffer“. Darin fand sich seit dem Winter 1921/22 auch eine revolutionäre neue Eröffnung (1.d4 Sf6 2. c4 g6 3. Sc3 d5). Wiederholt glaubte ihr Erfinder, sie sei widerlegt (etwa durch 4. e3 oder durch 4. Sf3 Lg7 5. Db3), doch Grünfeld-Indisch hat sich als so lebensfähig erwiesen, dass in aller Herren Länder Bücher darüber geschrieben wurden, die jetzt eine Museumsvitrine füllen. Heute wird Grünfeld-Indisch von der Hälfte der Weltelite gespielt und sorgt dafür, dass sein Name nicht in Vergessenheit gerät.

Wegen seines Namens wurde er für einen Juden gehalten und von Antisemiten in Wiener Schachkreisen entsprechend angefeindet. Als Österreich 1938 im Nazi-Reich aufging, trat Grünfeld in die NSDAP ein, wohl weniger aus Überzeugung als um sich zu schützen, vermutet Michael Ehn.

Aus Ehns Archiv stammen Fotos, die Grünfeld mit Parteiabzeichen zeigen, sowie die „Anschluss-Ausgabe“ der Deutschen Schachblätter vom April 1938, in denen er sich den Lesern so vorstellte: „Entgegen aller Verdächtigungen der Vergangenheit bin ich daher in der glücklichen Lage, meine arische Abstammung sogar bis zu einer vielfach beneideten und seltenen Höhe nachzuweisen.“

Grünfeld, li., gegen Hans Müller, Wiener Weihnachtsturnier 1938

Grünfeld wurde pro forma vom Finanzamt angestellt und für Simultanspiele, Veröffentlichungen und Schachunterricht bei der Betriebssportorganisation Kraft durch Freude oder bei der Wehrmacht bezahlt.

Ernst Grünfeld, 1960, bei einem Simultan

Nach dem Krieg war es damit natürlich vorbei. Als Schachlehrer und Autor war er kaum noch gefragt. Vor der völligen Verarmung bewahrte ihn nur die Wohnung in der Schottenfeldgasse 86, eine Viertelstunde zu Fuß vom Bezirksmuseum Neubau gelegen.

In der Schottenfeldgasse 86 wohnte Ernst Grünfeld seit seiner Kindheit und hier wurde Grünfeld-Indisch ausgekocht.   

Im Erdgeschoss, wo früher wohl die Bronzewarenhandlung Grünfeld war, ist jetzt ein asiatisches Restaurant. In seinem Namen steckt Würze, genau wie in der Eröffnung, die in dem Haus vor hundert Jahren ausgetüftelt wurde.

Das Familiengrab der Grünfelds

Eigens für die Ausstellung wurde ein Brief von Ernst Grünfeld übersetzt, der als Vorwort im Buch "Grünfeldova Indiska odbrana", Trifunovic, P., B. Gruber, A. Bozic, Beograd 1951, publiziert wurde.

DIE GRÜNFELD-INDISCHE VERTEIDIGUNG

Ein Brief des Großmeisters Ernst Grünfeld. Ein Beitrag zur Geschichte der Grünfeld-Indischen Verteidigung

Ich freute mich sehr, als ich hörte, dass ausgerechnet in Jugoslawien, dem Land, in dem Schach dermaßen beliebt und präsent ist, ein detailliertes Werk über die Eröffnung publiziert wird, die meinen Namen trägt. Gerne habe ich die freundliche Einladung angenommen, einen kleinen Beitrag zum Thema dieses wichtigen Werks zu leisten. Die Idee einer neuen Verteidigung gegen die Damenbauerneröffnung (1.d4) entstand bereits im Jahr 1921. Die Verteidigungsstrategien gegen das Damengambit, über die Schwarz zu jener Zeit verfügte, waren nicht befriedigend. So hatte zum Beispiel die Tarrasch-Verteidigung... 


Der ganze Brief als pdf...

Weitere Links:

Ausstellung Homo Neubau im Wiener Bezirksmuseum...

10. Juni, Schachturnier in der Ausstellung...

Bezirksmuseum Neubau bei Facebook...

 


Stefan Löffler schreibt die freitägliche Schachkolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ist in Nachfolge von Arno Nickel Herausgeber des Schachkalender. Für ChessBase berichtet der Internationale Meister aus seiner Wahlheimat Portugal.

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