Ilyumshinovs Kalmückien

von ChessBase
11.10.2006 – Wenn es in Elista nicht regelmäßig Schachturniere geben würde, wüsste man vielleicht anderswo gar nichts über die kalmückische Hauptstadt. Der Weltmeisterschaftskampf zwischen Topalov und Kramnik und die damit verbundenen Ereignisse haben den Ort in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Nun weiß man, dass dort der größte buddhistische Tempel Europas steht und für die Schachturniere extra ein Vorort im Landhausstil gebaut wurde. Beides ist das Werk des Präsidenten Kirsan Ilyumshinov, der gleichzeitig Präsident des Weltschachverbandes FIDE ist. Während das von ihm regierte Volk in Armut lebt, gönnt sich der autokratische Regierungschef u.a. einen Fuhrpark, der auch sechs Rolls Royce beeinhaltet. In der aktuellen Ausgabe des Spiegels wurde ein Portrait des FIDE-Präsidenten (Der Despot und sein Hobby, Spiegel Print oder e-Paper) veröffentlicht. Dagobert Kohlmeyer hat sich bei seinem Aufenthalt in Elista ebenfalls ein wenig umgesehen und berichtet, dass gestern dort auch erstmals beim Wettkampf Dopingproben durchgeführt wurden. Mehr...

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Wo Buddha und Schach regieren…
Kalmückien am Unterlauf der Wolga ist das bizarrste Land Europas


Die Schach-WM zwischen Kramnik und Topalow hat die russische Teilrepublik Kalmückien und ihre Hauptstadt Elista für drei Wochen in den Focus der Welt gerückt. Wer ist dieses kleine Volk, das ein so wichtiges Sportereignis ausrichtet?

Von Dagobert Kohlmeyer

Antwort darauf gibt es im Weißen Haus, wie das Regierungsgebäude in Elista (genau wie in Washington) genannt wird. In der vierten Etage residiert Kirsan Iljumschinow. Der Staatschef Kalmückiens ist zugleich Präsident der Schachföderation FIDE. Zum zweiten Mal nach 1996 organisiert er in seinem Land ein WM-Match. Damals spielten Karpow und Kamsky, heute sind es Kramnik und Topalow. Zudem fand vor acht Jahren im eigens errichteten Vorort City Chess die Schacholympiade statt. 

- Woher stammen die Kalmücken, die sich - obgleich nicht wohlhabend - als liebenswürdige Gastgeber erweisen?

„Unser Volk hat eine lange Leidensgeschichte hinter sich. Ethnisch gehören wir Kalmücken zu den Westmongolen“, erklärt Iljumschinow. Der Stamm verließ Anfang des 17. Jahrhunderts Zentralasien und siedelte sich in Russland an. Die Kalmücken lebten als Nomaden zwischen Ural und Wolga, in jener Zeit wurde der Buddhismus ihre Religion. Nachdem das Volk sesshaft geworden war, erhielt es am Ende der Zarenherrschaft ein autonomes Gebiet zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer. Im Dezember 1943 wurde die kalmückische Nation von Stalin nach Sibirien deportiert.

Taxifahrer Nikolai, der mich jeden Tag nach City Chess bringt, erzählt: „Mein Vater ist Kalmücke, meine Mutter Russin. Sie lernten sich im sibirischen Exil kennen. 1957 bekam unser Volk sein heutiges Territorium zurück. In unserem Steppengebiet leben Kalmücken und Russen sowie Menschen anderer Nationalitäten einträchtig zusammen.“

Der Buddhismus, zu Sowjetzeiten verboten, wurde wieder gültige Religion. Kalmückien ist der einzige europäische Staat mit dieser Glaubensrichtung. Präsident Iljumschinow, ein enger Freund des Dalai Lama, lässt teure Buddha-Tempel bauen (in Elista steht der größte Europas) und buddhistische Priester im eigenen Land sowie in Nepal ausbilden.

Kalmückien hat wertvolle Bodenschätze, Erdöl und Erdgas. Seine Bewohner leben vorwiegend von Viehzucht. In der Wolga und im Kaspischen Meer gibt es reichlich Fisch. Weltbekannt ist kalmückischer Kaviar. Kunst, Kultur und Volksbräuche werden sorgsam gepflegt, wie die glanzvolle Eröffnungsfeier der Schach-WM im Uralan Stadion zeigte.

Schach ist Pflichtfach in jeder Schule. Überall wird gespielt, auf Straßen und Plätzen, in Parks, Kulturhäusern und Schachklubs.

Eines der ersten Dekrete Iljumschinows verordnete den Kindern zwei Stunden Schachunterricht pro Woche.

Darüber hinaus gibt es seit zehn Jahren eine Sportschule mit Schwerpunkt Schach, die Filialen im ganzen Land hat. Insgesamt 400 Talente werden dort getrimmt.



Direktor Boris Mujew ist stolz auf das bisher Erreichte. „Unser Schachnachwuchs wird schon bald auch international von sich reden machen“, sagte der 53-Jährige. In der Schachschule wird die künftige Elite des Landes erzogen. Mit Ernesto Inarkijew haben sie in Elista schon einen Großmeister hervorgebracht. Der 21-Jährige kommentiert während der Weltmeisterschaft im Foyer die Partien von Topalow und Kramnik.

Stets ist er dabei von einer großen Traube Schachfans umringt, meistens Männer. Ernesto ist in Kirgisien geboren. Nachdem seine Familie nach Elista übersiedelte, wurde er kalmückischer Staatsbürger. Ernesto besuchte die hiesige Spezialschule und konnte sich als erster Spieler des Steppenlandes mit dem Doktorhut des Schachs schmücken. Im Sommer gewann er sogar das harte Ausscheidungsturnier der 1. Schachliga Russlands. Damit ist er für das Superfinale im Dezember in Moskau qualifiziert.


Ernesto Inarkiev

Inarkijew spielt jedoch nicht nur Schach. Nebenbei studiert er schon das vierte Jahr in Moskau Ökonomie. Eine fundierte Berufsausbildung kann nichts schaden. 

Wie gebildet sind die Kalmücken? Dafür interessierte ich mich schon vor Jahren bei  meiner ersten Reise in das Steppenland. Wie ich feststellte, sind die Bibliotheken selbst zur Ferienzeit stark gefüllt. Kalmückien scheint auf dem Weg zur gebildeten Nation zu sein. Der russische Teilstaat zeigt sich auch familienfreundlich.


Markt in Elista


Teenager mit Handy vor dem weißen Haus


Schlüsselservice auf der Straße unter dem Logo von Daimler Chrysler


Auch in Elista: Rollerblades

Seitdem Kirsan an der Macht ist, (1993, schon mit 30 Jahren!) hat sich die Geburtenrate in Kalmückien erhöht, heißt es. Auch deshalb, weil ab 23 Uhr auf Straßen und Plätzen das Licht abgeschaltet wird. Sparen ist angesagt, die schwache Wirtschaft des Landes muss auf die Beine kommen. Das kalmückische Volk lebt sehr bescheiden, Iljumschinow aber nennt dicke Bankkonten sein eigen. Der Selfmademan hat schon Millionen ins Schach gepumpt. Kramnik und Topalow spielen um eine Million US-Dollar.


Das Parlamentsgebäude

Kirsan liebt schöne Autos und zeigt sich gern mit ihnen. Er war der erste Kalmücke, der einen Rolls-Royce, einen Lincoln und einen Mercedes besaß. Der weiße Rolls steht fast täglich vor dem Gebäude, wo Topalow und Kramnik schon fast drei Wochen über ihren Zügen brüten. Einige Tage war die Nobelkarosse nicht zu sehen, als Iljumschinow zu einer Konferenz mit Putin in Sotschi weilte. Dann eilte Kirsan aber flugs zurück, um den eskalierten Toilettenstreit zwischen Topalow und Kramnik zu schlichten.

Zu Iljumschinows großen Träumen gehört unter anderem, dass Schach olympisch wird. 1998 ließ er dafür sogar ein WM-Finale (Karpow – Anand) am IOC-Sitz in Lausanne durchführen. Er hoffte, dass der damalige Präsident Samaranch die Schachspieler in die olympische Familie aufnehmen würde. Keine Chance, hieß es. Schach ist nicht telegen genug und schlechter zu vermarkten als andere Disziplinen. Das FIDE-Council hat jetzt sogar vorgeschlagen, Iljumschinow soll sich selbst als IOC-Chef bewerben, damit das königliche Spiel es doch in den Olymp des Sports schafft.

Nicht zuletzt deshalb gibt es seit einigen Jahren Dopingproben bei großen Schachwettkämpfen wie Olympiaden usw. Auch Kramnik und Topalow mussten am Dienstagabend nach ihrer 11. WM-Partie in Elista erstmalig eine abgeben. (Die Ergebnisse liegen bislang noch nicht vor).

Bei meinem jetzigen Aufenthalt lernte ich die Ärztin Natalja kennen.

Gleich neben dem Pressezentrum ist ihr Sprechzimmer (Medpunkt genannt), wo sich Organisatoren, Journalisten oder Zuschauer, die das Match zu sehr in Mitleidenschaft zieht, behandeln lassen können. Die Medizinerin, der man ihre 43 Jahre nicht ansieht, hat nach eigener Aussage gut zu tun. Sie ist schon seit 1988 im Beruf, Spezialität Neurologie. „Wir haben schon etliche Krankheitsfälle gehabt. Meistens handelt es sich um Virusinfektionen und zu hohen Blutdruck.“

Kramnik und Topalow werden aber von ihr nicht betreut. Die Spieler haben eigenes medizinisches Personal. Aus Spaß hat Natalja mal meinen Blutdruck gemessen. Mit dem Ergebnis: 120/80.

„Großartig, wie bei einem Kosmonauten“, sagte die Ärztin erstaunt. Unsere Jugendlichen haben zum Teil schon Bluthochdruck von 150!

„Leben Sie so gesund?“, fragte sie. - „Kann ich nicht sagen. Der Beruf des Schachreporters mit seinen vielen Reisen, Unwägbarkeiten und Abenteuern zehrt ganz schön an der Substanz.“

- Was tun Sie denn vor dem Schlafengehen, Dagobert?

„Ich trinke ein Glas Rotwein … oder zwei.“

„Tun Sie das weiter!“, sagte Natalja… Na dann zum Wohl!

Text und Fotos: Dagobert Kohlmeyer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Die ChessBase GmbH, mit Sitz in Hamburg, wurde 1987 gegründet und produziert Schachdatenbanken sowie Lehr- und Trainingskurse für Schachspieler. Seit 1997 veröffentlich ChessBase auf seiner Webseite aktuelle Nachrichten aus der Schachwelt. ChessBase News erscheint inzwischen in vier Sprachen und gilt weltweit als wichtigste Schachnachrichtenseite.

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