Ein Leben im „Clan der Sizilianer“ - vor 25 Jahren starb Lew Polugajewski
Lew Polugajewski, der am 30. August 1995 starb, war in den 1970er und -80er Jahren einer der weltbesten Schachspieler. Er gewann dreimal die sowjetische Landesmeisterschaft, siegte mit dem UdSSR-Team bei sechs Schacholympiaden und war WM-Kandidat. 1977 und 1980 schaffte es Polugajewski dort sogar bis in die Halbfinals. In die Schachgeschichte eingegangen ist vor allem sein großer Beitrag für die Sizilianische Verteidigung.
Lew Abramowitsch Polugajewski wurde am 20. November 1934 im weißrussischen Mogiljew geboren. Die Stadt liegt an der Grenze zu Russland zwischen Minsk und Smolensk. Kindheit und Jugend verbrachte er in Kuibyschew und schloss dort ein Ingenieurstudium ab, ehe er Schachprofi wurde. Michail Botwinnik hatte ihm 1953 in einer Publikation großes Talent bescheinigt, drei Jahre später spielte Polugajewski bereits in der UdSSR-Landesmeisterschaft mit. Seine Meriten kann man im Internet detailliert bei Wikipedia nachlesen, hier möchte ich ein paar persönliche Erinnerungen an die Begegnungen mit „Polu“ erzählen.
Das UdSSR-Team bei der Schacholympiade, Malta 1980
Ich lernte den Großmeister 1983 in Berlin kennen, wo er häufig auf Einladung des dortigen Sportverlages weilte. Dieser hatte eine stattliche „weiße“ Buchreihe mit fast allen Schacheröffnungen herausgebracht und als Autoren dafür vorwiegend sowjetische Spieler gewonnen, die einen besonderen Ruf als Eröffnungstheoretiker besaßen.
Bei Lew Polugajewski war es vor allem die Sizilianische Verteidigung, die er sein ganzes Leben lang gründlich erforscht hat. Die Variante 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6 6.Lg5 e6 7.f4 b5 im Najdorf-System trägt seinen Namen.
Buchtitel Sizilianisch
Bei den Besuchen in der DDR wurde Lew Polugajewski immer von seiner Frau begleitet. Das kulturinteressierte Ehepaar fuhr u.a. auch nach Dresden, um sich die dortige Gemäldegalerie anzusehen. War Polugajewski zu Gast, gab er meist auch Simultanvorstellungen, an deren Rande der Schreiber dieser Zeilen das Vergnügen hatte zu dolmetschen und manchmal mitzuspielen. Da der Maestro immer mit 1.d4 eröffnete, ergab sich stets die Grünfeld-Indische Verteidigung, und mein großer Gegner ließ mich netterweise jedes Mal ins Remis entschlüpfen. So begegnete ich ihm in Berlin zwischen 1983 und 1985 dreimal. Die „Berliner Zeitung“ druckte damals gern unsere Interviews. Inzwischen haben sich die Zeiten sehr geändert; heute wäre für den Sportteil des Blatts höchstens Magnus Carlsen interessant.
Für den Sportverlag Berlin hat Polugajewski nicht nur Eröffnungsbücher verfasst, auch sein Werk „Verteidigung im Schach“ von 1988 ist sehr lesenswert. Dort zeigt der Autor an instruktiven Beispielen, wie wichtig die Defensive auf dem Brett ist. Er schreibt:„Die Kunst der Verteidigung sollte zum Rüstzeug eines jeden Schachspielers gehören. Viele Talente haben die Höhen nicht erklommen, weil ihre ganze Sympathie dem Angriff galt und ihre Fertigkeiten in der Verteidigung unzureichend entwickelt blieben.“
Lew Polugajewski spielte für sowjetische Verhältnisse recht oft im Westen, aber es war nicht immer einfach. Ich erinnere mich, wie er im Sommer 1989 ewig auf ein Visum für das Traditionsturnier in Biel warten musste. Damals besuchte ich vier Wochen lang ein Journalisten-Seminar mit Russisch-Kursus an der Lomonossow-Universität in Moskau, um meine Sprachkenntnisse aufzupolieren. Ich schwänzte in jenen Tagen auch gern mal den Unterricht und besuchte dann lieber den Zentralen Schachklub am Gogol-Boulevard. Als ich mich dort einmal mit David Bronstein traf, stürmte plötzlich „Polu“ die Treppe herauf: „Diese Bürokratie, ich habe meinen Pass mit dem Ausreisevisum immer noch nicht!“ - Nun, wie man in der Mega von ChessBase leicht sehen kann, klappte es in letzter Minute doch noch mit einem Start Polugajewskis im Schweizerischen Schach-Mekka. In der Datenbank stehen seine Partien, und die Tabelle zeigt, dass er in Biel mit dem jungen Wassili Iwantschuk den Turniersieg teilte.
Auch als Schachtrainer war Polugajewski sehr gefragt und längere Zeit tätig, darunter als Sekundant von Anatoli Karpow während dessen brisanten Weltmeisterschaftskämpfen mit Viktor Kortschnoi. In dieser Richtung begann er auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verstärkt zu arbeiten. Wie viele andere Großmeister seines Landes verließ Polugajewski in der Perestroika-Zeit die Heimat und wanderte nach Frankreich aus, wo er seit Ende 1989 lebte. Als hilfreich erwies sich, dass seine Frau Französisch-Lehrerin war, was den Einstieg ins Pariser Leben natürlich erleichterte. Polugajewski trainierte in der neuen Heimat französische Schachtalente, zum Beispiel den jungen Joël Lautier. Er selbst spielte auch, solange es seine Kräfte zuließen, in der französischen Schachliga.
Man erlebte Lew Polugajewski als freundlichen Mann mit vielen Interessen. Wie sein damaliger Schwiegersohn Christophe Guéneau erzählte, war er ein ausgezeichneter Bridge-Spieler, las historische Romane und hörte gern Musik - von den russischen Klassikern bis zu den Rolling Stones. Als Tennis-Fan schaute der Großmeister sich das Turnier in Wimbledon jedes Jahr vom ersten bis zum letzten Spiel an.
Im Jahre 1993 wurde bei Lew Polugajewski ein Hirntumor entdeckt. Trotz der Krebserkrankung spielte er noch weiter Turniere. In Monte Carlo erlebte ich im gleichen Frühjahr, wie er den damaligen WM-Finalisten Nigel Short und den aufstrebenden Vishy Anand im Schnellschach besiegte.
Was von dem Großmeister vor allem in Erinnerung bleibt, ist sein wichtiger Beitrag zur Schachtheorie. Eine besondere Würdigung erfuhr Lew Polugajewski anlässlich seines 60.Geburtstages. Der holländische Schachmäzen Joop van Oosterom, mit dem Polugajewski befreundet war, organisierte im Herbst 1994 in Buenos Aires ein Thematurnier, bei dem nur sizilianisch eröffnet werden durfte. Ein großer Teil der Weltelite, darunter Anatoli Karpow, Vishy Anand, Wassili Iwantschuk und Judit Polgar, reiste nach Argentinien. Auch der Schachreporter aus Berlin durfte mit von der Partie sein. Die lange Tour lohnte sich, nicht nur wegen der besten Steaks, die ich je in meinem Leben aß. Nach der Rückkehr wurde auch das Buchprojekt „Sizilianisch pur“ daraus.
Täglich besuchte die Schachlegende Miguel Najdorf das Turnier, welches in der oberen Etage eines Bankhauses gespielt wurde. Oft traf sich der damals 85-jährige Großmeister dort mit Lew Polugajewski. Im Pressezentrum analysierten die beiden Mitglieder des „Clans der Sizilianer“ gemeinsam die interessantesten Partien. Noch heute freue ich mich über meinen damaligen Schnappschuss, der zu den wertvollsten „Papierfotos“ meiner Reporterlaufbahn gehört.
"Clan der Sizilianer": Miguel Najdorf, Lew Polugajewski, 1994
Der russische Großmeister Waleri Salow gewann das doppelrundige Turnier in Argentinien mit einem halben Punkt Vorsprung vor Vishy Anand. Viele angenehme Erinnerungen habe ich an meine weiteste Reise als Schachreporter, die ohne Lew Polugajewski ganz sicher nicht stattgefunden hätte. Unvergessen bleiben mir die Tangotänzer bei der Eröffnung des Turniers oder ein Abend im berühmtesten Steakhaus von Buenos Aires mit Anatoli Karpow, dessen Ehefrau Natalja und zwei weiteren Großmeistern. Können Sie sich vorstellen, liebe Leser, dass unsere ganze Runde nach dem Essen mit saftigen Steaks und gutem Wein keinen Peso zahlen musste? Die einfache Erklärung: Dass der 12. Schachweltmeister dieses Lokal aufsuchte, war eine überaus große Ehre für den Chef des Hauses. Argentinien - Traumland des Schachs!
„Ich habe mein ganzes Leben der Sizilianischen Verteidigung gewidmet“, hatte Lew Polugajewski zu Beginn des Tango-Turniers in einer Rede gesagt. “ Ein knappes Jahr nach Buenos Aires erlag er Ende August 1995 in Paris seiner schweren Krankheit. Das Grab des Großmeisters befindet sich auf dem weltberühmten Cimetière Montparnasse, unweit von Alexander Aljechins letzter Ruhestätte.
P.S. Als der französische Schauspieler Michel Piccoli (1925-2020) in diesem Frühjahr starb, wurde ich unwillkürlich an Lew Polugajewski erinnert. Sehen sich die beiden Männer nicht ähnlich? Der Schachspieler könnte der jüngere Bruder des weltbekannten Mimen sein.
Piccoli, Polugajewski
Lew Polugajewski spielte kreativ in der Eröffnung, konnte fein lavieren und auch kleinste Fehler des Gegners virtuos ausnutzen. Großartig beherrschte er das Konterspiel.
Fotos: Wikipedia, Dagobert Kohlmeyer