In Erinnerung an Ernst Grünfeld

von André Schulz
21.11.2018 – Mitte der 1920er Jahre war Ernst Grünfeld einer der weltbesten Spieler. Zum Berufsschachspieler wurde er aus der Not heraus nach dem Ersten Weltkrieg. Mit seiner Grünfeld-Verteidigung hat er sich in der Eröffnungstheorie unsterblich gemacht. Heute jährt sich sein Geburtstag zum 125sten Mal. | Foto: Ernst Grünfeld in Beverwijk 1961, Dutch National Archive.

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Ernst Franz Grünfeld wurde am 21. November 1893 geboren, heute vor 125 Jahren. Seine Vater Julius Grünfeld war um 1870 aus dem österreichischen Teil Schlesiens nach Wien eingewandert. Er war, obwohl der Familienname eine jüdische Herkunft vermuten lässt, römisch-katholischer Konfession. In Wien lernte er seine Frau Aloisia, geborene Adler, kennen. Sie stammte aus einer sudetendeutscher Familie. Ernst, eigentlich Ernest Franz, Grünfeld kam als siebtes Kind seiner Eltern auf die Welt und wuchs unter ärmlichen Bedingungen in Wien-Josefsstadt auf. Zwei seiner Geschwister starben schon im Kindesalter.

Im Alter von fünf Jahren verlor Ernst Grünfeld in Folge eines Unfalls sein linkes Bein. Er war beim Herumtollen in ein mit Nägeln ausgeschlagenes Polstermöbel gerannt, wobei er sich um das Knie herum ernsthaft verletzte. Das Bein entzündete sich bis auf den Knochen und musste  amputiert werden. Ernst Grünfeld erhielt eine Holzprothese, die mit Gurten an seinem Beinstumpf befestigt werden musste. 

Spätstarter

Das Schachspiel lernte Ernst Grünfeld erst im Alter von 18 Jahren von seinem Schwager Oskar E. Zimmermann, nachdem er sich durch den Weltmeisterschaftskampf von Emanuel Lasker gegen Carl Schlechter 1910, der zur Hälfte in Wien gespielt wurde, für das Spiel begeistert hatte. Oskar Zimmermann brachte ihm einige Grundprinzipien bei. Grünfeld beschäftigte sich zunächst intensiv mit Schachproblemen und lernte schließlich verbesserte sich im praktischen Spiel durch zahlreiche Trainingswettkämpfe, die er im Wiener Schachklub mit Siegfried Reginald Wolf (1867-1951) spielte. Wolf, ein wohlhabender jüdischer Fabrikant, der ursprünglich aus Prag stammte, wurde zum Mentor des jungen Ernst Grünfeld. Die beiden sollen im Laufe der Jahre an die 400 Trainingspartien gegeneinander gespielt haben.

Ernst Grünfelds Vater hatte in Wien eine Bronzewerkstatt aufgebaut und betätigte sich im Besonderen auf dem Gebiet des Kunstgewerbes. Sein ältester Sohn Julius erbte vom Vater das handwerkliche Geschick. Die Firma spezialisierte sich bald auf dem Gebiet der kirchlichen Kunst und des Kirchenschmuck. Auch die anderen Geschwister von Ernst Grünfeld arbeiteten im Familienbetrieb mit. Er selber erledigte die Buchhaltung. 

Berufsschachspieler aus der Not heraus

Der Ausbruch und die Folgen des Ersten Weltkrieges zerstörten den Betrieb. Alle männlichen Geschwister wurden eingezogen. Ernst Grünfeld war mit seiner Beinprothese natürlich wehruntauglich. Zunächst starb einer seiner Schwager im Feld. Sein Bruder Paul erkrankte dann als Soldat an der Ruhr und starb 1917 ebenfalls. Auch sein ältester Bruder Julius kehrte tödlich erkrankt aus dem Krieg zurück. Er starb im Januar 1918 an einer Lungenentzündung. Kurz darauf, 1919, musste Ernst Grünfeld auch seinen Vater begraben. Nachdem 1922 auch die Mutter gestorben war, verkauften die übrigen Geschwister die Firma. Der Not gehorchend beschloss Ernst Grünfeld nun Berufsschachspieler zu werden.

In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg befand sich Europa in großer Unordnung. In vielen Ländern herrschte große wirtschaftliche Not, besonders in Deutschland und Österreich. Der russische Bürgerkrieg hatte viele Flüchtlinge in die anderen Länder Europas getrieben. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb wurden in Wien einige Schachturniere organisiert. Da es jedoch keine Schachzeitungen gab, dafür aber viele organisatorische Mängel, existieren von den Turnieren dieser Zeit keine oder nur unzureichende Aufzeichnungen. Mit der Gründung des Österreichischen Schachverbandes im Jahr 1920 verbesserte sich Situation.

Viertbester Spieler der Welt

1920 wurde in Wien unter anderem auch das zehnte Leopold-Trebitsch-Gedenkturnier ausgetragen. Ernst Grünfeld teilte sich am Ende den ersten Platz mit Savielly Tartakower.

Ernst Grünfeld, 1921 | Foto: Österreichische Nationalbibliothek

1921 wurde Grünfeld in Budapest hinter Aljechin Zweiter, in Pystian 1922 wurde er Vierter.

 

Das Kent County Turnier in Margate 1923 konnte Grünfeld gewinnen, vor Spielern wie Aljechin, Bogoljubow und Reti. 1923 in Karlsbad wurde er Fünfter.

 

In Mährisch-Ostrau belegte er hinter Lasker und Reti den dritten Platz. Im gleichen Jahr wurde er beim 23. DSB-Kongress in Frankfurt/Main Deutscher Meister. Einige weitere Erfolge schlossen sich an, darunter findet man nicht zuletzt seine Turniersiege 1924 in Meran vor Spielmann und Rubinstein und 1933 in Mährisch-Ostrau vor Elisakases und Lajos Steiner. In den 1920er und 1930er Jahren war Ernst Grünfeld Dauergast bei vielen großen Turnieren und belegte dabei fast durchweg Plätze in der oberen Tabellenhälfte. 1924 war Grünfeld gemäß den nachträglichen Berechnungen von historischen Elozahlen durch Jeff Sonas der viertbeste Spieler der Welt, hinter Lasker, Capablanca und Aljechin.

In den Jahren 1927, 1931, 1933 und 1935 nahm Grünfeld viermal mit der österreichischen Nationalmannschaft an Schacholympiaden teil. Nach dem "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich hatte er wegen seines jüdisch klingenden Namen mit vielen Anfeindungen zu kämpfen.

Ernst Grünfeld und Hans Müller bei der Wiener Stadtmeisterschaft 1938, Fotoagentur Schostel, Österreichische Nationalbibliothek

Trotzdem, oder deshalb, oder weil er er es als Berufsschachspieler für geboten hielt, trat Grünfeld der NSDAP bei und spielte während des Krieges im Einflussbereich des Großdeutschen Reiches an einigen Schachturnieren mit, so 1943 bei einem Trainingsturnier in Posen, das er hinter Keres als Zweiter beendete. Im gleichen Jahr beteiligte er sich am "KDF-Reichsturnier" in Wien, das er vor Hans Müller und Georg Kieninger gewann. Außerdem schrieb Grünfeld regelmäßig Artikel für das KDF-Schachorgan "Schach-Echo."

Gruppenbild, ca. 1939 mit Rudolf Spielmann (1883 - 1942), Ernst Grünfeld (1893 - 1962), Gisela Harum, Hans Müller (1875 - 1944), David Podhorzer | Foto: Wilhelm Willinger, Österreichische Nationalbibliothek

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nahm Grünfeld noch an einigen weiteren Turnieren teil, vor allem in Wien. 1950 verlieh die FIDE ihm den Titel eines Großmeisters. Grünfelds aktive Karriere endete im Prinzip 1953. Im Jahr 1961 nahm er aber noch einmal an einem Hoogoven-Turnier in Berverwijk teil, belegte aber nur den drittletzten Platz. Sein einziger Sieg gelang ihm gegen Jan Hein Donner.

Grünfelds Variantenkoffer

Ernst Grünfeld wurde wegen seiner umfangreichen Eröffnungskenntnisse von den anderen Spielern bewundert und gefürchtet. Er soll alle Varianten aus dem "Handbuch des Schachspiels" auswendig gekannt haben. Außerdem sammelte er alle veröffentlichten Partien und generierte aus diesen Variantenbäume und eine systematische Eröffnungstheorie. Für seine Turniere stellte er sich jeweils ein Eröffnungsrepertoire zusammen, das er in einer Tasche aufbewahrte, die als "Grünfelds Variantenkoffer" bekannt wurde.

Jacques Mieses schrieb über Ernst Grünfeld: "Er bildet einen eigenartigen, in sich durchaus abgeschlossenen Typus. ... Seine Kenntnisse in der Eröffnungstheorie gehen schon über das Maß des Erlaubten hinaus. Das "Handbuch", das er vollkommen auswendig kennt, stellt für ihn sozusagen nur das Gerippe dar, auf dem sich die Ergebnisse seiner Spezialstudien aufbauen. Die ersten zehn bis fünfzehn Züge der Partie pflegt er daher a tempo zu machen, so daß er meist glatt eine Stunde Bedenkzeit spart. Auch im Endspiel ist ihm alles geläufig, was man lernen kann." (Deutsche Schachzeitung 1921, S. 218)

Die Erfindung der Grünfeld-Verteidigung

1921 begann Grünfeld nach einer Erfolg versprechenden Antwort auf 1.d4, beziehungsweise das Damengambit, zu suchen. Schließlich kam er dabei auf die Zugfolge, die wir heute als Grünfeld-Indisch oder Grünfeld-Verteidigung kennen.

In seinem Turnierbuch zum Turnier in Teplitz-Schönau, 1922, beschreibt Grünfeld den strategischen Gedanken seiner Verteidigung:

"Seinen Damenbauern zieht Schwarz in dem Augenblick zwei Schritte, sobald Weiß e4 droht, was in der Regel mit Sc3 durchgeführt wird; kommt dann d5, cxd5 Sxd5, e4, so wird der Sc3 abgetauscht und das Zentrum mit c5 angegriffen. Späterer Abtausch auf d4 schafft die hängenden Bauern e4 und d4 und seine Bauernmajorität am Damenflügel sichert dann Schwarz das überlegene Endspiel."

(Ernst Grünfeld: Schachkongress Teplitz-Schönau im Oktober 1922. hg. von Josef Schorr. Deutscher Schachklub, Teplitz-Schönau-Thun 1923, S. 33.)

 

Heute ist die Grünfeld-Verteidigung eine der beliebtesten Eröffnungen nach 1.d4 und gehört zum Repertoire vieler Spitzenspieler und Weltmeister. 

Ihr "Erfinder" Ernst Grünfeld starb am 3. April 1962 in Wien-Ottakring.

The Gruenfeld Defence

Die Grünfeld-Verteidigung (1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 d5) ist eine beliebte Eröffnung, die Schwarz jede Menge Chancen zu aktivem Spiel gibt. Lubomir Ftacnik zeigt, worauf Schwarz achten muss, wenn er Grünfeld spielt.

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André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.

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