Interview mit Alexander Khalifman
Von Frank Große
Las Vegas im August 1999.
Zum zweiten Mal wurde die Ermittlung des Weltmeisters der FIDE im
umstrittenen Knock-Out-Modus durchgeführt. Viel diskutiert wurde im Vorfeld,
da das Turnier einen neuen Champion hervorbringen musste, da
Titelverteidiger Anatoli Karpow nicht antrat und stattdessen
bevorzugte, sich am Grünen Tisch zu streiten. Garri Kasparow war im
Besitz seiner „Privatweltmeisterschaft“ und sah keine Veranlassung seinen
Titel in der Zockermetropole bei tagsüber brütender Hitze aufs Spiel zu
setzen.

Austragungsort der Weltmeisterschaft 1999, das Caesars Palace
Quelle: static.panoramio.com
Die Stadt ist zum Spielen da,
wenngleich Schach nicht unbedingt dazu zählte, da die Weltmeisterschaft
weitestgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit verlief. Die Zeitungen der
Stadt berichteten fast gar nicht, was wohl auch darin begründet lag, dass
alle acht gestarteten Amerikaner bereits in der zweiten Runde ausgeschieden
waren. Eine Weltmeisterschaft im Blackjack hätte wohl mehr Aufsehen erregt!
Die Spieler, die nicht permanent im Rampenlicht standen, bekamen ihre Chance
und einige nutzten diese.
So zum Beispiel der bis dato
fast unbekannte Rumäne Liviu-Dieter Nisipeanu (zu
dem Zeitpunkt Nummer 136 der Weltrangliste), der viele Sympathien bei
den Amerikanern erweckte, da er den typischen
„Tellerwäscher-Millionär-Traum“ verkörperte und erst im Halbfinale gestoppt
werden konnte, nachdem er in den Runden zuvor die Titelaspiranten Wassili
Iwantschuk und Alexei Schirow ausschalten konnte. Dort traf er
auf den Russen Alexander Khalifman, der bis dato das Turnier seines
Lebens spielte. Dabei drohte er nach Groningen 1997 an der damals
indischen Nummer Zwei Dibyendu Barua zu scheitern (In
Groningen war er gegen Anand dramatisch in der zweiten Runde
ausgeschieden.) und zwar in der ersten Runde! Nach einer
Auftaktniederlage kam er eindrucksvoll zurück und sicherte sich im Tiebreak
den Einzug in die zweite Runde in der das Duell der beiden Leningrader auf
der Tagesordnung stand: Kamsky gegen Khalifman. Wieder
Tiebreak mit dem glücklicheren Ende für Alexander, der danach die höher
dotierten Boris Gelfand und Judit Polgar eliminierte.
Böse Zungen behaupteten, dass
die Geschichten eines Nisipeanu oder Khalifman ohne den
K.O.-Modus nicht möglich gewesen wären. Das war denen aber sicherlich egal,
denn sie standen unter den letzten Vier, für die es neben der Chance neuer
Weltmeister zu werden, auch um erhebliche Geldpreise ging. Nisipeanu,
der zwar zehn jünger als sein Gegner war, konnte diesen Umstand gegen
Khalifmans Anzugstärke (Er gewann zehn
Partien bei keiner Niederlage mit den weißen Steinen.) nicht
ausnutzen und musste sich mit 3,5 : 2,5 geschlagen geben, obwohl er
in der letzten Partie mehrfach den Gewinn und damit die Chance auf das
Tiebreak ausgelassen hatte.
„Einer der ‚schwachen‘
Spieler wird es machen“, kommentierte Khalifman. „Dies ist das
stärkste und komplizierteste Turnier des Jahres. Viele starke Spieler haben
es versucht, aber niemanden ist es gelungen.“ Armeniens großes Talent
Wladimir Akopjan, der im Halbfinale einen sichtlich enttäuschten
Michael Adams rauskegelte, war der andere Quoten-Underdog des Finales.
Hier legte Khalifman
gleich in der ersten Partie mit seinem Schwarzsieg den Grundstein für seinen
3,5 : 2,5 – Sieg. Dieser wurde nach dem zwischenzeitlichen Ausgleich
in der dritten Runde mit der prompten Erwiderung in Form eines Sieges
zementiert, bevor das Finalmatch mit zwei Unentschieden austrudelte. Nach
29 Turniertagen – dazwischen hatten die zwei Finalakteure nur fünf Tage
Ruhezeit – war das kräftezehrende Spektakel beendet. Akopjan zeigte
sich als fairer Verlierer, in dem er die Frage, ob die beiden Ruhetage, die
er nach Halbfinale mehr hatte als Khalifman, nicht geholfen hätten,
wie folgt beantwortete: „Damit es einen Unterschied macht, hätte ich
einen Monat Pause gebraucht, besser noch zwei Monate.“
In Las Vegas, der bewohnten Wüste Nevadas, gelangte Khalifman auf den
Höhepunkt seines Schaffens und reihte sich damit in die russische „K-Dynastie“
ein, der zuvor Kasparow, Karpow, Kramnik, Kamsky und
Kortschnoi angehörten: „Kann sein, dass mir die Veranstalter von
Open-Turnieren jetzt Hotel mit Vollpension anbieten und nicht nur mit
Frühstück“, genoss er mit Ironie in der darauffolgenden Pressekonferenz
die Aufmerksamkeit, die den Stars bis dato permanent zugegen geworden war. „Einen
Vorteil des K.O.-Systems hat hier noch keiner erwähnt: Es gibt keine
Manipulationen! Wenn die besten Spieler alle mitmachen, haben wir eine große
Zukunft. Schach wird wahrscheinlich wieder Sponsoren finden. Dann kann man
die WM so reformieren, dass sie nicht so langweilig ist wie früher und
weniger eine Lotterie als heute. Wenn mehr Nicht-Elite-Spieler zu großen
Turnieren eingeladen werden, gewinnen sie vielleicht auch dort. Dass die
Favoriten hier nicht gut gespielt haben, liegt auch daran, dass sie nicht
hungrig waren. In ihren Spitzenturnieren brauchen sie sich nur zu behaupten.
Die Einladungsturniere erlauben es Ihnen, die übrigen Spieler zu ignorieren.
Sie spielen fast nur gegeneinander. Die anderen sehen sie höchstens einmal
bei der Olympiade. Falls sie gut genug dafür bezahlt werden, dort ihre
ELO-Punkte zu riskieren.“
Alexander Khalifman
leitet heute eine Schachakademie
http://www.gmchess.com/ in Sankt Petersburg, der Trainer wie
Gennadi Nesis, Juri Razuvaev oder Peter Swidler angehören.
Er ist der Autor zahlreicher Bücher, die sich primär auf Eröffnungsperiodika
konzentrieren. Grund genug nachzubohren, wie sich das Leben seit dem Gewinn
des Weltmeistertitels vor zehn Jahren verändert hat!

Alexander Khalifman während der EURO 2007 in Dresden (Foto: Frank Jarchov)
Frage: Können Sie den
Verlauf ihrer Karriere kurz mit eigenen Worten beschreiben?
Khalifman: Nicht so
einfach zu beantworten in wenigen Worten. Mein erster Trainer war
Schachmeister Vassily Byvshev (1922 – 1998), dem ich heute noch viel zu
verdanken habe. Danach arbeitete ich mit CC-GM Gennady Nesis, der mir
ebenfalls viel half. Ich denke, dass meine ersten wertvollen Erfolge der
zweimalige Gewinn der UdSSR-Junior-Meisterschaften
(Anmerkung des Autors: Das war 1982 und
1984.) war. Nebenbei bemerkt: nur vier Spieler gewannen dieses
Turnier zwei Mal: Petrosian, Kortschnoi, Kasparow und ich. Es war wohl etwas
Pech im Spiel, dass ich den Großmeistertitel erst 1990 erhielt, denn ich bin
sicher, dass ich bereits vier Jahre zuvor auf dem Level eines Großmeisters
spielte. Aufgrund des Eisernen Vorhangs war es damals auch schwierig an
Internationalen Veranstaltungen teilzunehmen. Ein konkretes Vorbild hatte
ich nie, aber eine Vielzahl großartiger Spieler bewundere ich. Ich war sehr
zielstrebig von Anfang an und wollte Stufe für Stufe bis zur Weltspitze
emporklettern.
Frage: Was letztlich
auch gelungen ist: Sie sind der 14. Weltmeister der Schachgeschichte und
waren der erste Gewinner nach der lange anwährenden K+K-Ära. Karpow trat
nicht an und Kasparow bezeichnete die meisten Spieler gar als Touristen. Was
denken Sie heute über den Titel und den K.O.-Modus? Welchen Modus würden Sie
zur Ermittlung des Weltmeisters vorschlagen?
Khalifman: Meine
Meinung hat sich nicht geändert: Es war eine schwierige Weltmeisterschaft
und ich habe selbige fair und klar gewonnen. Gut, der Modus war nicht
perfekt, aber ich weiß auch nicht wie man allen Seiten gerecht werden kann,
und würde mich wundern, wenn es einen perfekten Modus gäbe.
Frage: Veränderte der
Gewinn der Weltmeisterschaft Ihr Leben?
Khalifman: Auf jeden
Fall veränderte sich mein Leben in vielen Bereichen gravierend, aber ich bin
glücklich, dass ich mich dadurch nicht verändert habe. Das Leben eines
Schachprofis ist nicht ohnehin kein Stück Kuchen, besonders dann, wenn man
von Organisatoren der Eliteveranstaltungen ignoriert wird mit Begründungen,
die nichts mit Schach zu tun haben. So waren viele mühevolle Momente vor
1999. Der Jackpot, den ich in Las Vegas gewann brachte mir materielle
Unabhängigkeit, was von immenser Bedeutung war. Dennoch habe ich noch
dieselben Freunde, dieselben Wertevorstellungen und keinerlei Anzeichen von
Größenwahn.
Frage: Sie zogen 1991
nach Deutschland mit der Absicht sich niederzulassen. Ein Jahr später
kehrten Sie zurück nach Russland – warum?
Khalifman: Ich war in
diesen Tagen der politischen Unruhen ernsthaft besorgt über mögliche
politisch-motivierte Racheakte und wollte nicht einfach da sitzen und darauf
warten, was passieren wird. Ziemlich erfreulich, dass die Situation ein Jahr
später bereits mehr oder weniger geklärt war, sodass ich froh war
zurückzukehren, da ich mich meiner Heimat zugehörig fühle. Ein Leben ohne
Sankt Petersburg ist für mich ziemlich schwer vorstellbar.
Frage: Was waren Ihre
Eindrücke von Deutschland?
Khalifman: Irgendwie
war es eine nützliche Erfahrung und seitdem mag ich Deutschland
außerordentlich. Die Schachbundesliga ist etwas Besonderes und ich mag den
Geist dieses Wettbewerbs. Es ist schade, dass ich nicht mehr in der
Bundesliga spiele (Anmerkung des Autors:
Er war in der Bundesliga im Zeitraum zwischen 1990 und 2003 für verschiedene
Vereine aktiv: 1990-92 FTG Frankfurt, 1992-94 SC Stadthagen, 1994-97 PSV
Duisburg, 1997-2003 SG Köln-Porz)
Frage: Wie würden Sie
den heutigen Stand im Schach, insbesondere in Bezug auf die FIDE
beschreiben?
Khalifman: Es ist
schwer, etwas Originelles zu äußern. Die FIDE-Verantwortlichen – und damit
meine ich nicht Ilyumzhinov persönlich, sondern seinen Verantwortungsstab –
bewerkstelligten in der Vergangenheit eine Vielzahl von Fehlern und haben
nicht daraus gelernt. Das einzig Gute, dass ich sagen kann ist, dass die
Situation noch schlimmer sein könnte.
Frage: Sie sind nun der
Begründer und Trainer in der Schachakademie Sankt Petersburg „Großmeister
Schach Schule“. Wofür verwenden Sie derzeit mehr Zeit – für das Spielen oder
Trainieren? Haben Sie einen weiteren Beruf erlernt?
Khalifman: Seit Beginn
der Gründung 1998 war die Schachakademie mein Projekt. Es ist dabei aber so,
dass meine Hauptaufgabe im Management besteht, da meine Buchprojekte
ebenfalls sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Seit dem Titelgewinn 1999 fühle
ich mich unabhängiger und kann Tätigkeiten, die mich interessieren,
nacheifern. Ich studierte drei Jahre Mathematik an der Leningrader
Universität, was aber schon sehr lange zurück liegt, bevor ich endgültig ins
Schachlager wechselte.
Frage: Das Motto der
Schachakademie lautet „Schach = Intellekt + Charakter“. Können Sie dies
erläutern?
Khalifman: Es ist ein
Fakt, dass dieser Ausspruch in der Russischen Sprache für sich selbst
spricht, sodass keine Erläuterung notwendig wird. Möglicherweise ist die
englische Translation nicht perfekt, da der Ausdruck „Charakter“ geringfügig
unterschiedliche Bedeutung im Russischen und Englischen besitzt. Um diese in
wenigen Worten zusammenzufassen: Das Motto der Sankt Petersburger
Schachakademie ist, dass mit Schach, dem einzigartigen Spiel, die
harmonische Entwicklung – insbesondere im Kindesalter – unterstützt werden
soll.
Frage: Denken Sie, dass
ein Spieler ein besonderes Talent benötigt?
Khalifman: Auf jeden
Fall ist spezifisches Talent von Vorteil. Ich weiß es aus eigener Erfahrung
sehr gut, da ich nicht besonders gesegnet bin. Wie auch immer, die
Beschreibung dieser speziellen Begabung und seiner Bedeutung in Zusammenhang
mit anderen Fähigkeiten ist ein zu kompliziertes Thema, dass den Umfang
dieses Interviews sprengen würde.
Frage: Sie haben eine
Vielzahl von Meisterschaften gewonnen, so auch die der UdSSR bzw. von
Russland. Was bedeuten Ihnen diese Turniere heute? Erhalten Sie noch
Einladungen zu den namhaften Veranstaltungen?
Khalifman: Offen gesagt
sehe ich mich nicht mehr als ernsthaften Spieler. Professionelles Schach ist
jünger geworden und es ist sehr hart mit den „jungen Löwen“ zu kämpfen, wenn
man bereits 43 Jahre alt ist. So spiele ich in den meisten Fällen aus Spaß.
Zu den namhaften (oder auch weniger namhaften) Turnieren: Ich habe bereits
vergessen wann ich das letzte Mal eingeladen wurde. Das ist nur ein Teil
einer langen, bedauerlichen Geschichte, die nicht mehr aktuell ist.
Frage: Denken Sie
bereits Ihre beste Partie gespielt zu haben? Wenn ja, welche?
Khalifman: Letztlich
denke ich, dass ich es geschafft habe eine Vielzahl guter Partien zu
spielen, aber es ist ziemlich schwierig für mich, eine speziell
hervorzuheben.
Frage: Sie beendeten
soeben den zwölften Teil der Bücherreihe „Opening for White According to
Anand“. Arbeiteten Sie mit Anand zusammen?
Khalifman: Natürlich
arbeitete ich nicht mit Anand im Rahmen dieser Serie zusammen. Vishy spielt
immer noch auf dem höchsten Level und hat absolut keinen Grund seine
Eröffnungsgeheimnisse zu offenbaren.
Frage: Wie arbeiten Sie
an der Analyse der Partien/Eröffnungen? Welche Computerunterstützung
verwenden Sie?
Khalifman: Es ist
unvorstellbar heutzutage Schachanalyse ohne Computerunterstützung
durchzuführen. Aber noch sind einige subtile Dinge, die nur von einem
menschlichen Gehirn erfasst werden können. Sonst wäre auch kein Unterschied
mehr zwischen den Anmerkungen eines Amateurspieler und Großmeisters zu
entdecken. Wie auch immer, der Unterschied existiert. Ich benutze ChessBase
als Datenbanksoftware und all die besten Schach-Engines zur Analyse.
Frage: Gibt es Zeiten in
denen Sie müde sind vom Schach?
Khalifman: Ich denke
dass so ziemlich jeder professionelle Spieler sich manchmal langweilt.
Erfreulicherweise passiert dies aber nicht so oft.
Frage: Was sind Ihre
Zukunftspläne?
Khalifman: Ich habe
keine speziellen Pläne außerhalb meiner Arbeit für die Schachakademie und
letztlich das Beenden der Anand-Eröffnungsreihe. Wenn ich die Gelegenheit
erhalte, von Zeit zu Zeit an einem interessanten Schachturnier teilzunehmen
wäre das großartig.
Frage: Sie sind
verheiratet und Vater einer Tochter. Wie charakterisieren Sie ihre private
Situation?
Khalifman: Ich denke,
dass es besser ist, dies von anderen einzuschätzen, aber ich lebe in einer
guten Familie, habe gute Freunde und lebe mein Leben – ich bin glücklich.