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Schachboom in Mexiko - Rückkehr zur
klassischen WM - nicht nur Computer
Interview mit Anatoli Karpow
Von Dagobert Kohlmeyer
Anatoli Karpow ist auch nach Beendigung seiner großen Karriere ein Globetrotter
des Schachs. Als Ehrengast des „Festival de Ajedrez 2006“ in Mexiko-City war er
ein gefragter Gesprächspartner der Medien. Schachreporter Dagobert Kohlmeyer aus
Berlin nutzte natürlich auch die Gelegenheit zum Interview.
Was sagst du zum Schachleben in Lateinamerika?
Wir erleben momentan einen großen Aufschwung. In dem Teil von Amerika, wo wir
uns gerade befinden, sind sie im Schulschach einfach Spitze. In Mexiko war ich
in zwei Provinzen und habe mir das angesehen. Sie haben schon ein staatliches
Programm angenommen. Ich war in Mazatlan und in Idalgo (nahe Mexiko-City). Dort
haben sie schon seit langem Schach im Unterricht. Ein kubanischer Trainer ist
dort. Er bildet auch Pädagogen für diese Schachschulen aus.
Und in anderen Ländern des Subkontinents?
In den größten Städten Argentiniens tut man das auch schon seit über zehn
Jahren, in Venezuela gibt es sehr gute Ansätze. Wenn es in Argentinien nicht
politische Probleme geben würde, wären sie jetzt schon weiter. Und sie könnten
das im Landesmaßstab tun. Ich habe mit dem Bildungsminister darüber gesprochen,
der bedauerte, dass sie auf Grund ihrer inneren Probleme zuletzt nicht weiter
gekommen sind.
So wie in Brasilien?
Ja, dort läuft das staatliche Schulschach-Programm schon das dritte Jahr. Ich
bin da gewesen und präsentierte das Programm seinerzeit in vier
Provinzhauptstädten. Das war 2003. Ich reiste damals von Norden nach Süden
durchs ganze Land. Und das Internet ist überall hilfreich, man kann ja auch über
große Entfernungen hinweg per Web Schachunterricht geben.
Du bist zum dritten Mal in Mexiko. Kannst du dich vielleicht an eine
lustige Begebenheit erinnern?
Sicher. 1972 brachte ich von meiner ersten Reise einen Flasche Tequilla mit. Wir
lebten zu der Zeit in Leningrad und hatten Handwerker im Haus. Nach getaner
Arbeit fragten die Schlosser meine Mutter: „Mamascha, hast du keinen Wodka für
uns?“ Sie verneinte und bot ihnen in ihrer Not den nicht gekühlten Tequilla an.
Die Männer nahmen nur einen Schluck davon, verzogen das Gesicht und sagten: „Was
ist das denn für ein furchtbarer Selbstgebrannter!“
Bringst du noch immer Souvenirs von deinen Reisen mit?
Nein, seit etlichen Jahrzehnten nicht mehr. Wohin damit?
Mitte des Monats ist das Schach-Duell in Elista zu Ende gegangen und dein
Landsmann Wladimir Kramnik einziger Weltmeister geworden. Dein Kommentar dazu.
Ein Glück für das Weltschach und für Russland. Ich hatte auch auf Wladimir
gesetzt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion kriselte unser Schach. Wir haben in
Russland 15 Jahre verloren, was das Trainingssystem und die Wettbewerbe für
junge Talente angeht. Jetzt kommen wir zurück. Die Schulschach-Meisterschaft in
diesem Jahr hatte 82 000 Teilnehmer. Ich selbst habe 22 Schachschulen in
Russland. Gut, dass wir wieder den Weltmeister stellen.
Wer hat in Elista das bessere Schach gespielt?
Kramnik zeigte, dass er in Matches besser ist. Topalows vorherige Turniererfolge
haben dem Bulgaren nichts genützt. Im Schach musst du objektiv sein. Du kannst
erzählen, was du willst, dass du Druck gemacht und besser gestanden hast. Es
nützt alles nichts, wenn du nicht realistisch bist und im entscheidenden Moment
deine Chancen nutzt.
Schiedsrichter Geurt Gijssen, den du seit langem kennst, war in Elista
nicht zu beneiden. Hat er einen guten Job gemacht?
Ich weiß nicht, ob man ihm etwas anlasten kann. In erster Linie hat natürlich
das Appellationskomitee falsch gehandelt. Der Schiedsrichter muss im Prinzip
darauf achten, dass die Regeln während des Matchs nicht geändert werden. Dafür
ist er Referee um zu sagen, „hier, das steht auf dem Papier und man kann die
Regularien nur ändern, wenn der FIDE-Kongress einen entsprechenden Entschluss
fasst.“ Aber niemals im Verlauf eines WM-Matchs. Selbst Iljumschinow könnte das
nicht. Für mich hat keiner während des Wettkampfes das Recht, irgendetwas zu
ändern. Danach, bitte schön, kann der Präsident, der Präsidialrat oder der
Kongress der FIDE eingreifen und Veränderungen vornehmen.
Iljumschinow war ja, als es eskalierte, zwei Tage in Sotschi.
Da ist großer Schaden angerichtet worden für das Schach. Aber Iljumschinow kam
noch mit einem blauen Auge davon. Aber ich hoffe, er hat aus der Sache gelernt.
Hat der Kreml Druck ausgeübt, nach dem Motto: „Das Match muss auf jeden
Fall weiter gehen!“
Ich weiß nicht. Auf jeden Fall haben sie Iljumschinow klargemacht, dass er
anwesend sein muss, wenn sich bei ihm zu Hause so ein Skandal abspielt.
Waren Kirsans Entscheidungen nicht halbherzig?
Ja. Wenn er den einen Beschluss des Appellationskomitees zurücknimmt und Kramnik
seinen Waschraum wieder benutzen kann, dann muss er auch die andere Entscheidung
aufheben, ihm eine Niederlage anzukreiden. Es war eine skandalöse Situation, ihm
den Punkt wegzunehmen. Ein Glück für das Schach ist, dass Kramnik gewonnen hat
und damit ein großer Konflikt entschärft wurde.
Die Vereinigung der Schachwelt ist jetzt vollzogen, aber die Probleme und
Auseinandersetzungen gehen, wie man sieht, weiter…
Es ist vieles unklar, das stimmt. Fest steht wohl nur, dass Kramnik nächstes
Jahr beim WM-Turnier in Mexiko nicht spielen wird. Das wäre eine Dummheit. Er
ist Weltmeister und kann auf seinen künftigen Herausforderer warten. Topalow
hingegen sollte als Verlierer des Finales von Elista die Möglichkeit erhalten,
sich im nächsten WM-Zyklus wieder zu qualifizieren.
Laut Reglement geht das eigentlich nicht. Was meinst du, wird Topalow im
Herbst 2007 die WM in Mexiko-City mitspielen?
Ich weiß nicht, wie es wird, aber er sollte einen Platz im Turnier bekommen. Es
kann doch nicht sein, dass einer der stärksten Spieler, der nur im WM-Duell
unterlag, im nächsten Zyklus keine Chance mehr erhält. Schau in die
Schachgeschichte! Früher war der Vizeweltmeister automatisch für die
Kandidatenkämpfe qualifiziert. Deshalb hat Topalow nach meiner Meinung alle
Rechte. Nach den momentanen Festlegungen der FIDE fällt er jetzt durch, was
nicht richtig ist. Leute, die beim Turnier in San Luis hinter ihm waren, können
spielen, er aber nicht. Völliger Nonsens. So ein Beschluss kann nur
Schwachköpfen einfallen, die nicht sehr viel Gehirn haben.
Was denkst du, kehrt die FIDE zum klassischen WM-System zurück?
Sie sollte es dringend tun! Der Weltmeister im Schach muss in einem Wettbewerb
bestimmt werden, an dem nicht mehr als zwei Spieler teilnehmen. Also in einem
Zweikampf. Ein Turnier ist etwas ganz anderes. Dort spielen Leute, die sich
qualifizieren möchten. Und wenn wir einen Weltmeister wollen, der von allen
anerkannt wird, dann muss man auf jeden Fall in der letzten Etappe ein Match
organisieren.
Die FIDE hat in den vergangenen Jahren viel Unsinn gemacht. Sie braucht-
wie wir sehen - dringend neue Leute!
Keine Frage, aber das ist nicht mein Problem.
Dennoch gefragt: Was rätst du ihnen als einer der selbst die Schachkrone
trug und schon so lang im Geschäft ist?
Die Föderation braucht saubere und ehrliche Persönlichkeiten. Gibt es sie nicht,
dann ist, wie wir sehen konnten, alles möglich. Einer wie Asmaiparaschwili
durfte niemals Vizepräsident werden. Als Spieler ist er ein bekannter Betrüger.
Deshalb hatte er noch viel weniger in der Jury von Elista etwas zu suchen. Ein
Mann, der das Schach schon oft in Misskredit gebracht hat, gehört nicht in die
Chefetage des Weltverbandes. Er hat keinerlei persönliche Eignung dafür. Aber es
herrscht dort Vetternwirtschaft. Asmai ist u.a. mit Makropoulos befreundet.
Wann stellst du dich denn zur Wahl als FIDE-Präsident? Hat es dich sehr
getroffen, dass vor der Olympiade in Turin Kirsan Iljumschinow und nicht du von
der Russischen Schachföderation als Kandidat für die Wahl nominiert wurde?
Das ist so nicht richtig. Ich möchte mal die Gelegenheit nutzen, um etwas
klarzustellen. So wie das im Frühjahr in der Presse wiedergegeben wurde, stimmt
es nicht. Fakt ist, dass unser Verband in Moskau gar keinen Beschluss über eine
Nominierung gefasst hat, erst im allerletzten Moment. Und weil es so lange
gedauert hat, zog ich vorher meine Kandidatur zurück. Daraufhin hat der Verband
natürlich lljumschinow ins Rennen geschickt.
Welche Beziehung hast du zu Vizepremier Alexander Shukow, der auch
russischer Schachpräsident ist?
Wir haben ein gutes Verhältnis.
Noch einmal zurück nach Mexiko-City. Welche Wirkung hat so ein Ereignis
wie das Schachfestival am Sonntag?
Die Veranstaltung hat das Interesse für unser Spiel sicher vergrößert. Schach
ist in dieser Region auf dem Vormarsch, das ist klar. Sie haben viele Talente in
Mittelamerika, vielleicht werden schon bald noch mehr Großmeister aus ihnen
hervorgehen. Schon früher haben sie in Mexiko Simultan-Rekorde aufgestellt und
damit das Schach populärer gemacht. Egal, ob die Bestmarke erreicht wurde oder
nicht, es ist eine echte Werbung für unser Spiel und die beste Propaganda für
die Zukunft. Mexiko zeigt mit seinem Schulschachprogramm, dass sie sehr große
Möglichkeiten haben, hier weiter voranzukommen. Künftige Erfolge werden nicht
ausbleiben.
Du hast auf dem Zócalo stundenlang Bücher signiert wie ein Weltmeister.
Welche Rolle spielt heute noch Schachliteratur in einer Welt, die immer mehr vom
Computer beherrscht wird?
Eine große. Ich bin ein Verfechter des Lesens. In Büchern kann man viel
Interessantes finden. Schachspieler, die nur am Computer sitzen und Daten
herunterladen, sind arm dran. Es ist schädlich, wenn es zu einseitig wird.
Natürlich ist der Computer gut, um Informationen zu liefern. Das betrifft nicht
nur Eröffnungen, er analysiert auch sehr gut kritische Positionen usw. Doch wenn
man dann am Brett sitzt, ist das ein ganz anderes Bild, viel angenehmer für den
Menschen.
Also eher Skepsis gegenüber dem Computer?
Es hält sich die Waage. Die Rechner veränderten viel im Schach. Gut ist die
große und schnelle Verbreitung von Schachereignissen und Schachwissen im
Internet. Bei der Endspielanalyse hilft der Computer auch, aber es führt dazu,
dass die eigenen Analysen des Menschen schwächer werden. Alle früheren
Weltmeister waren große Endspielkünstler. Heute ist das nicht unbedingt so.