"Eine Fundgrube ganz eigener Art"
Der Berliner Verleger Arno Nickel gibt seit 35 Jahren seinen beliebten "Schachkalender" heraus - Weltklasse-Fernschachspieler äußert sich zu "Alpha Zero"
Als Fernschachspieler ist Arno Nickel eine Koryphäe: Der 65-jährige Berliner gewann mit dem Team des Bundes deutscher Fernschachspieler (BdF) zweimal Olympia-Gold, feierte 14 internationale Turniersiege und steht aktuell auf Platz zwölf der Weltrangliste. Noch mehr leistet der Diplom-Politologe und ehemalige Journalist als Schachverleger und -händler. Seit 1983 bringt seine Edition Marco anspruchsvolle Literatur heraus. Das beliebteste und meistverkaufte Werk ist dabei zweifellos der alljährliche "Schachkalender". Hartmut Metz unterhielt sich mit dem Familienvater und dreifachen Großvater über seine seit 35 Jahrgängen anhaltende Passion. Weil im Fernschach Engines eine große Rolle spielen, war dabei auch die aufregende Nachricht über das selbstlernende Google-Programm "Alpha Zero" Gesprächsthema.
35 Jahre Schachkalender
Hartmut Metz: Herr Nickel, 35 Jahre Schachkalender sind ein stolzes Jubiläum. Ein Anlass für Sie zu feiern?
Unbedingt. Wobei das Feiern aber nur in kleinem Kreise stattfindet, zusammen mit Freunden, mit der Familie und mit Weggefährten. Es ist jedes Jahr ein freudiges Ritual, wenn das Büchlein frisch vom Buchbinder endlich auf dem Tisch liegt - allgemeines Raunen: "Ah, der neue Kalender...!" - und man sagen kann "geschafft!"
Das klingt nach viel Arbeit...
In der Tat, ist es auch! Endlich mal jemand, der das zu würdigen weiß! Nein, im Ernst, es hat sich zwar im Laufe der Jahre ein Autorenteam herausgebildet, das regelmäßig schreibt und dies auch gerne tut, kreativ und nicht nur für Geld, aber allein die Recherchearbeit, die jedes Jahr von neuem fällig ist, um meine Datenbank mit den biographischen Details von rund 8.000 Personen aufzufrischen, zu ergänzen und zu korrigieren, davon macht sich keiner eine Vorstellung, der nicht schon einmal selbst etwas Ähnliches betrieben hat.
Sie sagten "korrigieren"?
Ja. Irrtümer bleiben leider nicht aus, weil das zugrunde liegende Material sich gelegentlich als fehlerhaft herausstellt. Manchmal erst nach Jahren. So ging man bis vor kurzem davon aus, dass Richard Teichmann am selben Tag wie Emanuel Lasker, nämlich am 24. Dezember 1868, geboren wurde, bis Michael Negele im "Karl"-Heft 3/2014 auf einen Kirchenbuch-Eintrag verwies, wonach Teichmann bereits einen Tag früher zur Welt kam. Okay, hier lag also ein kollektiver Irrtum vor. Anders ist es aber, wenn ein Geburtstag durch einen Zahlendreher verrutscht. Das war früher bei den gedruckten Elo-Listen, in denen noch die Geburtstage standen, häufig der Fall. So stand dort statt einer 01 (=Januar) eine 10 (=Oktober), und es konnte sein, dass der Fehler nur von dem Betreffenden selbst bemerkt wurde, da andere Schachspieler seinen Geburtstag gar nicht kannten. In einem Fall "beschwerte" sich ein Münchener Großmeister mal bei mir, dass er seine Geburtstagsgeschenke immer einen Tag zu spät erhalte ... Ein netter Hinweis mit dem Zaunpfahl. Ein witziger Leser aus Bochum ließ es sich in den 1980er Jahren nicht nehmen, bei dem Eintrag "Paul Backwinkel 1915" anzumerken: "Wir hatten ihn eigentlich viel jünger in Erinnerung, als er unseren Verein verließ." Wieder so ein Zahlendreher in der Elo-Liste: statt 1951 stand dort 1915. Also in einem Wort: Eigentlich ist es eine Lebensaufgabe, so ein "Who is Who?" des Schachs aufzubauen und zu pflegen. Man wird allerdings auch dafür belohnt, weil man auf viele vergessene Biographien und unentdeckte Geschichten stößt.
Das sind ja lustige Begebenheiten mit den Geburtstagen. Im Vorjahr haben Sie zwei unterschiedliche Ausgaben des Schachkalenders angeboten, in diesem Jahr jedoch nicht mehr. Was hat es damit auf sich?
Das war so ein bisschen eine Springprozession mit "zwei Schritte vor, einen Schritt zurück"; das heißt, wir haben mal etwas ausprobiert ... Der Kalender enthält so viel Lesestoff, besonders in den letzten Jahren, dass es manchmal schon einige Mühe kostet, längere Beiträge in einem kleinen Schriftgrad zu lesen. Es lag daher eigentlich auf der Hand und wurde von vielen Lesern begrüßt, den reichhaltigen Stoff in einem ansprechenden Lesebuchformat herauszubringen, zumal Taschenkalender in der heutigen Medienlandschaft nicht mehr in dem Maße gefragt sind wie früher. Leider! Das Experiment hat sich aber wirtschaftlich nicht bewährt, weil es zu wenige Neukunden gab. Von den Altkunden sind manche auf das größere Format umgestiegen, die meisten sind aber schon aus Tradition beim alten Format geblieben. Es scheint mir daher sinnvoller, längere Beiträge einfach nicht mehr im Kalender zu bringen und sie aber in loser Folge in Sammelbänden zu veröffentlichen.
Sie haben nun allerdings auch das Taschenbuchformat geändert. Die Wochenübersicht steht jetzt auf einer Seite statt bisher auf zwei Seiten.
Ja, das hat verschiedene Gründe. Der Hauptgrund ist, mehr Platz für die recht beliebten wöchentlichen Glossen und Schachaufgaben zu gewinnen. Um gleich Nägel mit Köpfen zu machen, wurde auch das Buchformat insgesamt in der Höhe um einen Zentimeter erweitert. Dadurch haben wir zusätzlichen Platz gewonnen und uns mehr dem modernen, eher schlanken Taschenbuchformat angenähert. Gleichzeitig ist das Kalendarium übersichtlicher geworden, weil in der Wochenübersicht mehr freier Raum für eigene Einträge ist und die biographischen Einträge, Geburtstage usw. in einer frei skalierbaren Liste zusammengefasst sind. Ich bin sehr froh, dass diese Neuerung bei den Lesern gut ankommt.
Welche Verbesserungen des Schachkalenders waren für Sie im Laufe der Jahre am gravierendsten und was zeichnet ihn immer noch aus?
(Überlegt) Der erste bedeutende Schritt war technischer Natur. Weg vom kostspieligen Fotosatz oder auch vom selbstgezimmerten Typenrad-Satz hin zum Desktop Publishing. Dieser Schritt wurde 1990, also im siebten Jahr, eingeleitet, war damals aber noch sehr aufwendig und fehleranfällig, ganz abgesehen von den beschränkten graphischen Möglichkeiten. Das ist etwas, was der Leser von außen auch nur sehr bedingt mitbekommt, dass nämlich auch ein Verlag ständig mit technischen Innovationen zurechtkommen und unter Umständen dafür auch Lehrgeld zahlen muss. Kleinverlage haben dabei natürlich viel begrenztere Ressourcen, sind andererseits aber auch flexibler und experimentierfreudiger. Man sieht diesen technischen Aspekt im Hintergrund der Kalender-Entwicklung anhand vieler kleiner graphischer Veränderungen im Laufe der Jahre. Nach guten Erfahrungen mit unserer Druckerei in der Slowakei sind wir 2010 endgültig zum Hardcover übergegangen und 2013 zum kompletten Farbdruck. Das sind zwar sogenannte Äußerlichkeiten, doch werden sie von den Lesern geschätzt.
Bei der Seniorenblitzmeisterschaft (Foto: Frank Hoppe)
Das jetzige Flexi-Cover verbindet die Eigenschaften eines festen Einbands mit den Eigenschaften eines Softcovers; es ist so eine Art Mittelding, das man gern in die Hand nimmt, leicht in die Tasche stecken kann - ohne dass es schwer wiegt wie 'ne 45er (grinst) - und das dennoch strapazierbar ist und nicht leicht einknickt wie ein normales kartoniertes Buch. Dieser Einband ist eine Neuerung, die in den nächsten Jahren genauso bleiben soll. Inhaltlich hat der Kalender sich über die Jahre durch ein gleichbleibendes Konzept, einer Mischung aus weitgefächerter Information und Unterhaltung gut bewährt und durch seine ständigen Autoren wie Robert Hübner, Dirk Poldauf, Wladimir Barski, Stefan Löffler und Michael Dombrowsky, um nur einige Namhafte zu nennen, sogar an Qualität noch weiter zugelegt.
Ist die Leserschaft mitgegangen all die Jahrzehnte, sprich: Sie haben ein treues Stammpublikum? Ich habe diese zum Beispiel seit 1989 komplett. Oder hat die Auflage doch spürbar nachgelassen?
Es gibt das treue Stammpublikum, übrigens nicht nur in Deutschland, sondern überall dort, wo Leute leben, die des Deutschen mächtig sind. Aber in der Tat ist es so, dass zwei Entwicklungen die Sache zunehmend schwieriger machen, und beide Entwicklungen hängen zusammen. Das Internet macht dem Schachbuch ganz allgemein Konkurrenz; das zeigt sich weniger in der Zahl der Publikationen als vielmehr in sinkenden Auflagen. Die 1970er und 1980er Jahre kann man, was deutschsprachige Schachliteratur betrifft, in der Rückschau als die "goldenen Jahre" bezeichnen, jedenfalls was die Auflagen betrifft, wenn auch nicht unbedingt hinsichtlich der Qualität.
"Das jüngere Publikum kann mit Begriffen wie Kultur und Geschichte nichts mehr anfangen."
Ein deutliches Zeichen für die heutigen Probleme ist das Verschwinden des Schachbuchs (außer Einsteiger- und Ratgeberbüchern) aus den Buchhandlungen, wobei der Niedergang kleiner Sortimentsbuchhandlungen dies noch verstärkt, insofern früher dort ein schachbegeisterter Buchhändler gern bereit war, auch schwer verkäufliche Bücher für seine Kunden bereitzustellen. Der Schachbuchhandel findet heute zu 80 bis 90 Prozent übers Internet statt, wobei die durchschnittliche Qualität der Bücher inhaltlich und ausstattungsmäßig durchaus zugenommen hat. Das ist ein positiver Nebeneffekt des technischen und wirtschaftlichen Strukturwandels.
Die zweite Entwicklungstendenz ist, dass das jüngere Publikum durchschnittlich weniger liest, wie mir scheint - und mit Begriffen wie Kultur und Geschichte nichts anzufangen weiß. Etwas boshaft formuliert: Die Leute denken immer weniger darüber nach, warum sie überhaupt Schach spielen und was es ihnen bringt, als vielmehr darüber, wie sie ihr Rating steigern können. Mag sein, dass ich etwas übertreibe, aber ich habe täglich mit Kunden zu tun und sehe, dass ein riesiger Berg an Trainings- und Eröffnungsliteratur stetes Interesse findet, während Biographien, Turnierbücher, Belletristik und dergleichen links liegen gelassen werden.
Das ist in der Tat sehr schade! Ich muss sagen, dass ich eigentlich heute nur die Biographien, wunderbare Belletristik und Schach-Erzählungen in Erinnerung habe. Kommen wir aber zum Inhalt des aktuellen Schachkalenders fürs kommende Jahr: Welches sind Ihre Lieblingsbeiträge?
Jetzt bringen Sie mich in Verlegenheit. Als Herausgeber "liebe" ich sie natürlich alle. Was mir aber besonders gefällt, ist die bunte Mischung an Themen und Stilarten. Da ist wirklich alles vertreten: die große Schachwelt hautnah als Reportage - New York, Wijk aan Zee, Dortmund, Baden-Baden -, historische Reminiszenzen an Ereignisse mit rundem Jubiläum, zum Beispiel Bamberg 1968, köstliche Satiren zu Fischer und - fast schon als unendliche Geschichte - zu Tarrasch, Essays - sehr innovativ zu Schach und Yoga, Porträts so unterschiedlicher Art wie zu dem Outlaw John Healy und dem Schachriesen Boris Gelfand, persönliche Erinnerungen eines Großmeisters als Zeitreise in das Jahr 1968, und vieles andere mehr, kleine Geschichten, Randbemerkungen, Randbeobachtungen, und nicht zuletzt die romantisch-skurrilen Erzählungen meines ältesten Bruders, der mir einst das Schach beigebracht hat. Es gibt immer wieder auch Funde, die sonst nirgendwo Erwähnung finden würden, wie diesmal eine kleine Episode von Wolf Biermann, der mit seinen Söhnen im Urlaub an der Ostsee Schach gespielt hat, und zwar mit selbst geschnitzten Figuren. Das alles macht den Schachkalender immer wieder zu einer Fundgrube ganz eigener Art. Und diese Fundgrube hat, wie mir Leser immer wieder bestätigen, durch alle Beteiligten einen ganz persönlichen Charme. Wenn das nicht so wäre, hätte ich schon längst damit aufgehört, denn wenn man nur Geld verdienen wollte, gäbe es einfachere und lohnendere Möglichkeiten.
Robert Hübner wird mit seinem 70. Geburtstag im November 2018 gewürdigt. Ein Beitrag von ihm fehlt aber leider diesmal.
In Kürze: Turnierbüchlein zu Büsum 1968
Dafür werden alle Hübner-Fans bald fürstlich entschädigt, denn wie bereits im Schachkalender 2018 angekündigt, erscheint demnächst in der Edition Marco eine Turnierbroschüre von ihm. Das heißt: Es wird ein schmuckes, gebundenes Büchlein von knapp 60 Seiten, in dem er seine Erinnerungen an das Internationale Turnier von Büsum 1968 schildert und eine ganz Reihe von Partien kommentiert. Ein besonderes Highlight ist ein Kapitel, das er Fritz Sämisch, dem damals 71-jährigen Großmeister, gewidmet hat. Im Übrigen hoffe ich doch sehr und habe eigentlich keinen Zweifel, dass Robert Hübner für 2019 wieder einen Beitrag beisteuern wird.
Sind noch weitere Projekte in der Edition Marco geplant?
Kurz vor dem Abschluss steht ein schachhistorisches Buch, das den um 1830 stärksten deutschen Schachspieler Julius Mendheim (*1780/81-1836†) und seine Zeit würdigt. Er ist ein zu Unrecht unterschätzter und fast vergessener Schachmeister, von dem nur wenig bekannt geworden ist. Ich denke, dass ist ein spannendes Projekt, weil viele neue Aspekte zum Schach in der damaligen Zeit beleuchtet werden, so vor allem der gesellschaftliche Rahmen, in dem Schach damals stattfand. Sie können sich vorstellen, welchen Aufwand es bedeutete, Quellenmaterial aus dieser Zeit aufzufinden, zu beschaffen und auszuwerten. Die Idee dazu entstand schon vor Jahren bei der Beschäftigung mit dem allerersten deutschen Schachklub von 1803. Ich stieß dabei auf zwei heute äußerst seltene Taschenbücher von Mendheim, die dankenswerterweise digitalisiert vorliegen. Und da es sich um Aufgabenbücher handelte, die aber noch keine Diagramme enthielten, war mein spontaner Gedanke: Diese Schriften muss man neu herausbringen, anständig editieren und mit Diagrammen versehen. Sie stehen daher auch im Mittelpunkt des Mendheim-Buches. Daneben wird es weitere schachhistorische Publikationen geben, die aber noch nicht spruchreif sind. Eventuell, wenn ich die Zeit finde, werde ich auch einmal ein Buch zum Thema Fernschach und Computer herausbringen. Das erfordert allerdings einiges an Vorarbeit und ist deshalb nicht vor 2019/20 zu erwarten.
Was bedeutet Alpha Zero für das Fernschach?
Das alles klingt sehr spannend und schachhistorisch verdienstvoll. Kommen wir auf Fernschach zu sprechen. Da sind Sie schon lange Großmeister. Ist Fernschach nun endgültig tot, nachdem "Alpha Zero" von Google sich in vier Stunden das Spiel selbst beibrachte und hernach "Stockfish" in 100 Partien mit 28 Siegen und 72 Remis zertrümmerte?
Ganz im Gegenteil. Man muss die Dinge nur richtig einordnen und sollte sich von den reißerischen PR-Meldungen nicht allzu sehr beeindrucken lassen. Aus Fernschachsicht bedeutet der Erfolg von "Alpha Zero" vor allem, dass es noch viel Spielraum für Verbesserungen und für Entdeckungen jenseits der alltäglichen Computeranalysen gibt, die meist in relativ geringen Suchtiefen von 20 bis 35 Halbzügen abgeschlossen werden und damit oft nicht ausreichend fundiert sind. Fernschachspieler haben ja schon seit langem darauf hingewiesen, dass solche Suchtiefen in vielen Stellungen nicht ausreichen, um eine verlässliche Bewertung und stabile beziehungsweise optimale Varianten zu bekommen. In vielen komplexen Stellungen, vor allem solchen mit Ungleichgewichten, gibt es eine Grauzone von scheinbar annähernd gleichwertigen Zugkandidaten, die aber in Wirklichkeit von ganz unterschiedlicher Qualität sein können, wenn man etwas tiefer bohrt.
Na ja, trotz der Forschungsarbeit spielen aber bloß noch zwei Rechner gegeneinander statt zwei Sportler.
Im Fernschach bedarf es schon einer intelligenten Steuerung der Computer-Analysen, um Vorteile zu erarbeiten und sie konsequent zu verwerten oder auch, um die einzig richtige Verteidigung zu finden; und das schließt in vielen kritischen Stellungen auch das Abweichen bzw. Verwerfen von sogenannten "Besten Züge" der Engines mit ein. Während im Fernschach der Mensch seine Lernfähigkeit nutzt, um Engines optimal zu nutzen und zu korrigieren, hat im Falle von "Alpha Zero" gegen "Stockfish" nun die Künstliche Intelligenz ebenfalls durch "Lernen" zugeschlagen, indem ein variabler lernfähiger Algorithmus verwendet wurde. Es zeigte sich, dass viele der Stellungen, die "Stockfish" bei Suchtiefen von durchschnittlich 30 bis 35 Halbzügen, wie ich vermute - die Angaben dazu sind nicht bekannt, aber man kann die veröffentlichten zehn Partien von "Stockfishs" Seite aus in etwa simulieren -, für spielbar oder sogar leicht vorteilhaft gehalten hat, wie ein Kartenhaus zusammengefallen sind. Das ist keine schlechte Nachricht fürs Fernschach, weil es erst einmal bedeutet, dass der Remistod noch nicht unmittelbar vor der Tür steht.
Wie beurteilen Sie denn das Projekt Alpha Zero insgesamt?
Ich bin natürlich wie alle sehr gespannt, wie es damit weitergeht, hoffe allerdings auch, dass Google das Projekt nicht nur PR-mäßig ausschlachten will und dann beiseite legt wie seinerzeit IBM mit "Deep Blue", sondern an einer ernsthaften Weiterentwicklung und wissenschaftlichen Dokumentation interessiert ist. Dann müsste "Alpha Zero" mit seinen gigantischen Hardware-Ressourcen aber auch bereit sein, zu Bedingungen gegen Engines anzutreten, unter denen diese ihre volle Leistungskraft entfalten können. Genau das war leider bei diesem ersten Experiment nicht der Fall. Viele der Fehler seitens "Stockfish", die es "Alpha Zero" erlaubten, brillant aufzutrumpfen, waren schlicht durch unzureichende Suchtiefen bedingt, das heißt, das Programm würde vielfach besser spielen, wenn es einige Halbzüge tiefer rechnen dürfte und einen größeren Arbeitsspeicher hätte - ein Gigabyte Hashtables waren suboptimal, ebenso wie die starre Rechenzeit von einer Minute pro Zug. Auf solche Bedingungen sind die Engines nicht ausgelegt, abgesehen davon, dass sie normalerweise den Einsatz eines qualifizierten Eröffnungsbuches voraussetzen, um ihre Parameter optimal nutzen zu können. Nun, wir werden sehen ...
Der Google-Gründer und Aufsichtsratschef von Alphabet, Larry Page, könnte aber als alter Schachspieler nun jederzeit Fernschach-Weltmeister werden, wenn er denn jetzt wollte – die Rechenpower hat er im Gegensatz zum Durchschnitts-PC-Besitzer …
So klar scheint mir die Sache nicht zu sein, wenn auf seiner Seite direkter menschlicher Einfluss ausgeschlossen wäre. Wer sagt denn, dass "Alpha Zero" wirklich immer in der Lage wäre, gegen die Kombination Mensch/Maschine, wie sie für das Fernschach typisch ist, die besten Eröffnungszüge zu finden? "Alpha Zero" arbeitet mit statistischen Werten von simulierten Schachpartien. Da können sich immer mal Fehlbewertungen einschleichen, zumal das Programm ja noch "lernt", also auch Fehler macht, aus denen es lernen soll. Lernt es denn immer wirklich das Richtige?
Perfekt ist es noch nicht – aber, sorry, bei mehr als 1000 Elo Unterschied zu normalsterblichen Großmeistern ist das doch eher eine äußerst akademische Diskussion.
Immerhin hat "Alpha Zero", wie ich las, ja auch einige Trainingspartien gegen den arg gehandicapten "Stockfish" verloren, nämlich 24 von 1200 (aus 12 mal 100 Partien zu jeweils vorgegebenen Eröffnungsstellungen). Da war die Überlegenheit des neuronalen Netzes mit 61 Prozent nicht ganz so gewaltig wie in dem 100-Partien-Match aus der Grundstellung heraus (ohne Buch), bei der "Alpha Zero" 64 Prozent holte. Leider werden wir wohl nie erfahren, ob "Alpha Zero" Fernschachweltmeister werden kann, da es ein solches Turnier oder Match vermutlich nie geben wird. Ich würde der Kombination Mensch/Maschine aber weiterhin gute Chancen einräumen und zumindest ein Unentschieden für den wahrscheinlichsten Ausgang halten. Man sollte bei aller Faszination, die von der Künstlichen Intelligenz ausgeht, nicht vergessen, dass die Remisquote in den Trainingsmatchs über 1200 Partien bei 73,8 Prozent lag. Also zaubern kann Alpha Zero auch nicht. Und die Engine-Programmierer können ihrerseits von der Künstlichen Intelligenz lernen. Das ist keine Einbahnstraße.
"Schachkalender 2018", Edition Marco, 256 Seiten, 15 Euro.
http://www.edition-marco-shop.de/