"Schachspielen ist wie ein Stierkampf"
Die zwei wichtigsten Schachspieler der Welt erzählen, wie sie trainieren und leben, was sie für Albträume haben und wie ihrer Meinung nach die Fußballweltmeisterschaft ausgehen wird.
Magnus Carlsen aus Norwegen, mit 23 Jahren einer der jüngsten Schachweltmeister, und der 32-jährige Weltpokalsieger Levon Aronian, zweiter der Weltrangliste, trafen sich letztes Wochenende in Jerewan auf einer Veranstaltung von Sergey Belousov und Ruben Vardanian (Acronis Armenia) - wobei nicht ganz klar wurde zu welchem Zweck. Sie spielten mit Kindern im Jerewaner Schachclub Schach, eine Partie mit örtlichen Beamten (Magnus erregte dabei zwei Mal Aufsehen - einmal, weil er einer Schülerin Remis anbot und einmal, weil er wegen eines unmöglichen Zuges im Blitzschach gegen einen Abgeordneten verlor), trafen sich mit dem Patriarchen der armenischen Kirche, unternahmen Exkursionen und verbrachten einfach auf angenehme Weise ihre Zeit.
Die russische Internetzeitung SLON hat mit den beiden Weltklassespielern gesprochen und erfahren, was in ihren Köpfen vor sich geht, wenn sie Schach spielen, wie sie ihr Gehirn trainieren, was sie von Politik halten und wer ihrer Meinung nach bei der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien den Sieg davontragen wird.
Empfang bei Staatspräsident Sargjan
Sind Sie in eine normale Schule gegangen und haben Sie es geschafft sie zu beenden?
Magnus Carlsen: Ja, ich habe die Schule abgeschlossen und erst danach angefangen professionell Schach zu spielen. Aber dafür brauchte ich einen Lehrer, der mit mir zu allen Wettkämpfen fuhr.
Levon Aronian: Extern, weil es schwierig, war Karriere und Schule miteinander in Einklang zu bringen. Dabei muss man berücksichtigen, dass ich in den 80-er Jahren aufgewachsen bin, zu einer Zeit, als viele Schulen geschlossen wurden. Da es schwierig war von einer russischen – ich bin russischsprachig – zu einer armenischen Schule zu wechseln, beschlossen meine Eltern, dass ich zu Hause lernen sollte. Mein Trainer war ein aserbaidschanischer Flüchtling. Er zog bei uns ein, da er keine Unterkunft hatte, so dass wir jeden Tag arbeiten konnten, wobei ich mich mehr mit Schach als mit den Schulfächern beschäftigt habe.
Gab es ein Lieblingsfach?
MC: Kein spezielles.
LA: Literatur. Seit meiner Kindheit zog es mich immer zu den Geisteswissenschaften. Ich lese ständig verschiedene Sachen, ich liebe die sowjetische Literatur, die englische und amerikanische lerne ich eher durch meine Freundin kennen, deren Muttersprache Englisch ist.
Wie viele Stunden am Tag trainieren Sie?
MC: Das ist verschieden. Aber im Schnitt sind es wahrscheinlich so etwa 1½ bis 2 Stunden. Ansonsten mache ich das, wozu ich Lust habe, und das können ganz verschiedene Dinge sein. Ich höre Musik und treibe Sport. Ich versuche so oft wie möglich mit meinen Freunden zusammen zu sein.
LA: Das hängt davon ab, was geplant ist. Es gibt wichtige Begegnungen, die man nicht absagen kann. Im Idealfall versuche ich jeden Tag 5 Stunden Schach zu spielen und zwei Stunden Sport zu machen.
Haben Sie "Lushins Verteidigung" von Nabokov gelesen? Wie weit ähnelt das Leben des Romanhelden dem echten Leben eines bedeutenden Schachspielers?
Besuch eines Klosters
MC: Ich habe das Buch nicht gelesen, aber viel von dem Roman und seiner Verfilmung gehört. Das Buch selbst zu lesen hat sich bisher noch nicht ergeben. Mir scheint, dass die meisten professionellen und besonders die Weltklassespieler eher bodenständige Menschen sind, viel normaler als Lushin.
LA: Natürlich habe ich es gelesen. Es gibt eine gewisse Ähnlichkeit, aber die meisten Schachspieler scheuen nicht die Öffentlichkeit und möchten doch ein normales ein bürgerliches Leben. Ich liebe es, meine Freizeit mit meiner Familie zu verbringen. Bei mir spielt das traditionell Armenische eine große Rolle. Ich gehe gerne abends mit meinen Freunden zum Sport oder verbringe die Zeit mit meinen Eltern.
Ist Schachspiel ein Sport?
MC: Ich gehe in vielerlei Hinsicht an das Schachspiel wie an einen Sport heran. Ich bereite mich wie beim Sport auf ein Turnier vor und gehe beim Spiel vor wie beim Sport.
LA: Ja, natürlich ist das Schachspiel ein Sport. Es ist wie ein Stierkampf, wo du kämpfst und kämpfst und sehr schöne Ausweichbewegungen machst, aber am Ende durchbohrt dich der Stier, da hat alles, was du vorher gemacht hast, keine große Bedeutung mehr. Beim Schach ist es das gleiche: Wenn eine schöne Partie mit einer Niederlage endet, macht sie wenig Sinn.
Wie halten Sie sich in sportlichem Sinne fit?
MC Ich bereite mich mit meinem Trainer und den Assistenten auf die Eröffnung vor, um in Form zu kommen und physisch auf lange Partien vorbereitet zu sein. Ich trainiere am Rechner Taktik, schaue Eröffnungen an und informiere mich über die neuesten Turniere.
LA : Schach ist kein sehr sportlicher Sport. Auch Schachspieler über 70 wie Vassily Smyslov und Viktor Kortschnoi erreichen glänzende Resultate. Meine Eltern sind Wissenschaftler, d.h., zum Sport haben sie keine richtige Beziehung. Ich selbst bin durch meine Freunde dazu gekommen und durch die Kollegen in der Nationalmannschaft, so dass ich erst mit 20 Jahren angefangen habe Sport zu treiben.
Halten Sie eine spezielle Diät zur Stärkung des Gedächtnisses oder um das Rechnen beim Schach zu fördern?
MC: Nichts dergleichen. Außer, dass ich nicht so viel Süßes esse.
LA: Nicht wirklich, aber ich weiß, dass Essen das Gehirn daran hindern kann zu arbeiten. Ich spiele z.B. sehr schlecht, wenn ich gut und viel gegessen habe, etwas Schweres, eine warme Mahlzeit. Deshalb esse ich in der Regel mindestens drei Stunden vor einer Partie.
Gibt es bestimmte Techniken, um das Gedächtnis zu trainieren?
MC: Ich habe dafür bisher noch keine Notwendigkeit gesehen, obwohl: vielleicht ist das gar keine schlechte Idee.
LA: Das ist nicht einfach zu beantworten. Mir hilft es, vor einem Spiel 20 Minuten bei Musik zu schlafen.
Magnus Carlsen und Levon Aronian
Können Sie kochen? Wenn ja, was?
MC: Nichts Besonderes. Nur so ganz einfache Sachen. Ich kann ein Omelett machen.
LA: Ich koche sehr gerne. Wir sind oft in Asien, also vieles aus der asiatischen Küche. Ich würde sagen, dass ich kochen kann, aber meine Familie und meine Freundin würden das bestreiten, so dass ich nur sagen kann, dass ich mir Mühe gebe. Ich esse kein Fleisch, aber Fisch. 2001 war ich in Indien. Das vegetarische Essen hat mir sehr gut gefallen. Es gibt viele Tiere in Indien. Es scheint mir nicht logisch zu sein, dass Tiere größeren Nutzen bringen sollen, wenn sie tot sind, als wenn sie leben. Was für einen Nutzen bringt z. B. ein Schwein, wenn man einmal darüber nachdenkt? Eine Kuh oder ein Schaf kann den Menschen auf andere Weise dienen. Die Idee, dass es Tiere gibt, die wir nur brauchen, wenn sie tot sind, gefällt mir nicht besonders.
Halten Sie eine Diät ein?
MC: Nicht wirklich.
LA: Hier ist es wichtig zu wissen, wo man sich verausgabt und die psychologische Belastungsgrenze erreicht, wenn man um 8 Uhr aufsteht, frühstückt, arbeitet, dann zu Mittag isst und sofort eine Partie spielt. Am dritten Tag spürst man, dass sowohl das Spiel als auch die Stimmung schrecklich ist. Dann muss man an diesem Tag eine mutige Entscheidung treffen, ein Glas Wein zu trinken, ein bisschen spazieren zu gehen, einen Film anzuschauen und erst um 2 Uhr nachts schlafen zu gehen.
Was gibt es noch außer Schach?
MC: Musik, Sport… ich habe keinerlei Vorlieben in der Musik, was ich höre hängt von meiner Laune ab.
LA: Ich liebe Musik sehr, in letzter Zeit höre ich viel Symphonisches, Mahler, er wirkt auf mich sehr anregend.
Was für Sportarten mögen Sie?
MC: Fußball, Basketball, manchmal Tennis, aber das muss nicht jeden Tag sein.
LA: Ich laufe sehr gerne, liebe Box- und Basketballtraining. Ich bin einmal 32 km gelaufen und war stolz auf das Ergebnis: ich habe es in 3 Stunden 15 Minuten geschafft. Ich gucke gern Fußball, aber mein Lieblingsport ist Basketball, das verfolge ich am meisten und finde es sehr aufregend.
Für welche Mannschaft sind Sie bei der Fußballweltmeisterschaft?
MC: Ich bin für die Elfenbeinküste. Aber ich glaube, Argentinien gewinnt.
LA: Seit meiner Kindheit bin ich Fan der englischen Mannschaft, deshalb macht es für mich schon keinen Sinn mehr die weiteren Spiele der Weltmeisterschaft anzusehen. Ich hab so ein Gefühl, dass Holland gewinnen wird. Sie spielen immer gut, haben aber kein Glück, doch dieses Mal scheinen sie erfolgreich zu sein.
Haben Sie Freunde, die sich nicht für Schach interessieren? Worüber reden Sie mit ihnen?
MC: Ja, es gibt ein paar Freunde, hauptsächlich aus der Schule, und ein paar andere, aber ich habe keine Probleme damit. Mein bester Freund versteht überhaupt nichts vom Schachspiel, aber er ist ein großer Fußball- und Basketballfan, so dass wir uns darüber unterhalten können.
LA: Es gibt Familienmitglieder, mein Vater ist Physiker und liebt weder Schach noch andere Zweikampfsportarten. Es gibt auch Freunde, Musiker, Künstler, die sehr selten fragen, wie ich gespielt habe. Das stört mich überhaupt nicht. Im Gegenteil, es ist angenehm mit Leuten zu sprechen, deren innere Welt sich sehr von deiner eigenen unterscheidet, da sie keine Zweikämpfe eingehen.
Wie viele Sprachen sprechen Sie?
MC: Norwegisch, Englisch, Dänisch, Schwedisch und ein bisschen Deutsch.
LA: Ich spreche fließend Russisch, Armenisch, Englisch und Deutsch.
Wie viele Züge im Voraus berechnen Sie ein Spiel?
MC: Wenn es notwendig ist, kann ich mindestens 15 – 20 Züge im Voraus durchdenken. Aber das ist normalerweise nicht nötig, weil es so viele Varianten bei der Entwicklung der Ereignisse gibt. Da macht es keinen Sinn ein Szenario so weit zu durchdenken - es gibt zu viele Möglichkeiten.
LA: Oft verrechnet man sich: Es scheint dass du alles bis zum Ende berechnet hast, aber in Wirklichkeit machst du beim zweiten Zug einen Fehler. Es gibt bei uns den Begriff "Variantenbaum". Wenn der keine Zweige hat, sondern nur einen Stamm, dann ist das sehr einfach. Normalerweise gibt es aber ganze Dschungel. Kein einziger seriöser Schachspieler würde sagen, wie viele Züge des Spiels er berechnet.
Denken Sie an andere Dinge während des Spiels? Und wenn ja, an welche?
LA: Wenn ich spiele, erklingt in meinem Kopf oft Musik. Ich liebe es sehr mir Variationen auszudenken, z.B., die Brandenburgischen Konzerte, wenn man sie im Kopf miteinander verbindet, kommt manchmal etwas sehr Interessantes dabei heraus.
Träumen Sie manchmal vom Schach?
MC: Manchmal, ja. Wenn es dabei um Schach geht, ist es normalerweise ein Albtraum, in dem ich verliere.
LA: Ich träume oft sehr Interessantes, manchmal Erstaunliches. Ich erzähle es häufig meinen Freunden und vergesse es dann. Nein, nicht vom Schachspiel, normalerweise sind das total unglaubliche kafkaeske und platonische Träume.
Interessieren Sie sich für Politik? Karpov und andere Schachspieler sind politisch aktiv. Könnten Sie sich vorstellen, dass Sie das auch irgendwann einmal machen könnten?
MC: Nun , ich halte mich in der Politik Norwegens und der Welt ein wenig auf dem Laufenden, aber ich habe in Bezug auf die meisten Probleme keine besondere Meinung.
LA: Wenig, aber ich lese Bücher, die bei der Verwendung unserer Ressourcen helfen könnten. Bei Machiavelli kann man z.B. sehr gut lernen, wie man Menschen führt. Jeder Schachspieler arbeitet mit 5-10 Schachspielern, und die Arbeit mit ihnen zu organisieren ist eine große Kunst. In die Politik werde ich wohl kaum gehen, höchstens um etwas Nützliches zu machen. Nur um der Politik oder der Macht willen würde ich es auf gar keinen Fall machen. Ich würde eher etwas machen, was mit Literatur oder Kino zu tun hat.
Man nennt Sie den besten beziehungsweise den zweitbesten Großmeister aller Zeiten, nicht nur der Gegenwart, sondern auch in der Geschichte des Schachspiels. Wie denken Sie darüber?
MC: Ich bin nicht sicher in Bezug auf den „besten“ aller Zeiten, das ist subjektiv, aber ich weiß genau, dass ich das höchste Rating in der Geschichte habe. Das ist ausgezeichnet.
LA: Ehrlich gesagt, würde ich gerne eine Korrektur anbringen, dem Rating nach bin ich schon seit vielen Jahren der zweite Spieler, aber ich war immer der Meinung, dass es um die 5 Spieler gibt, die auf einem Niveau spielen. Das ist ein sehr gutes Gefühl, das ist genau das, was meine Eltern und ich wollten und jene Leute, die mir geholfen haben, man kann es also eine kollektive Leistung nennen.
Wenn Sie eine Schachfigur wären, welche würden Sie gerne sein?
MC: Ich weiß nicht. Ich glaube, mein früherer Trainer Kasparov war bei der Antwort auf diese Frage wenig zimperlich ist, so dass ich diese Frage wohl lieber unbeantwortet lasse.
LA: Das ist nicht so leicht zu beantworten. Es gefällt mir, wie Tigran Petrosian auf die Frage nach seiner Lieblingsfigur geantwortet hat, dass es der Turm sei, weil man ihn oft für eine gute leichte Figur des Gegners hergeben kann. Ich fühle mich dem Springer verbunden, weil ich sehr gerne reise und sehr gerne originelle Bewegungen ausführe.
Wenn Sie eine Schachfigur wären, wer wäre dann ihr Lieblingspieler?
Der Manager von Magnus Carlsen: Ok, die Zeit für das Interview ist abgelaufen. Danke.
LA : Ich möchte liebe rnicht in fremde Hände geraten. Bis jetzt komme ich alleine klar und würde das auch gern bis zum Ende meines Lebens so machen.
Fotos: Levon Aronian auf Facebook...
Interview bei SLON (russisch)...