Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.
Nachspiel vor Sportgericht?
Schwere Vorwürfe: »Kramnik sollte gezielt
beschädigt werden«
Im kalmückischen Elista hat der Russe Wladimir Kramnik (31) jüngst den Bulgaren
Wesselin Topalow (31) besiegt und die Wiedervereinigungs-WM des Weltschachbundes
FIDE für sich entschieden. Vorausgegangen war ein Nervenkrieg, gepaart mit
bizarren Betrugsvorwürfen. Ob das Lager des neuen Weltmeisters jetzt noch an
Plänen festhält, die FIDE zu verklagen, das hat ND-Mitarbeiter RENÉ GRALLA von
Kramniks Manager CARSTEN HENSEL (48) wissen wollen.
ND: Bereits vor dem Tiebreak-Finale kündigten Sie an, dass Wladimir Kramnik
gegen die FIDE juristisch vorgehen werde. Nun aber hat Kramnik gewonnen. Ist
eine Klage damit hinfällig geworden?
HENSEL: Das werden
wir mit unseren Anwälten in Ruhe überlegen. Grundsätzlich sind wir der Meinung,
dass die Verletzung der Persönlichkeitsrechte und Privatsphäre durch die
Veröffentlichung von Videoaufnahmen aus Kramniks Ruheraum, die ihn in
Matchpausen zeigen, näher beleuchtet werden muss. Da sind Dinge vorgefallen, die
sich einfach nicht gehören.
Verlangen Sie Schadensersatz
beziehungsweise Schmerzensgeld?
Eine Schmutzkampagne ist losgetreten worden, die Wladimir Kramnik in eine
Ecke gestellt hat, als ob er betrügen würde. Sie ist ausgelöst worden durch die
Herausgabe der Videoaufzeichnungen an das Team Topalow. Da sollte man schon ganz
genau schauen, wer hier was getan hat. Das ist sehr wichtig. Den Schaden, der am
Image eines Mannes wie Kramnik entstanden ist, können wir nicht auf sich beruhen
lassen. Jetzt werden wir noch einmal eingehend den Sachstand besprechen.
Der Manager Topalows hatte die
Häufigkeit von Kramniks Toilettenbesuchen während einer Partie moniert und
unterstellt, der würde dort per Taschencomputer die Lage analysieren. Dabei ist
bekannt, dass Kramnik an einer rheumatischen Arthritis leidet und deswegen viel
trinken muss.
Kramnik kann tausend Gründe gehabt haben, das WC zu benutzen. Er durfte
rein- und rausgehen, wann immer er wollte. Dieses Recht war ihm vertraglich
zugesichert worden. Überdies zeigen die Videoaufnahmen eindeutig, dass Kramnik
in der dritten Partie, an der sich der Konflikt entzündet hatte, nicht 50 mal
auf der Toilette war, sondern 18 Mal. 18 Mal während einer fünfstündigen Partie
ist durchaus nicht ungewöhnlich.
Unverständlich bleibt, wie ein derart
privates Video den Weg in die Öffentlichkeit gefunden hat.
Das ist ein schwebendes Verfahren, da kann ich im Moment nichts sagen. Nur
so viel: Mir liegen Dokumente vor, die das Who-is-who in dieser Geschichte
belegen.
War »Toilet-Gate« der Versuch des
Topalow-Lagers, Kramnik psychologisch zu verunsichern?
Zweifellos. Man wollte Unruhe hineintragen in Kramniks Umgebung. Ich habe
deutliche Hinweise darauf, dass eine gezielte Strategie entwickelt worden ist,
um Kramnik zu schädigen.
Entsprechend eindrucksvoll ist die
sportliche Leistung Kramniks.
Kramnik ist nach Elista der Undisputed World Champion, der unbestrittene
Weltmeister. Ich kenne ihn seit 15 Jahren: Er ist eine Persönlichkeit, er hat
Würde. Und er fordert Respekt ein: Er lässt nicht zu, dass bestimmte Grenzen
überschritten werden. Die Dramaturgie in Elista hat klar gemacht, wer Kramnik
ist. Gleichzeitig dürfte der Wettkampf auf diese Weise unsterblich geworden
sein.
Mit 2,5:1,5 im Tiebreak nach 6:6 aus 12
Runden gewinnt Kramnik _ so die offizielle Zählung der FIDE, die Partie 5 dem
Konto des Bulgaren zugeschlagen hat, weil Kramnik nicht angetreten war. Welche
Schlussbilanz machen Sie auf?
Die Wertung der FIDE erkennen wir nicht an; ob wir die anfechten, werden wir
prüfen. Vor der Schachgeschichte hat Kramnik den Wettkampf mit 6:5 gewonnen.
Topalow dürfte nach dem Skandal, den
sein Gefolge initiiert hat, als Sportsmann erledigt sein.
Zumal er es nicht einmal mit dem geschenkten Punkt geschafft
hat, Kramnik zu besiegen. Topalow ist ein phantastischer Schachspieler und ein
großer Gegner. Aber Topalow muss Revue passieren lassen, was passiert ist. Wenn
er ins seriöse Geschäft zurückkommen will, sollte er sich überlegen, welchen
Manager er künftig beschäftigt.
Ist Topalow von seinen Beratern
manipuliert worden?
Selbstverständlich hat Topalow die Vorgänge zu verantworten. Er wusste auch
vieles – obwohl ich nicht glaube, dass er alles wusste.
Es gibt Gerüchte, dass Topalow einst bei
der FIDE-WM in San Luis (Argentinien) getrickst habe.
So weit möchte ich nicht gehen. Wir haben Topalow nie unterstellt, dass er
unerlaubte Hilfsmittel eingesetzt hat.
War der Veranstaltungsort Elista eine
glückliche Wahl?
Die Organisation war mit Sicherheit das Beste, was wir im Rahmen eines
WM-Kampfes je gesehen haben. Die Menschen in Kalmückien haben sich größte Mühe
gegeben, den Spielern alles erdenklich Gute zu tun. Probleme hatten wir allein
mit bestimmten Leuten innerhalb der FIDE.
Kramnik tritt vom 25. November bis 5.
Dezember in Bonn gegen das Computerprogramm »Deep Fritz« der Hamburger
Softwareschmiede ChessBase an. Ihre Prognose?
Das wird viel schwerer als das Match gegen Topalow. Die modernen Computer
sind von vornherein haushohe Favoriten. Wie Kramnik abschneidet, hängt nicht
zuletzt davon ab, ob er sich nach dem anstrengenden Wettkampf in Elista schnell
genug wieder regenerieren kann. Vielleicht markiert das Ereignis in Bonn die
letzte Chance, die ein Mensch im Schach gegen Computer hat.