Von Dagobert Kohlmeyer
Beim diesjährigen Turnier „Politiker
spielen Schach“ in Berlin feierte Eberhard Gienger Premiere. Der ehemalige
Turnweltmeister sitzt seit 2002 für die CDU im deutschen Bundestag. In den
Pausen zwischen den Partien sprach Dagobert Kohlmeyer mit dem 58-jährigen
Gienger, der die Vielseitigkeit in Person ist und die Extreme liebt.
Wann haben Sie das letzte Mal Schach
gespielt?
Vielleicht vor fünf Jahren. Wo genau, weiß
ich gar nicht mehr. Ich spielte mit meinen Söhnen. Das war relativ einfach.
Ich selbst habe das Spiel mit etwa sieben Jahren von meinem Vater gelernt.
Mussten Sie in ihrer aktiven Zeit als
Spitzenturner auf Schach verzichten?
Nein, im Gegenteil. Damals spielte ich mit meinem
Trainer Eduard Friedrich während langer Zug- oder Busfahrten zu den
Wettkämpfen unendlich viele Partien. Ich erinnere mich noch gut daran, wie
wir 1973 in China waren. Da sind wir vom Schachbrett überhaupt nicht
weggekommen. Es war so ein kleines Steckschach, das wir auf unseren Reisen
immer dabei hatten.
Nicht wenige Sportler spielen Schach. Der
Erfolgstrainer Felix Magath zum Beispiel sieht zwischen Fußball und Schach
viele Gemeinsamkeiten. Finden Sie das auch?
Ja, sicher. Man muss doch auf jedem Gebiet strategisch
denken. Ich glaube schon, dass dies auch im Sport nützlich ist und etwas
bewirkt. Schach ist ein so tolles Spiel, finde ich, weil es ohne Würfel
abgeht. Die Idee dahinter ist sensationell. Man sollte dem Erfinder heute
noch dankbar sein.
Kennen Sie die Weizenkornlegende vom Erfinder des
Schachs?
Nein, noch nicht. Die können Sie mir ja bei Gelegenheit
mal erzählen.
Bewegen Sie die Figuren auf dem Brett auch so
meisterhaft wie sie früher am Reck geturnt haben?
In letzter Zeit hatte ich wenig Übung. Ich meine, vom
optischen Eindruck der Figurenbewegung her, würde ich sagen, ja. Aber was
die Strategie, die Spielzüge und das Vorausdenken angeht, da habe ich
durchaus noch meine Defizite.
Sie haben nach Ihrer Ausbildung zum
Diplom-Sportlehrer noch Russisch studiert. Wie kam es dazu?
Nach dem Sportstudium wollte ich gern Englisch
studieren, aber da war kein Platz für mich. Die Proseminare waren alle
besetzt, es gab aber einen Intensivkurs Russisch. Ich war ja damals schon
öfter zu Wettkämpfen in der Sowjetunion, konnte mich aber mit den Leuten,
mit denen ich gern gesprochen hätte, nicht unterhalten. Ich dachte, wenn du
Russisch studierst, kannst du das tun. So habe ich angefangen, es hat mir
viel Spaß gemacht, und ich bin dabeigeblieben.
Wir könnten das Interview also jetzt in Russisch
weiterführen?
Пожалуйста, если хотите. (Bitte, wenn Sie wollen). Die
Sprache half mir auch beim Schachspielen. Die Russen sind ja die größte
Schachnation. Sie spielen überall, wo man hinguckt: auf der Straße, in Parks
usw. Und ich habe 1971 mit dem damaligen Turn-Europameister Viktor Klimenko
nach dem Training auch Schach gespielt. Viktor hat im Mehrkampf und am Boden
etliche Titel geholt.
Sie haben im Leben viel ausprobiert und sind
dabei auch Risiken eingegangen. Ich denke da vor allem ans
Fallschirmspringen, das zu Ihren großen Leidenschaften gehört.
Ja, ich tue es noch heute, und zwar verschärft. Noch
immer mit großer Begeisterung, weil ich Extremsport liebe. Auch mein Unfall
im Mai 2000 konnte mich nicht davon abhalten. Es passierte in Köngen bei
Esslingen.
Die Folgen waren ja sehr heftig. Können Sie bitte
nochmal schildern, was damals geschah?
Etwa zehn Meter vor der Landung erwischte mich eine
starke Windböe, und mein Schirm drehte sich. In Sekundenbruchteilen musste
ich eine Entscheidung treffen. Ich hatte die Wahl zwischen schlecht und sehr
schlecht. Die Landung hätte mich entweder in eine Menschenmenge geworfen
oder in ein Gebäude. Beides erschien mir nicht erstrebenswert.
Foto: Wikipedia
Was haben Sie getan?
Ich habe gesehen, unter mir ist etwas Platz und drehte
mich nochmal um 180 Grad. Inzwischen war ich aber zu tief und bin in der
Kurve aufgeschlagen, ohne dass der Schirm sich wieder richtig geöffnet hat.
Deshalb bin ich sehr hart gelandet.
Mit welchen Verletzungen?
Ich hatte einen Stauchbruch im rechten Fuß, eine
Fraktur im linken Oberschenkel, Brüche an den Füßen, am Becken und einen
offenen Bruch am Ellenbogen. Außerdem war das Fersenbein angebrochen und
zwei Rippen gebrochen. Aber Lebensgefahr bestand nicht.
Haben Sie heute noch Schmerzen?
Im rechten Fuß ein bisschen. Aber es ist auszuhalten.
Wer hat sie damals wieder zusammengeflickt?
Ich bin in einem Stuttgarter Krankenhaus von Professor
Holz operiert worden, und die Rehabilitation erfolgte bei Professor Armin
Klümper in Freiburg.
Sie hatten freundschaftliche Beziehungen zu
vielen Turnern, auch aus der DDR. Einem haben Sie sogar bei der Flucht
geholfen. Wann und wo war das?
1975 bei den Turn-Europameisterschaften in Bern. Ich
habe Wolfgang Thüne, der die DDR verlassen wollte, in mein Auto geladen, und
wir fuhren zur Grenze. Es war nur ein Zöllner dort, der geguckt hat. Wir
haben angehalten und die Pässe vorgezeigt. Wolfgang saß auf dem Rücksitz. Da
noch andere Turner im Wagen waren, fiel es nicht auf, dass wir seinen Pass
nicht vorgezeigt haben. Wir zeigten einen anderen einfach zweimal vor. Es
klappte, ich musste nicht Gas geben, um die Grenze zwischen Schweiz und BRD
schnell zu überwinden.
Und weiter?
Dann habe ich Wolfgang bei einem Freund abgegeben und
fuhr noch am gleichen Abend in die Schweiz zurück. Dort zeigte ich mich
überall, um nicht aufzufallen. Thüne arbeitet heute in den alten
Bundesländern als Turntrainer, wir haben gelegentlich noch Kontakt.
Sie riskieren also gern etwas, ob beim
Fallschirmspringen oder als Fluchthelfer. Wie weit geht Ihr Wagnis auf dem
Schachbrett?
Ich weiß nicht, es hängt davon ab, welche Gegner ich
erhalte. Hier beim Turnier werden ja sieben Runden gespielt. Es hängt immer
vom Kontrahenten ab. Aber ich habe keine Angst und rochiere zum Beispiel
erst dann, wenn es nötig ist.
Sie haben in Ihrem Leben schon alles Mögliche
gemacht. Warum sind Sie auch noch Politiker geworden?
Im Jahre 2001 wurde ich von Matthias Wissmann gefragt.
Damals war ich kein CDU-Mitglied und hatte von Politik so viel Ahnung wie
eine Geis von einer Taschenuhr. Drei Monate lang überlegte ich mir die
Sache. Ich sprach vor allem mit meiner Frau. Denn wir hatten zu Beginn
unserer Ehe vereinbart, dass wir uns öffentlich politisch nicht engagieren.
Und ich musste auch eine erhebliche Summe für den Wahlkampf organisieren.
Nicht alles konnte durch Spenden aufgebracht werden.
Hat es sich ausgezahlt?
Ja, denn ich finde Politik spannend. Mann muss sie aber
mit aller Konsequenz betreiben. Ich habe neun Monate lang alle
Wahl-Veranstaltungen mitgemacht, auch morgens um 6.30 Uhr an Bahnhöfen
Prospekte verteilt. Ich holte dann 44,6 Prozent der Stimmen und bin direkt
in den Bundestag gekommen. Es gibt dort so viele Politikfelder, dass man von
Langeweile nicht reden kann. Ich denke, dass ich hier eine interessante
Aufgabe übernommen habe.
An welchen Rädern drehen Sie, was ist Ihre
Spezialstrecke?
Ich bin ordentliches Mitglied im Ausschuss für Sport.
Jetzt habe ich weitere vier Jahre vor mir. Als einzelner Abgeordneter kann
man zwar nicht am großen Rad der Politik drehen, wohl aber in seinem
Wahlkreis durchaus behilflich sein.
Eberhard Gienger mit Ministerpräsident Oettinger Foto:
http://www.gienger-mdb.de
Sie haben ungewöhnlich viel erlebt. Wann
veröffentlichen Sie Ihre Memoiren?
Ich schrieb schon mal etwas Ähnliches in jungen Jahren.
Es waren Erlebnisberichte, also verschiedene Kapitel über meine sportliche
Laufbahn. Das habe ich während meiner aktiven Zeit getan. Jetzt könnte ich
durchaus nochmal nachlegen, denn inzwischen ist ja in meinem Leben einiges
passiert.
Haben Sie noch einen besonderen Traum?
Ja, einmal zusammen mit Claudia Schiffer an einem
Fallschirm vom Himmel zu schweben. Ich habe schon sehr viele Tandemsprünge
absolviert. So manche schöne Frau lag dabei auf mir, zum Beispiel die Miss
Germany von 1992, Ines Kuba. Und Claudia Schiffer ist für mich noch immer
der Inbegriff von Schönheit. Ich bin ihr aber noch nicht begegnet.
Ines Kuba (copyright: www.ineskuba.de )
Da müssten Sie nach London fahren, dort lebt sie.
Aber vielleicht hat Frau Schiffer Höhenangst. Ich jedenfalls habe welche.
Die kann ich Ihnen beim Fallschirmspringen nehmen. Als
Reporter fliegen Sie doch auch mit dem Flugzeug. Haben Sie Angst dabei?
Nein, überhaupt nicht.
Na bitte. Weil Sie losgelöst von der Erde sind. Es wird
einem nur mulmig, wenn man mit der Erde verbunden ist. Zum Beispiel stehe
auch ich nicht gern oben auf einem 10-Meter-Sprungturm. Aber an einem
Fallschirm hängend, empfindet man diese Angst nicht, sondern nur Freude. Ich
lade Sie zu einem gemeinsamen Sprung ein!
Das muss ich mir noch überlegen. Aber herzlichen
Dank für das Gespräch!