"Er
war stark, gütig und weise“
Igor Botwinnik über seinen Onkel, den 6. Schachweltmeister
Von Dagobert Kohlmeyer
Michail Botwinnik war einer der legendärsten Weltmeister. Als
Champion trug der Russe 15 Jahre lang (mit zwei Unterbrechungen) die Krone, als
Doktor der technischen Wissenschaften arbeitete er viele Jahre daran, einen
„künstlichen“ Schachspieler zu schaffen. Über das Können von „Fritz“ würde der
Übervater des sowjetischen Schachs heute sicher staunen. Seinen wohl
wertvollsten Beitrag leistete er als Schachpädagoge. In Botwinniks berühmter
Moskauer Schule studierten u.a. die späteren Weltmeister Karpow, Kasparow und
Kramnik.

Igor Botwinnik, ein Neffe des 6. Schachweltmeisters, verwaltet heute das Erbe seines
prominenten Onkels. Dagobert Kohlmeyer sprach in Bonn am Rande des Matchs
Kramnik – Deep Fritz mit dem 56-jährigen Moskauer über Rolle und Eigenarten des
„Patriarchen“ sowie über eine Lücke in der Schachliteratur.

Igor, klärst
du uns bitte über euer Verwandtschaftsverhältnis auf?
Mein Vater Juli Botwinnik war ein Cousin Botwinniks. Unsere
Familie lebte in Minsk. Kurioserweise hat mein Vater am 11. November Geburtstag
wie Capablanca. Er spielte viermal in der weißrussischen Schachmeisterschaft.

Ich habe noch einen Bruder. Alexej ist 50 und lebt seit acht Jahren in Köln
(siehe auf dem Foto links mit Igor Botwinnik, André Schulz und Frederic
Friedel). Ich wohne mit meiner Familie in Moskau. Dort verwalte ich das Erbe
meines Onkels.
Wie viele
Jahre hast du mit Michail Botwinnik zusammengearbeitet?
Insgesamt elf Jahre. Es waren die letzten seines Lebens. Heute
bin ich Direktor des Botwinnik-Fonds. Vor allem beschäftige ich mich damit, sein
Vermächtnis zu bewahren. Viele Dokumente, darunter wichtige Manuskripte oder
Briefe von ihm, müssen gesichtet und erhalten werden. Und wir geben neue Bücher
über sein Schaffen heraus, auch in Deutscher Sprache.
Gibst du auch
Schachunterricht?
Ja, ich betreibe eine kleine Schachschule, die den Namen Michail
Moisejewitschs trägt. Ich habe langjährige Erfahrungen damit. Meine Spezialität
ist Schachtrainer. Schon seit 1969 arbeite ich mit Kindern zusammen. Das tue ich
sehr gern. Damit begann ich bereits in Weißrussland. In Moskau bin ich jetzt
mehr als 22 Jahre. Ich assistierte meinem Onkel in seiner Schule, als dort z. B.
Wladimir Kramnik, Wladimir Akopjan, Alexej Schirow und andere Stars von heute
den Unterricht besuchten.

Wie lange
existiert der Fond schon, und wie finanziert er sich?
Der Botwinnik-Fond existiert jetzt zehn Jahre. Wir sind
gemeinnützig, ich bekomme für meine Arbeit kein Geld. Alle Einnahmen von uns
stecken wir in die Herausgabe von Büchern, die mit Botwinniks Schaffen zu tun
haben. In Russisch haben wir schon zehn Bücher veröffentlicht. Übersetzungen in
verschiedene Sprachen sind geplant oder schon erfolgt. Vor kurzem ist in Deutsch
ein Buch über das WM-Match Botwinik-Petrosjan 1963 erschienen.
Was kann man
darin an Neuem entdecken?
Nach einem Vorwort von Karpow folgen die 22 Partien des Duells.
Bisher gab es noch kein Buch mit allen kommentierten Partien des WM-Kampfes
1963. Es füllt also eine Lücke in der Schachliteratur. Die Kommentare sind mit
Anmerkungen beider Spieler versehen. Fünf Partien hat Wladimir Akopjan
glossiert. Es gibt einen Essay des Siegers Petrosjan und einen Artikel
Botwinniks „Warum ich das Match verlor“. Am Ende findet der Leser interessante
Aufzeichnungen meines Onkels aus seinem letzten schachlichen Notizbuch. Sie
geben interessante Aufschlüsse über seine Denk- und Arbeitsweise.
 |
Michail
Botwinnik, Igor Botwinnik (Herausgeber)
Botwinnik - Petrosjan
Schach-WM 1963
in Moskau
150 Seiten,
Preis: 19.90 Euro
TECHALBO
Ziegeleiweg 18
51149 Köln |
Wo findet man
den Botwinnik-Fond in Moskau?
Unsere Räume befinden sich im zentralen Schachklub auf dem
Gogol-Boulevard. Wir sitzen in der dritten Etage. Es ist das gleiche Stockwerk,
wo auch die „Schachrundschau 64“ von Alexander Roschal ihre Redaktion hat. Wir
erhielten die Zimmer kostenlos, weil wir gemeinnützig arbeiten.

Was
unterscheidet euch von anderen Moskauer Schachschulen?
Wir haben z. B. ein besonderes Projekt, für das wir auch
Spendengelder bekommen. Es ist Schachunterricht für Kinder mit Hyperaktivität.
Jedes Volk hat fünf Prozent solcher Kinder, die an diesem Syndrom leiden. Wir
helfen ihnen mit Schach, ruhiger zu werden und sich besser konzentrieren zu
können. Es ist nachgewiesen, dass unser Spiel den hyperaktiven Sprösslingen
helfen kann. Wenn wir noch mehr Geld zusammen haben, stellen wir einen
Schachlehrer speziell für diese Kinder ein.
Wie viele
Schüler betreut ihr?
Wir haben derzeit etwa 30 Schüler. Sie kommen nach der Schule zu
uns und erhaltern dann Schachlektionen. Dauer und Umfang richten sich nach dem
Alter. Die Kleinen lernen 1,5 Stunden und kommen zweimal in der Woche, die
Großen sind zwei Stunden hier, sie kommen dreimal in der Woche.
Gibt es in der
Botwinnik-Dynastie weitere Schach-Begabungen?
Ich habe einen Sohn von 14 Jahren. Er heißt übrigens wie sein
Großonkel Michail Botwinnik und spielt natürlich auch Schach. Bis zur
Leistungsklasse 1 hat er es gebracht, aber ihn interessieren noch so viele
andere Dinge. Es kamen andere Ablenkungen, und er hat erstmal mit dem aktiven
Spielen aufgehört.
Dein Onkel war
ein besonderer Mensch. Wie hast du ihn erlebt?
Viele sagen, dass er einen schwierigen Charakter hatte. Ich weiß
nicht, warum. Selbst würde ich es so formulieren: Er war prinzipienfest und
hatte einen eisernen Willen. Probleme bekam er vor allem mit Leuten, die nicht
richtig arbeiteten, ihn hinters Licht führen oder betrügen wollten. Also
Menschen, die nicht ihre Versprechen hielten und einfach ihr Wort brachen. Ich
habe in all den Jahren, wo wir zusammen arbeiteten, nie eine Auseinandersetzung
mit ihm gehabt.
Vielleicht,
weil du einen weichen Charakter hast?
Das kann sein. Trotz all seiner Eigenarten bleibt mein Onkel in
meiner Erinnerung als ein gütiger Mensch.

War er nicht
etwas intolerant?
Nun, er war eine große Figur, das steht außer Frage. Zugespitzt
könnte man sagen: Für ihn gab es immer nur zwei Meinungen, seine eigene und eine
falsche. Dank seines großen Verstandes galt er als weiser Mann. Und er nahm
deshalb für sich in Anspruch, eine sehr feste eigene Meinung zu haben.
Mit wem aus
der Schachszene hatte dein Onkel zum Beispiel Konflikte?
Mit einigen. Keine Probleme hatte Botwinnik mit Tal (die hatte
niemand), mit Smyslow hatte er nach früheren Querelen zuletzt ein gutes
Verhältnis. Mit Petrosjan gab es allerdings einen großen Zwist. Ich habe einen
handgeschriebenen Brief von Botwinnik, der von Ende 1962 datiert. Er war an den
damaligen FIDE-Präsidenten Rogard gerichtet, als die Verhandlungen vor dem
WM-Match 1963 in Moskau in einer Sackgasse steckten. Botwinnik schreibt darin,
dass Petrosjan seinen Standpunkt geändert habe. Für ihn war so etwas unmöglich.
Worum ging es
genau?
Sie konnten sich nicht über den Zeitraum ihres
Weltmeisterschafts-Duells einigen, obwohl es nur um wenige Wochen ging. Die FIDE
hat dann entschieden, und sie begannen im März zu spielen, wie es üblich war.
Etwas später vielleicht, aber nicht sehr viel.
Warum wollte
Botwinnik nicht im April anfangen?
Er hatte natürlich viele Erfahrungen mit solchen Matches. Wenn
der Zweikampf bis Juni geht, dann ist es in Moskau schon sehr warm. Aber wenn es
heiß war, konnte Botwinnik nicht spielen. Er wollte einfach gute klimatische
Bedingungen haben. Das steht übrigens auch in den FIDE-Regularien. Aber nicht
immer wurde es bei den Austragungsorten beachtet.
Wie war Botwinniks Verhältnis zu seinen beiden berühmtesten
Schülern?
Mit Garri Kasparow war er am Ende zerstritten, sie haben sich vor
seinem Tode nicht mehr versöhnt. Kasparow kam im Mai 1995 auch nicht zu
Botwinniks Urnenbeisetzung. Anatoli Karpow gehörte zu denen, die ihm die letzte
Ehre erwiesen. Im Übrigen wollte mein Onkel nicht, dass zu seiner Beerdigung
große Umstände gemacht wurden. Er wünschte kein prunkvolles Begräbnis. Es
sollten nicht viele Trauergäste kommen, nur der engste Familienkreis. Er
verzichtete auf Blumen usw.
Wie verhielt
sich die Sache mit Grigori Löwenfisch, der 1937 sowjetischer Landesmeister war?
Bis heute wird kolportiert, Botwinnik soll dafür gesorgt haben, dass er nicht am
AVRO-Turnier 1938 teilnehmen konnte. Kannst du das etwas aufklären?
Es ist eine alte Geschichte. Im Jahre 1989 hielt Botwinnik einen
Vortrag in Leningrad. Ich begleitete meinem Onkel dorthin, und wir wohnten in
einem Zimmer im Hotel „Moskwa. Nach der Veranstaltung kam ein alter
Schachfreund, ein Leningrader Meister und Trainer zu mir, und erzählte die
gleiche Story. Er bat mich darum, Michail Moisejewitsch zu fragen, wie es
wirklich war. Er selbst wollte es nicht tun, um ihn nicht zu kränken.

Du aber hast
es getan?
Ja. Ich wartete nicht lange damit und fragte ihn abends vor dem
Schlafengehen.
Die Frage gefiel ihm nicht besonders, aber er antwortete, dass es
sich anders verhalten hat. Löwenfisch beschwerte sich darüber, dass er nicht zum
AVRO-Turnier entsandt wurde, aber er (Botwinnik) hatte eine persönliche
Einladung nach Holland.
Und dein Onkel
hatte natürlich seine ganz eigene Sicht…
Für ihn war alles einfach und logisch: „Dort findet ein Turnier
statt. Acht Leute sind eingeladen; der Weltmeister und die nächsten potentiellen
Herausforderer. Aber wer ist Löwenfisch? Der UdSSR-Meister, gut. Aber hat er
sein Match gegen Botwinnik gewonnen? Nein, sie spielten remis (1937 – D.K.).
Doch Löwenfisch möchte dort starten. Aber Botwinnik hat eine persönliche
Einladung. Wer war interessanter für die Veranstalter? Der alte Löwenfisch oder
Botwinnik, der aufgehende Stern und mögliche Herausforderer Aljechins“. So
antwortete mir mein Onkel. Die Löwenfisch-Version ist eine Legende, die sich
lange gehalten hat und in Schachkreisen gern erzählt wird.
(Anmerkung des Autors: Im besagten AVRO-Turnier von 1938
spielte Botwinnik seine berühmte Partie gegen Capablanca, die zu den größten
Kunstwerken des Schachs gehört.)
M. Botwinnik –
J. R. Capablanca
AVRO-Turnier 1938

30. La3!!
Einer der schönsten Züge der
Schachgeschichte.
30...Dxa3 31.Sh5+! gxh5 32.Dg5+ Kf8 33.Dxf6+ Kg8 34.e7 Dc1+
35.Kf2 Dc2+ 36.Kg3 Dd3+ 37.Kh4 De4+ 38.Kxh5 De2+
Der Damentausch hilft Schwarz
nicht weiter: 38...Dg6+ 39.Dxg6+ hxg6+ 40.Kxg6, und der Bauer wird zur Dame oder
zu einem Turm um und setzt dabei matt. 39.Kh4 De4+
40.g4 De1+ 41.Kh5 1-0
Noch einmal zu
Botwinniks Eigenschaften. Welche waren besonders typisch für ihn?
Er war äußerst willensstark und liebte am meisten seine Arbeit.
Sie war das Wichtigste für ihn. Ich erzähle ein markantes Beispiel: Botwinnik
hatte einen Programmierer. Einmal kam dieser nicht pünktlich um 9 Uhr zur Arbeit
in der Akademie der Wissenschaften. Heute ist das normal bei dem dichten Verkehr
in Moskau (wir haben täglich unglaubliche Staus). Es stellte sich heraus, dass
sein Kind krank geworden war. Botwinnik war empört. Wenn man ein Kind zum Arzt
bringt und die Sache ist nicht lebensgefährlich, warum müssen es dann Mutter
und Vater tun? So etwas verstand er nicht. Er war anders erzogen worden.
Erst kam die Arbeit, dann alles andere.
Was für
positive Seiten hatte er?
Er war ein guter Freund. Mit dem Alter wurde er auch weicher.
Wenn er jemandem gewogen war, konnte er alles für ihn tun. Wir hatten einen
großen Altersunterschied, uns trennen fast 40 Jahre. Dennoch hatten wir ein
freundschaftliches Verhältnis. Und Botwinnik war hilfsbreit. Einmal ging es mir
sehr schlecht. Ich hatte eine Nierenkolik. und konnte vor Schmerzen nicht
sprechen. Schnell organisierte er über Karpow ein Auto, sprach mit dem
Krankenhaus und fand jemanden, der mich dorthin begleitete. Mehr noch, er kam
selbst mit! Als 82-jähriger Pensionär (der nicht zur Arbeit musste!) im Stau und
bei großer Hitze. Er gab erst Ruhe, als ich in den Händen der Ärzte war.