Träume von der
Dominikanischen Republik
Der Bulgare Topalow ist neuer
Schachweltmeister, auf der Turnierbühne dominieren Spieler aus den Ländern
östlich der einstigen Systemgrenze zwischen kapitalistischem und sozialistischem
Lager. Über Denksporttraditionen und Zukunftsschach und über den täglichen
Daseinskampf unter neo-liberalen Bedingungen hat der Autor Dr. René Gralla mit
dem serbischen Großmeister Ivan Ivanisevic(28) gesprochen. Wer persönlich einmal
testen möchte, ob er sich mit den starken Spielern vom Balkan messen kann,
findet nach dem offenen Herbstturnier am Sonntag, 6.11.2005, das nächste Mal
dazu Gelegenheit wieder beim traditionellen Frühjahrs-Schnellturnier im Mai 2006
im Schachklub des Serbischen Kultur-Centers (SKC) Hamburg.
Ivan Ivanisevic mit zwei seiner Fans: Dijana (li.) und Delilah
Dr. René Gralla:
Große Namen wie Gligoric haben das jugoslawische Schach berühmt gemacht …
Ivan Ivanisevic: … ja, eine
Zeit lang waren wir international die Nr. 2 gleich hinter der Sowjetunion.
Dr.Gralla:
Nach dem Bürgerkrieg sind aber nur noch Serbien und Montenegro als
Restjugoslawien übrig geblieben …
Ivanisevic: … wenigstens hat
dieses Schicksal nicht allein uns getroffen, sondern auch die einst übermächtige
Sowjetunion. Die UdSSR ist ebenfalls zerfallen, so dass die Russen mittlerweile,
was früher undenkbar gewesen wäre, schon mal den Leistungsvergleich gegen eine
Weltauswahl verlieren können, so geschehen vor drei Jahren. Außerdem mischen auf
der Turnierbühne nun auch neue Nationen mit, denken Sie allein an die sehr
starken Inder. Die haben ihren Top-Mann Anand; dazu frische Talente wie den
19-jährigen Pentala Harikrishna, der gerade erst das Essent-Turnier im
niederländischen Hoogeveen sogar vor der bulgarischen Weltmeisterin Antoaneta
Stefanowa gewonnen hat. Die Kräfteverhältnisse haben sich eben verschoben.
Dr.Gralla:
Der Bürgerkrieg ist deswegen nicht nur eine Katastrophe für die leidenden
Menschen gewesen, sondern auch für das Schach im einstigen Jugoslawien.
Ivanisevic: Zweifellos. Früher
waren wir ganz vorne, aber inzwischen sind viele an uns vorbeigezogen. Aber
warten Sie ab: Wir kommen wieder! Serbien stellt mehrere Nachwuchsgroßmeister,
die um die zwanzig Jahre alt sind. Heute zählt unser Land schon wieder zu den
zehn stärksten Schachnationen.
Dr.Gralla:
Was sind Ihre persönlichen Erinnerungen an den Krieg?
Ivanisevic: Ich wohnte damals
in Belgrad, und natürlich hatte jeder von uns Angst, wenn die Flugzeuge der NATO
kamen. Gleichzeitig haben wir aber versucht, so normal wie möglich weiter zu
leben: so normal, wie das eben ging unter den Umständen damals, was anderes
blieb uns ja auch gar nicht übrig. Viel schlimmer hat es meine Großeltern
getroffen; bei denen kamen sofort Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und die
Luftangriffe der Deutschen wieder hoch, als sie die Bomber hörten.
Dr.Gralla:
Früher hat der jugoslawische Staat den Schachsport gefördert. Wie sieht das
aktuell aus?
Ivanisevic: Die Unterstützung
ist stark heruntergefahren worden. Gleichzeitig ist es sehr schwer, Sponsoren zu
finden.
Dr.Gralla:
Trotzdem sind Sie Schachprofi geworden?
Ivanisevic: Ja.
Dr.Gralla:
Wovon leben Sie?
Ivanisevic: Ich fahre von
Turnier zu Turnier und versuche, ein Preisgeld zu gewinnen. Pro Jahr bin ich
rund sechs Monate lang im Ausland unterwegs. Nebenbei gebe ich Schachunterricht,
außerdem schreibe ich für Zeitungen Artikel über unseren Sport.
Dr.Gralla:
Und das reicht zum Lebensunterhalt?
Ivanisevic: Wenn Du es
regelmäßig bis in die Spitzengruppe schaffst, kannst Du recht gut klar kommen.
Falls Du bei Wettbewerben aber niemals über Rang zehn bis 15 hinauskommst, wird
es eng für Dich. Ich selber belege momentan Platz zwei in Serbien.
Dr.Gralla:
Wieviel nehmen Sie im Monatsdurchschnitt ein?
Ivanisevic: Rund 1000 Euro.
Dr.Gralla:
Die Arbeitslosigkeit in Serbien ist hoch. Kann Schachprofi daher eine berufliche
Alternative sein?
Ivanisevic: Auf jeden Fall.
Ich verdiene mehr als viele Akademiker, und ich weiß, wovon ich rede;
schließlich habe ich auch studiert, und zwar Ökonomie.
Dr.Gralla:
Finden Sie eine Erklärung dafür, dass gerade die Region Südosteuropa auffällig
viele hervorragende Schachspieler hervorbringt? Das jüngste Beispiel ist der
neue FIDE-Weltmeister Topalow aus Bulgarien.
Ivanisevic: Ich kann nur für
meine Heimat Serbien sprechen. Bei uns hat die Beschäftigung mit Schach eben
eine lange Tradition, und das fängt schon früh an, nämlich spätestens dann, wenn
die Kinder zur Schule gehen.
Dr.Gralla:
Wie alt waren Sie, als Sie Schach gelernt haben?
Ivanisevic: Fünf Jahre.
Dr.Gralla:
Wie intensiv trainieren Sie Schach?
Ivanisevic: Zwischen vier und
sechs Stunden täglich.
Dr.Gralla:
Sie sind beim Hamburger Schachfestival 2005 in der internationalen Konkurrenz
gestartet. Wie beurteilen Sie das Niveau Ihrer deutschen Gegner?
Ivanisevic: Ich bin
beeindruckt. Selbst Leute, die bloß ein Rating von ELO 2300 bis 2400 haben, die
also nominell schwächer sind als ein Großmeister, muss man ernst nehmen. Das
deutsche Schach hat im Vergleich zur Weltspitze deutlich aufgeholt.
Dr.Gralla:
Gibt es ein Traumturnier, bei dem Sie gerne mal antreten würden?
Ivanisevic: Das alljährliche
Open in der Dominikanischen Republik.
Spielzeiten im
SKC-Schachklub
Hamburg, Schützenstraße
107: mittwochs bis sonntags ab 18 Uhr; weitere Informationen bei Zlatko
Trajkovic: Telefon mobil 0160/8113652.